Die Frau im Nachtzug

Claus Thor

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Die Frau im Nachtzug
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Claus Thor

Er würde noch lange an diesen Tag denken, der unscheinbar, in einer kleinen Pension aus der Gründerzeit, begonnen hatte. In gemütlicher Atmosphäre verschlang der Autor sein Frühstück; dann bedankte er sich bei der älteren Dame, die das Haus führte, und zahlte seine Rechnung.
Um 17.00 Uhr musste er im Café im Literaturhaus eine Lesung halten, bis dahin war genügend Zeit. Jetzt wollte er erst einmal auf dem Ku`damm schlendern, Schaufenstergucken, vielleicht shoppen. Mittags dann die opulente Feinschmecker- Etage des KaDeWe erkunden.
Es war ein großartiger Tag gewesen, die Lesung ein voller Erfolg. Später ließ er sich das Guinness schmecken. Er verließ den Irisch Pup, mit der längsten Theke, wie man ihm sagte, Deutschlands, um zehn Uhr. Sein Zug würde in einer halben Stunde eintreffen, und er freute sich auf sein Zuhause.
„Endlich keine Hotels und Pensionen mehr“, sagte er leise zu sich und überquerte den Hardenbergplatz.
Es fing an zu regnen, und er zog den Kragen seines Mantels hoch. Er beeilte sich, um halbwegs trocken in die Bahnhofshalle zu kommen. Seine Reisetasche baumelte hin und her.
In der Wandelhalle herrschte reger Betrieb. Menschen wuselten in den vielen Läden oder vor den Imbissständen. Auch das Reisezentrum schien belagert. Er schaute sich suchend um und fand den Aufgang zum richtigen Gleis.
Drei halbwüchsige Prostituierte sahen interessiert herüber. Aber er hatte keinen Blick für sie.
Auf dem Bahnsteig war weniger los, als er erwartet hatte. Ein InterCity war gerade eingefahren. Passagiere stiegen aus und neue Reisende ein. Ein greller Pfiff ertönte und der Zug setzte sich in Bewegung.
Dann kam sein Zug. Er stieg ein und ging an vollen Abteilen vorbei bis ans Ende des Zuges zu einem Waggon, der leer schien. Er ließ die Abteiltür aufgleiten und fragte die Frau, die allein im Abteil war und aus dem Fenster schaute: „Entschuldigung, sitzt da jemand?“
Sie wandte sich ihm zu. Und er deutete auf den Sitz gegenüber und sagte: „Ich liebe es am Fenster zu sitzen und... „
„Sie werden nichts sehen können“, sagte sie und lächelte, „wenn wir erst einmal aus dem Bahnhof und der Stadt raus sind, außer unseren Spiegelbildern in dem schwarzen Fenster.“
Der Autor hievte die Reisetasche hoch, legte den Mantel auf das Gepäck und setzte sich ihr gegenüber. Sie sah wieder aus dem Abteilfenster hinaus. So nutzte der Mann die Gelegenheit, sein Gegenüber aufmerksam zu betrachten. Er wusste, dass dies nicht die feine Art war, aber etwas zwang ihn dazu ohne dass er sagen konnte, was es war. Er schätzte sie Ende zwanzig. Ihr Gesicht war blass und das halblange braune Haar im Stile der 70er- Jahre frisiert. „So ´ne Retro- Tussi“, dachte der Autor und lächelte über die Batikbluse, die knallenge, buntgestreifte Schlaghose und die Plateauschuhe.
„Ich hätte mehr Menschen auf dem Bahnsteig erwartet“, sagte er, um ein Gespräch in Gang zu bekommen; und fügte noch hinzu: „Für eine Großstadt wie Berlin.“
Sie wandte sich ihm zu und lächelte. Dann nahm sie die dunkle Brille von dem Klapptischen, und sagte, in einer Art, wie es nur Lehrer taten: „Dies ist kein Verkehrsknotenpunkt,
der einer Metropole würdig wäre. Von hier fahren nur Züge in westlicher Richtung. Züge nach Osten und Süden gehen vom Ostbahnhof oder vom Bahnhof Lichtenberg ab.“
Der Autor starrte sie Fassungslos an.
„Sie ist blind“, dachte er. „Warum hatte er es nicht gleich bemerkt?“
Der Zug setzte sich in Bewegung.
Regen trommelte gegen das fast schwarze Fenster, aus dem er auf die verschwindenden Lichter der Großstadt blickte. Dann
saßen sie sich schweigend gegenüber. Er begann verlegen, einen Text, der auf einem kleinen Blechschild stand und an der Heizung angebracht war, zu lesen. Es ging darin um die Bedienung der Heizungsregulierung.
Die Abteiltür glitt auf und der Schaffner fragte nach dem Ticket.
„Oh ja“, sagte der Autor. „Moment... „
Er stand auf und zog den Mantel aus der Gepäckablage. Nestelte in den Taschen und brachte die Fahrkarte hervor. Er erschrak, als er sich umgedrehte und feststellte, dass er mit dem Schaffner allein im Abteil war.
„W- wo ist d- denn die Frau hin, d- die war d- doch eben n- noch hier?“, fragte er sichtlich verwirrt.
„Was“, sagte der Schaffner. Dann schien er zu verstehen. „Ach, die blinde Lehrerin - dass ist unser Gespenst auf dieser Strecke. Sie war aus einer defekten Tür auf die Gleise gestürzt; üble Sache. Na ja, hin und wieder spukt sie durch die Abteile, aber sie tut keinem was.“
Er gab dem verblüfften Autor den Fahrschein und wünschte eine gute Reise.
„Danke“, murmelte der Autor. Er fröstelte, drehte die Heizung wärmer und setzte sich auf seinem Platz.
Eine Stunde später stand ein sehr nachdenklicher Mann auf dem Bahnsteig. Er würde nie mehr der Realist sein, den er so gerne vor seinen Freunden und Bekannten spielte. Die Begegnung mit dem Übersinnlichen berührte ihn tief, und er würde recherchieren, hart arbeiten, das Rationale in ihm neu fundamentieren, auf das er seinen Platz in der Welt wieder finde. Einen Platz, in dem er beruhigt die Augen schließen könnte, ohne dass ihm der Angstschweiß ausbrach und er sich nicht getrauen würde unter seinem Bett nachzuschauen, es könnte ja eine blind junge Frau ihn anlächeln und ihn hinüberziehen in einer andere Welt, in der er so schnell nicht kommen wollte: die Welt der Toten.
 



 
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