Die Heimreise

Mortimer

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Die Heimreise

Erste Abendkühle begleitete die heraufziehende Dunkelheit und mit der Hitze wich auch die Anspannung aus den Gesichtern der Menschen. Er saß auf seinem Balkon und trank einen Schluck Wasser. Aus den Straßencafes drangen gedämpfte Stimmen und der Wind trieb ihm den süßlichen Geruch der Brasilzigaretten in die Nase. Er starrte auf die Ameisen mit ihren menschlichen Gesichtern herab und durchsuchte sein Herz nach Reue, doch es war leer und vertrocknet. Diese Wesen umgeben von ihren Kokons aus Selbstzufriedenheit waren ihm völlig fremd geworden!

Er freute sich auf seine Heimreise. Soviel hatte er seinen Eltern zu erzählen, und sein Vater würde stolz auf ihn sein. "Wenn er mal groß ist, soll er Arzt werden. Genau wie du!", hatte sein alter Herr immer zu seinem Onkel Fahred gesagt und zu seinem 4. Geburtstag hatte ihm Onkel Fahred sein altes Stethoskop geschenkt. Erst hatte er es für ein Amulett gehalten und wollte es sich um den Hals hängen bis ihm Onkel Fahred mit ehrfurchtsvoller Stimme seine Verwendung erklärte. Schon damals wusste er, dass er mit der Annahme des Geschenkes einen Vertrag unterschrieben hatte, der ihn verpflichtete in die Fußstapfen seines Onkels zu treten.

Während des gesamten Medizinstudiums schmückte es die Tür seiner kleinen Studentenwohnung, bis sie eines Tages schwerbewaffnet eindrangen und alles verwüsteten. Flugblätter hatten sie gesucht. Dabei hatten sie die Tapeten von den Wänden gerissen und ein Soldat hatte das Bild seiner Eltern mit der Rückseite nach vorn an die Eingangstür geklebt. Mit Spucke. "Wir kriegen dich du Hurensohn!", hatten sie mit krakeliger Handschrift darauf geschrieben und als er die Reste seines Zimmer betrat fiel ihm sofort auf, dass sie das Stethoskop mitgenommen hatten.

Eine Frau mit ihrer kleinen Tochter, die wie ein Derwisch um sie herumtanzte, weckte plötzlich sein Interesse. Er lehnte sich über den Balkon, um sie besser erkennen zu können. Sein Herz machte einen Satz. Auf einmal verspürte er den Drang nach unten zu rennen und das Mädchen in die Arme zu nehmen. Doch es konnte nicht seine Schwester sein. Sie wäre längst 21 und eine erwachsene Frau. Für einen Moment hatte er wirklich geglaubt sie tanze unten vor seinem Balkon. Er sah ihre strahlenden Augen. Ihr Lächeln, mit dem sie die Sonne in jedes Haus getragen hat.Auch kurz nach Ausbruch der Unruhen hatte sie ihnen täglich etwas zu Essen in ihr Versteck geschmuggelt. "Tut mir leid, heute wieder keinen Champagner!", hatte sie die Jungs immer begrüßt und sie haben sie jedes Mal in den Arm genommen und ihr versprochen, sie bald aus dieser Hölle herauszubringen. Sie wussten, dass es eine Lüge war. Doch sie schenkte ihnen jeden Tag ein Stück Lebensfreude. Das Wertvollste, was sie in diesem unehrbitterlichen Krieg besaßen. Daher hatten sie sich nicht getraut, ihr die Wahrheit zu sagen. Doch als sie eines Tages nicht mehr wieder kam, schämten sie sich dafür.

Er musste sich jetzt auf den Weg machen. Bald würde er alles hinter sich lassen. Er fühlte eine innerliche Ruhe, die sich nebelartig in ihm ausbreitete und ihn für einen kurzen Moment daran denken ließ, sich auf seine Matratze zu legen und zu schlafen. Doch er durfte keine Zeit verlieren. Um 21:15 Uhr fuhr der letzte Bus. Nr. 320. Er hatte sich diese Zahl herausgesucht, weil sie damit stets zu Onkel Fahred gefahren sind. Auch an dem besonderen Tag.

Er stand mittlerweile an der Busstation und beobachtete die beiden Soldaten, die ihn aufgrund seines Arztabzeichens nicht weiter beachteten. Als sie ihm die Lizenz entzogen haben, hatten sie vergessen alle Signalbinden zurückzufordern. Der Bus hatte 17 Minuten Verspätung. Das war nichts Besonderes. Die Soldaten durchsuchten einen Studenten und eine verschleierte Frau mit einem Kind. Er musterte sie argwöhnisch, sie schien um die 20 zu sein. Ihn winkten sie durch. Anders als an dem besonderen Tag.

Er war gerade 19 geworden und hatte sein 2. Semester hinter sich. Sein Vater wollte mit ihm zu seinem Onkel fahren. Es sollte eine große Feier werden. Ein ganz besonderer Tag. Die Unruhen hatten gerade begonnen und es wurden viele Menschen verdächtigt, Terroristen Unterschlupf zu gewähren oder sie in anderer Form zu unterstützen. Doch sein Vater hatte für diese Leute nichts übrig. Sie säten die Gewalt, die die Unschuldigen ernteten. Das waren seine Worte.

Die Gaststätte seines Onkels wurde 2 Tage vorher vom Militär geschlossen. Die Regierung fürchtete in Onkel Fahreds Restaurant würden politische Versammlungen abgehalten werden. Sie konnten gerade noch rechtzeitig eine alte Industriehalle mieten. Doch die Verpflegung bereitete ihnen Kopfzerbrechen. Nur noch 2 Tage Zeit und das Straßennetz bestand zum größten Teil aus Sperren. Um dort durchzukommen, hätten Sie die Hälfte Ihrer Lebensmittel an die Soldaten „spenden“ müssen. Daher hatte seine Mutter sich bereit erklärt, das Meiste aus eigenen Zutaten am häuslichen Herd zuzubereiten. Sie wollte später nachkommen.

Der Bus mit der Nr. 315 hatte an diesem besonderen Tag nur 5 Minuten Verspätung. Sein Vater und er hatten gerade die Kontrolle passiert als sich seine Mutter rennend dem Bus näherte. In der Hand schwenkte sie einen schwarzen Rucksack. Sie rief seinem Vater zu, er solle das Fleisch noch mitnehmen, sonst müsse sie nachher mit einer Kamelkarawane nachkommen. Die Soldaten konnten Sie nicht verstehen und starrten sie an. Als sie sah, dass sich die Tür schloss warf sie den Rucksack durch den enger werdenden Spalt in das Fahrzeug. Kurz darauf fiel der Schuss. Sie war sofort tot, stellte der Arzt später fest.

Als sein Vater und er aus dem Bus stürzten hielten sie die Soldaten zurück. Der Ranghöhere der beiden beugte sich über seine Mutter und öffnete ihr das Kleid. Anscheinend wollte er nachsehen, ob sie einen Sprengstoffgürtel trug. Sein Vater riss sich los und warf sich auf den Offizier. Sein Kamerad holte aus und schlug seinen Vater von hinten mit dem Gewehr zu Boden. Er starb später im Krankenhaus an den schweren Kopfverletzungen.

Jetzt saß er im Bus mit der selben Nummer. Er begann leise zu beten. Dann wartete er. Der Bus erreichte die belebte Einkaufspassage. Die Verspätung betrug mittlerweile 24 Minuten. Er dachte an seine Eltern. Im Augenwinkel bemerkte er, dass ihn die verschleierte Frau mit dem Kind anstarrte. Als sie den Schleier anhob, erkannte er das Gesicht. Doch sein Daumen hatte den Zündmechanismus schon ausgelöst. Auch heute würde es keinen Champagner geben!
 

majissa

Mitglied
Hallo Mortimer,

eine spannende Geschichte mit einem guten Einstieg und einem schockierenden Ende. Wenn ich es richtig verstanden habe, erkennt der Protagonist im Bus seine Schwester, hat aber schon den Zündmechanismus ausgelöst? Somit wären ja dann nahezu alle Familienmitglieder ausgelöscht. Das ist makaber, aber durchaus gut gemacht.
Ja, es hat mir gefallen, die Überraschung war nicht vorhersehbar und bis auf einige Kleinigkeiten, die mir noch auffielen, habe ich nichts zu bemängeln.

„Genau wie du!“, hatte sein alter Herr immer zu seinem Onkel Fahred gesagt und zu seinem 4. Geburtstag hatte ihm Onkel Fahred sein altes Stethoskop geschenkt.“

In obigem Satz findet sich zuviel „sein“.

Im dritten Absatz und stellenweise im übrigen Text übertreibst du es mit „hatte“.

Der Lobgesang auf die Schwester ist eine Spur zu übertrieben. Da würde ich kürzen.

„Das Wertvollste, was sie in diesem unehrbitterlichen Krieg besaßen.“

Du meinst sicher „unerbittlich“.

„Die Gaststätte seines Onkels wurde 2 Tage vorher vom Militär geschlossen.“

2 Tage vor genau welchem Ereignis wurde die Gaststätte geschlossen? Vor dem besonderen Tag? Im übrigen erwähnst du ihn recht häufig. Zu häufig. Beim ersten Mal erzeugt das noch Neugier, aber beim dritten Mal beginnt es, zu nerven.

Vom Ausdruck her fällt der zweite Teil schwächer aus als der erste. Da könntest du noch dran feilen.

Liebe Grüße
Majissa
 

Mortimer

Mitglied
Liebe Majissa,

vielen Dank für deinen Beitrag! Mit deiner Vermutung bezüglich des Ausgangs der Story liegst du genau richtig.

Ich hab die Geschichte ab der Mitte relativ zügig zu Ende geschrieben, daher wahrscheinlich die Mängel im Ausdruck. Wenn ich Zeit hab, werde ich eine überarbeitete Fassung ins Netz stellen.

Liebe Grüsse
Mortimer
 



 
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