Die Infektion

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Der Kuchen in der Vitrine sah ziemlich einladend aus, aber meine Nebenhöhlen machten sich wieder bemerkbar und ließen ihre Schmerzimpulse in den Kiefer ausstrahlen. Es fühlte sich ein wenig an wie Zahnweh. Auf jeden Fall wie etwas, das mir den Appetit raubte.
Das Mädchen, wahrscheinlich die Tochter des Inhabers, reichte mir das Schnittbrot über den Tresen. Sie hatte ein schmales ernstes Gesicht, das von blonden Haaren umrahmt war. Ich fand sie ausgesprochen hübsch. Bei meinem ersten Mal in der Bäckerei hatte ich gehört, wie Frau Nienstedten sie Beke rief. Beke also. Mit einem scheuen, nur knapp angedeuteten Lächeln gab sie mir das Wechselgeld zurück. Ob ich irgend etwas in meinem Blick gehabt hatte, als ich sie dabei anschaute? Saskia hätte bestimmt eine Bemerkung dazu gemacht.
Als ich die Bäckerei verließ, verabschiedete mich die Türglocke mit einem dezenten Dingdong. Ahrdorf war typisch norddeutsch. Eine Art Westernstadt, deren paar Häuschen sich links und rechts der Hauptstraße aufreihten. Allerdings handelte es sich hier um eine ziemlich stark befahrene Bundesstraße. Mein Haus lag um die zwei Kilometer außerhalb, mitten im Freien. Ich würde mehr als eine Viertelstunde für den Weg brauchen. Zwar war ich mit dem Auto gekommen, aber ich wollte es mir von Anfang an zur Gewohnheit machen, alle Gänge hier zu Fuß zu erledigen.
Die Schmerzen wurden heftiger. Eigentlich hatte ich beabsichtigt, die Antibiotika heute abzusetzen, aber jetzt wurde es höchste Zeit, meine Pläne zu ändern. Und deshalb brauchte ich ein möglichst großes Glas Wasser.
Vielleicht sollte ich das zum Anlass nehmen, dem Gasthof „Eicheneck“ endlich einmal meine Aufwartung zu machen. Von außen wirkte er urig, aber da er nur wenige Meter vom LKW-Parkplatz entfernt lag, würde es wohl keine reine Dorfschenke sein. Vielleicht würde ich sogar ein Bier trinken, ein wenig feiern. Trotz Nebenhöhle waren die letzten zwei Tage hier ziemlich erfolgreich gewesen. Als ich angekommen war, hatte ich feststellen können, dass es im Häuschen tatsächlich wieder Strom gab. Und gestern hatten sie das Wasser angestellt.
Es herrschte kaum Betrieb im Tresenraum, so dass ich keine Probleme hatte, einen Tisch am Fenster zu finden. Ich fühlte mich ein wenig beklommen, wie ein Fremdkörper. Wart`s ab, wird sich ja wohl bald ändern, dachte ich. Es war abzusehen, dass ich in Zukunft die Wochenenden vor allem in Ahrdorf verbringen würde. In meiner Datsche, wie Saskia immer sagte – mit diesem Tonfall, der sich aller Begeisterung entledigt hatte. Dann meinetwegen in meiner Datsche. Und im „Eicheneck“.
Als die Wirtin mir das Bier und das Wasser brachte, schob ich die Tablette in den Mund und spülte sie mit einem kräftigen Schluck hinunter. Ich zog eine alte Ausgabe von PM aus meinem Rucksack und suchte nach dem Hauptartikel über irgendein Teilchenexperiment, in dem ein paar Physiker das Wirken Gottes in der Natur zu erkennen glaubten.
Ohne von der Zeitschrift aufzusehen, hörte ich, wie jemand das Lokal betrat. Von der Seite fiel ein Schatten auf die aufgeschlagene Seite.
„Sie interessieren sich für Wissenschaft?“
Der Mann sah nicht unsympathisch aus, mittelalt und trotz Schnauzbart eher jungenhaft. Trotzdem fühlte ich mich gestört, wenn ich auch versuchte, das Gefühl niederzukämpfen. Schließlich war ich hier in der Kennlernphase.
„Etwas. Allerdings bin ich kompletter Laie.“
„Geht mir genauso!“
Ich hoffte, nicht zu verdutzt geschaut zu haben, als ich beobachtete, wie er mir den Rücken zuwandte, ein Bier am Tresen bestellte und sich an meinen Tisch setzte.
„Hab auch nur Elektriker gelernt. Aber Physik hat mich irgendwie nicht losgelassen.“
Elektriker, dachte ich. Solche Leute konnte man immer brauchen. Trotzdem spürte ich in diesem Augenblick wenig Verlangen nach Nachbarschaftspolitik.
„Sie sind der neue Besitzer von Stöwers Haus, ja?“
„Stöwer, stimmt. Ich glaube, so war der Name.“
„Dann kennen Sie die Familie gar nicht?“
„Nein, nur die Maklerin. Es soll auch gar keine nahen Angehörigen mehr geben.“
„Nein, nicht mehr.“
„Wissen Sie näheres?“
Der Mann hob die Schultern. „Nur dass der alte Stöwer verschwunden ist. Vor über drei Jahren. Hat zuletzt allein im Haus gewohnt.“
„Verschwunden?“
Er wich meinem Blick aus und schien nach einer Entgegnung zu suchen, was ich zum Anlass nahm, ihn ein wenig genauer zu betrachten. Sein kariertes Jackett hatte im ersten Augenblick recht elegant gewirkt, aber bei genauerem Hinsehen erwies es sich doch schon als ziemlich alt und abgenutzt. Außerdem trug er einen bunten Pullover dazu, der überhaupt nicht passte. Er schaute mich an und deutete auf die Zeitschrift vor mir.
„Physik, aber auch so Sachen wie Psi. Dafür habe ich echt eine Schwäche!“
Ein ziemlich plumper Versuch, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, sagte ich mir. Das Haus interessierte ihn, aber trotzdem war es ihm unangenehm, darüber zu sprechen. Von einem Moment zum anderen wurde mir klar, dass das keine Zufallsbekanntschaft war. Wahrscheinlich hatte er mich schon seit einiger Zeit beobachtet.
„Psi?“
„Na ja. Die Leute denken, ich spinne ein wenig. Aber jetzt muss ich los!“ Er beeilte sich, sein Bier zu zahlen und hob beim Gehen in der Tür den Arm zu einem nachlässigen Gruß.
„Wir sehen uns!“
*

Die meisten Möbel stammten noch vom alten Besitzer. Stöwer, ging mir sein Name durch den Kopf. Fürs erste waren sie noch benutzbar, aber sie waren alt, schmucklos, abgestoßen. Außerdem durchzog ein muffiger Feuchtigkeitsgeruch die Zimmerluft.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Saskia hier schnell wohlfühlen würde. Aber ich gestand mir ein, dass es mir ganz recht war. Für ein Weilchen wäre das Häuschen mein Rückzugsraum. Vielleicht könnte das unserer Beziehung, die in den letzten Monaten etwas anstrengend geworden war, helfen.
Zu den wenigen Einrichtungsgegenständen, die ich selber mitgebracht hatte, gehörte ein tragbarer Fernseher und mein altes Videogerät, den DVD-Player hatte ich in unserer Wohnung bei Saskia gelassen.
Ich saß im Wohnzimmer auf dem Plüschsofa, das ich mit mitgebrachten Wolldecken abgedeckt hatte und spielte eines meiner Uralt-Videos – „Der Tod kommt zweimal“ von Brian De Palma.
Ich biss in die Käsestulle, die ich mir auf einem Teller bereitet hatte und stellte ein weiteres Mal fest, dass das Brot von Nienstedten wirklich gut schmeckte. Gleich würde die Szene in diesem verrückten Nachtclub kommen. Besonders faszinierte mich das Mädchen, das dem Conferencier oder wie sich das auch immer nannte, den Rücken mit den Füßen massierte, während er bäuchlings auf dem Tresen lag.
Es klopfte an der Haustür. Ein ungewohntes Geräusch, das erstemal, dass mich hier jemand besuchte. In der Tür stand der Fremde aus dem Gasthof.
„Darf ich reinkommen? Nur für ein paar Minuten!“
Wortlos wies ich mit der Hand in den Flur.
„Nennen Sie mich doch einfach Harald!“
Ohne weitere Signale von mir abzuwarten, setzte sich Harald im Wohnzimmer aufs Sofa. „Sie machen hier Urlaub, ja?“, fragte er, während er auf den Fernseher starrte. Die Nachtclubszene. Das Mädchen walkte den Rücken des Conferencier durch.
„Bin nur fürs Wochenende hier!“, antwortete ich, den Blick ebenfalls aufs TV-Gerät gerichtet. Das Mädchen trug eine Schirmmütze aus schwarzem Leder, einen sehr engen, ebenfalls schwarzledernen Rock und schwarze Strapse. Ihr Gesicht war weiß geschminkt, wie bei einem Kabuki-Schauspieler. Ihre Augen waren von großen dunklen Make-Up-Schatten umrandet. Es sah eigenartig melancholisch aus. Auf jeden Fall schien sie Harald genauso gut zu gefallen wie mir. Als ich auf die Aus-Taste der Fernbedienung drückte, drehte er sich zu mir um.
„Ich wollte nur noch einmal sagen, falls Sie Hilfe brauchen ...“
„Das Haus interessiert Sie, ja?“
Er kratzte sich am Hinterkopf.
„Stimmt schon. Stöwer und ich ... wir waren so was wie die beiden Außenseiter im Dorf. Nicht, dass wir die dicksten Freunde gewesen wären, aber ich hab schon manche Abende hier mit ihm gesessen und Schach gespielt.“
„Einen Kaffee?“
Harald nickte. Ich ging in die kleine Küche, wo der Kaffee schon seit längerem von der Maschine warmgehalten wurde und kam mit zwei Bechern zurück. Er nahm einen Schluck, verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Als ich meinen Kaffee probierte, stellte ich fest, dass er sich eigenartig dickflüssig anfühlte und sich ein seltsamer Geschmack drunter gemischt hatte. Vielleicht lag es daran, dass das Wasser erst seit kurzem wieder lief. Harald war tapfer und nahm weitere Schlucke von seinem Becher.
„Es ist bloß so – Ich habe etwas gesehen. Ein Licht. Damals in der Nacht, in der Stöwer verschwunden ist.“
„Ein Licht?“
„Ja, verdammt hell. Irgendwelche Einzelheiten habe ich aber nicht erkennen können. Ich war einige hundert Meter entfernt. Hab mir zunächst nicht so viel dabei gedacht. Vielleicht, dass der Alte mit irgendwelchen Scheinwerfern aus dem Krieg experimentierte oder so. Aber von diesem Abend an wurde er von niemandem mehr gesehen.“
„Hat die Polizei nichts herausgefunden?“
„Glaub nicht, dass die viel nachgeforscht hat. Stöwer galt als etwas, na ja ...“
Er hob den Zeigefinger auf Stirnhöhe und ließ ihn vielsagende Drehbewegungen ausführen.
„Wahrscheinlich hat er auch Depressionen gehabt. Jedenfalls war man sich bald sicher, dass es Selbstmord war. Hier gibt es eine ganze Menge Seen mit viel Schlick und Wurzeln auf dem Grund. Da muss weiß Gott nicht jede Leiche wieder nach oben kommen. Alles in allem ist er ziemlich schnell für tot erklärt worden.“
Er schwieg einen Moment und ließ seinen Blick im Zimmer hin und her wandern.
„Manchmal frage ich mich, ob es so etwas gibt. So eine Spalte im Erdboden, wie der Andreasgraben, wo etwas raussickert. Etwas Fremdartiges.“
„Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“
„Tut mir leid, aber ich muss gehen!“
Er stellte seinen Becher ab und verschwand so schnell wie im Gasthof.

*

Eine Woche später war ich wieder in Ahrdorf. Mein erster Weg führte mich zu Bäcker Nienstedten. Beke war allein im Verkaufsraum. Sie schaute mich mit leerem Gesichtsausdruck an. Fast schon feindselig. Aus dem Hinterraum hörte ich ein lang anhaltendes, gequältes Husten. Ich hatte den Eindruck, dass es von jemandem kam, der nicht vom Erdboden entfernt war – von jemandem, der im Bett lag.
„Geht es Ihrer Mutter nicht gut?“
„Nur Husten“, antwortete Beke teilnahmslos.
„Hört sich aber gar nicht gut an.“
„Nur Husten!“
Ein scharfer Tonfall lag in ihrer Stimme. Eine Art Aufforderung, das Gespräch abzubrechen. Verwirrt trat ich ins Freie. Bis zu diesem Augenblick hatte ich gedacht, dass die Bäckerei so etwas wie ein erstes Stück Heimat hier für mich geworden wäre, aber diese Abfuhr war ziemlich beleidigend.
Ein Mann mit einer schweren Tragetasche kam auf mich zu. In einer beeindruckenden altmodischen Geste zog er den Hut und nickte mir zu.
„Sie sind der neue Bewohner von Stöwers Haus, ja?“
Irgendwie schienen mich hier alle zu kennen.
„Entschuldigung!“ Er reichte mir die Hand. „Wieland, ich bin der praktische Arzt hier!“
„Dann sind Sie wohl unterwegs zu Frau Nienstedten!“
„Genau. Das ist übrigens eine Sache, die ich gern mit Ihnen besprechen würde.“
„Mit mir?“
„Man sagte mir, Sie hätten Kontakt mit Harald Mertens.“
„Harald, ja! Alle Achtung, die lokale Kommunikation funktioniert ja wohl absolut störungsfrei. Ich habe ihn ein paar mal gesehen. Was ist mit ihm?“
„Ich würde ihn gern untersuchen. Er hatte mit ein paar Erkrankten Kontakt.“
„Paar Erkrankte? Haben wir ein größeres Problem? Eine Epidemie?“
Der Arzt wiegte den Kopf. „Wenn Sie ihn sehen: Sagen sie ihm doch einfach, dass er mal in meiner Praxis vorbeischauen möchte!“
Er reichte mir die Hand und ging rasch seiner Wege, während ich die entgegengesetzte Richtung einschlug. Als ich die Hauptstraße entlang schlenderte, bemerkte ich den alten Mann, der den Hof fegte. Seine Bewegungen wirkten eigenartig langsam und teilnahmslos. Er tat so, als schaute er auf den Boden, aber ich war mir sicher, dass er mich aus den Augenwinkeln beobachtete.
Hinter dem Alten sah ich einen anderen Mann. Mit einem Messer in der Hand ging er auch ein totes Kaninchen zu, das an der geöffneten Scheunentür an einem Strick baumelte.
Als ich das Haus passierte, das zum Hof gehörte, starrte mir jemand durch das geschlossene Fenster hinterher. Ich drehte mich um, doch die Vorhänge wurden hastig zugezogen.
*

Ich schaltete den Rechner aus, nahm die ausgedruckten Fotos an mich, legte sie auf den Wohnzimmertisch und setzte mich aufs Sofa.
Einige der Bilder waren überraschend gut gelungen. Das kleine Grundstück, abgegrenzt durch einen Zaun aus niedrigen grünen Latten, von denen einige fehlten, die Obstbäume, das verwucherte Beet. Das Haus selber, das niedrige Krüppelwalmdach, die moosbedeckten Ziegel, das Fenster an der Längsfront.
Es war das Fenster, aus dem ich vom Sofa nach draußen schauen konnte. Ein wenig war es so, als beobachtete ich mich selber. Mein Mund setzte zu einem Lächeln an, aber plötzlich fühlte in eine Art Beklommenheit in mir aufsteigen. Ich schob die Bilder zusammen und streckte mich auf dem Sofa aus. Mit einem Blick aus dem Fenster vergewisserte ich mich, dass es draußen dunkel geworden war. Dann schlief ich ein.
Irgendwann in der Nacht träumte ich von einem Geräusch. Als ob ich mich in einem dichten Getreidefeld oder etwas ähnlich Undurchdringlichem befände und sich von irgendwo her ein unheimliches Rascheln näherte. Im Aufwachen nahm ich mein eigenes Stöhnen wahr. Es war sehr still. Keine Vögel, keine Grillen. Es musste sehr spät sein.
Dann setzte wieder das Geräusch ein. Es kam von draußen, anscheinend direkt an der Hauswand. Ich rappelte mich vom Sofa auf und schlüpfte in meine Schuhe. In der kleinen Kommode bei der Haustür fand ich die Taschenlampe. Ich schaltete sie an, fasste mit der anderen Hand den Griff der Haustür und trat ins Freie.
„Ist da jemand?“
Irgendwie fand ich meine Frage lächerlich, aber bevor ich mich weiter über mich aufregen konnte, erfasste das Licht der Taschenlampe eine Gestalt vor der Häuserwand. Es war Harald, der den Kopf zur Seite drehte, um dem Lichtstrahl auszuweichen. In der rechten Hand hielt er einen Spaten.
„Was treiben Sie denn da?“
„Ich suche!“
„Und wonach?“
„Weiß ich nicht!“
Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu. Dabei ließ ich den Spaten in seiner Hand nicht einen Augenblick aus den Augen.
„Warum fragen Sie mich nicht vorher? Erklären Sie mir doch mal, was ich von der Sache halten soll!“
Er sah nicht gut aus. Das schweißnasse Haar klebte an seiner Stirn, er wirkte blass, die Augen waren dunkel umrandet. Wie bei einem sehr kranken Mann.
„Es ... es stimmt nicht!“
„Was stimmt nicht?“
„Ich habe Stöwer doch noch einmal gesehen. Einen Tag nach der Sache mit dem Licht. Er war ... ziemlich anders. Und er hat gegraben. So wie ich jetzt. Und da ...“ Er deutete auf eine Stelle auf dem Grundstück. „Da war dieses Ding!“
„Was für ein Ding?“
„Es war unter einer Plane. Ich konnte nichts erkennen. Aber es war ziemlich groß!“
„Am besten, Sie gehen jetzt! Wissen Sie überhaupt, dass der Arzt Sie sehen will?“
„Ah ja?“
„Irgendwie gibt es im Dorf eine Ansteckungswelle. Wieland denkt wohl, dass Sie in Gefahr sind.“
„Natürlich bin ich in Gefahr! Sie übrigens auch!“
Er warf den Spaten zu Boden, drehte sich um und rannte davon.

*

Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Die Wolkendecke war zwar so dicht, dass es keinen direkten Sonnenschein gab, aber die Luftfeuchtigkeit war sehr hoch.
Schon von Ferne erkannte ich, dass die Straße nach Ahrdorf gesperrt war. Eine rotweiße Barriere blockierte die Fahrbahn, dahinter war ein „Durchfahrt verboten“-Schild auf einem Kunststofffuß aufgestellt. Während ich mich der Absperrung näherte, ging direkt vor ihr ein schwarzer BMW in den Rückwärtsgang, machte kehrt und sauste an mir vorbei.
Nirgends waren eine Baustelle oder Arbeiter zu sehen. Es war sehr still. Nur aus weiter Ferne hörte ich das rhythmische Hämmern einer landwirtschaftlichen Maschine.
Ich ging die Hauptstraße entlang. Links von ihr lag der Straßengraben, dahinter eine große eingezäunte Weide. Ich selber ging auf der rechten Seite, auf dem geteerten Geh- und Fahrradweg. Auf dieser Seite standen große Mehrfamilienhäuser aus rotem Backstein. Das Dorf schien wie ausgestorben. Und bis jetzt war mir noch kein einziges Auto begegnet.
Die Bäckerei Nienstedten war geschlossen. Kein Schild, kein Notizzettel wies darauf hin, aber als ich durch das Schaufenster in den unbeleuchteten Tresenraum schaute, wirkte er so verlassen, dass ich gar nicht erst probierte, ob sich die Tür öffnen ließ. Der Innenraum war so dunkel, dass die Scheibe das Licht fast so gut reflektierte wie ein Spiegel.
Ich ging zum Gasthaus, um festzustellen, dass auch er nicht geöffnet war. Als ich mich von der Eingangstür abwandte, sah ich die anderen. Es waren ungefähr ein halbes Dutzend Männer, die mich finster und schweigend anschauten. Sie waren ungefähr vier, fünf Meter von mir entfernt. An ihrer Spitze stand Wieland, der Arzt.
„Wie geht es Ihnen?“
An der rechten Hand trug er einen blutigen Verband. Aber vor allem gefiel mir der Ausdruck seiner Augen nicht.
„Haben Sie Harald gefunden?“ Ich versuchte, meine Worte arglos klingen zu lassen.
Ein rätselhafte Lächeln huschte über seine Lippen. „Keine Angst! Jeder wird behandelt. Der Reihe nach!“
Er machte einen Schritt auf mich zu, was die Männer veranlasste, ihm zu folgen.
Dieses Näherkommen war es, das irgendwo in den primitiveren Bereichen meines Hirns den Schalter umlegte.
Ich wirbelte herum und fing an zu rennen. Obwohl ich nur meine eigenen Schritte hörte, wagte ich nicht, mich umzudrehen. Lange halte ich es nicht durch, dachte ich. Zwar hatte ich das Gefühl, genug Luft zu bekommen, aber meine untrainierten Beine verwandelten sich zusehends in Betonpfeiler. Dann hörte ich Wielands Stimme. Sie kam aus einiger Entfernung.
„Wir machen auch Hausbesuche!“
*
„Und warum keine Polizei?“
Da war sie wieder, Saskias Vernünftigkeit, der ich so selten etwas entgegenzusetzen hatte.
„Noch zu früh! Vielleicht ist das Ganze ein Witz, den man hier so mit Zugereisten treibt.“ Den Telefonhörer ans Ohr gepresst, stand ich am Wohnzimmerfenster und schob die Gardine beiseite. Auf dem Zufahrtsweg zum Häuschen war niemand zu sehen.
„Das hört sich aber nicht an wie ein Witz. Christoph, ich habe Angst! Komm zurück!“
Für einen Moment schloss ich die Augen. Warum konnte sie jetzt nicht hier sein? Ich fragte mich, wie ich je auf den Gedanken kommen konnte, vor ihr wegzulaufen.
„Es geht nicht. Ich werde mich bald wieder melden. Machs gut!“
Ich hatte den Eindruck, dass sie noch etwas sagen wollte, aber mein Finger hatte schon die Unterbrechertaste gedrückt. Nachdem ich das Telefon auf der Kommode im Flur abgestellt hatte, ging ich hinaus, um in den verwahrlosten Beeten zu arbeiten.
Als nach ungefähr einundhalb Stunden mein Rücken anfing, Einspruch einzulegen, legte ich Harke und Gartenschere beiseite und setzte mich auf den alten Klappstuhl.
Ich lies meine Blick über das Grundstück und das angrenzende Gelände schweifen.
Gleichzeitig lauschte ich, ob ich Schritte oder Fahrzeuggeräusche auf dem Pfad vernehmen konnte, der zum Haus führte.
Eine Stelle jenseits des Gartenzauns rückte immer mehr in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit. Dort hatte sich eine Art Wolke von Fliegen gebildet, die einen bestimmten Punkt auf dem Erdboden in engen Bahnen umkreisten.
Ächzend erhob ich mich und ging durchs Gartentor zur Stelle, um sie etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Als ich erkannte, worum es sich handelte, fielen die Temperaturen in meinen Eingeweiden auf den Gefrierpunkt. Es waren zwei Kadaver nicht allzu großer Tiere. Das eine war ein Kaninchen, beim anderen benötigte ich etwas länger, um es als Fuchs zu identifizieren. Sie waren beide noch in einem ziemlich guten Zustand, abgesehen von den Myriaden von Getier, das über ihr Fell und ihre halb geöffneten Augen lief.
Beim Fuchs klaffte ein Spalt im Fell, der von einem Ohr fast bis zur Kehle verlief. Ich fragte mich, was geschehen war. Vielleicht hatte sich der Fuchs irgendwo anders verletzt und dann den Kaninchenkadaver gefunden, war aber verendet, bevor er mit dem Fressen anfangen konnte. Dass er mit dieser Verwundung das Kaninchen noch selber erjagt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen.
Oder ob sich das Kaninchen so heftig gewehrt hatte, dass es den Fuchs dabei ins Jenseits befördert hatte? Mir fiel ein eigenartig glänzender Schleim auf, der dem Kaninchen aus dem Löffel sickerte. Es sah nach einer schweren Infektion aus. Angewidert machte ich kehrt und ging ins Haus zurück.
Da mein Bedarf an Natur fürs erste gedeckt war, fasste ich den Entschluss, mich erst einmal etwas um die technischen Installationen im Haus zu kümmern.
Ich stieg über die enge Treppe in den Heizkeller hinab, wo mich der Geruch von feuchten gekalkten Wänden empfing. Ich ließ meine Blicke über die Wand streichen, an der der Ölheizungskessel stand. Vor dieser Wand hatte Harald gegraben. Was immer er dort draußen gesucht hatte, hier drinnen schien es keine Spuren davon zu geben. Über mir führte ein Rohr an der Decke entlang. Vielleicht eine Wasserleitung. An einer Manschette hatte sich Feuchtigkeit gebildet, ein langgestreckter Tropfen hing vom Rohr hinab. Es wunderte mich, dass er sich nicht lösen wollte. Als ich mich auf Zehenspitzen stellte und den Tropfen mit der Fingerspitze berührte, zog er sich blitzartig ins Rohr zurück.
Verwirrt starrte ich abwechselnd auf meinen Finger und auf die Leitung. Die Substanz hatte sich überhaupt nicht wie Wasser angefühlt, sondern wesentlich dickflüssiger.
Nun hatte das Rohr mein Interesse endgültig geweckt. Neben dem Kessel stand ein niedriger, ein wenig wackliger Schuhschrank, den ich mit beiden Händen packte und unter das Rohr stellte. In mir stieg der Zweifel auf, ob er mein Gewicht wirklich würde tragen können.
In diesem Augenblick fiel etwas aus dem Schrank auf den nackten Boden. Ich ging in die Hocke, um es aufzuheben.
Es war eine Schulheft im A5-Format, stark eingestaubt. Als ich darin blätterte, erkannte ich am auf den ersten Seiten Aufzeichnungen in einer kleinen pedantischen Schrift, die zu einem Schulkind nicht so recht passen wollte. Ich fing an zu lesen.
„Manchmal lassen sie mich in Ruhe, vielleicht müssen sie dann ausruhen. Dann spüre ich, wie schlecht es meinem Herz geht. Es ist wie ein riesiger Nussknacker um meiner Brust. Aber bald werden sie wieder wach und dann muss ich wieder an den Spaten. Der Apparat ist erst zur Hälfte eingegraben. Den Rest schaffe ich nicht mehr, vorher falle ich tot um. Aber sie zwingen mich. Ich weiß nicht wie, aber sie schaffen es. Irgendwie sind sie in meinem Kopf und sagen mir, dass ich graben soll. Und ich mache es, auch wenn ich es hasse, wenn ich keine Luft mehr bekomme und sich alles um mich dreht ...“
Ich hörte, wie oben im Flur das Telefon klingelte.

*
„Wie geht es Ihnen?“ Obwohl ich bisher nur wenige Worte mit ihm gewechselt hatte, erkannte ich sofort, dass es Haralds Stimme war.
„Wie geht es Ihnen?“, wiederholte er atemlos.
Warum interessiert Sie das so?“
„Ich merke es an Ihrer Stimme: Sie haben Angst. Gut!“ Es hörte sich an, als müsste er die Worte unter Schmerzen aus sich herauspressen. „Angst ist gut, sehr gut. Ich glaube, ich weiß jetzt, warum Sie gesund geblieben sind!“
Das Telefon stand auf der Flurkommode, direkt unter dem Spiegel. Ich machte einen Schritt zur Seite, um nicht immer mich selber zu sehen, wie ich den Hörer ans Ohr hielt.
„Gesund geblieben?“
„Es waren Ihre Pillen. Antibiotika, ja?“
„Habe ich vor kurzem genommen! Und? Was sollen die bewirkt haben?“
„Sie haben es geweckt! Alles fing mit Ihrem Einzug an!“
„Mit meinem Einzug, ja? Wisst ihr was? Ihr habt hier alle einen kapitalen Dachschaden! Sie und das ganze gottverdammte Dorf!“
Harald schien meinen Wutausbruch überhaupt nicht registriert zu haben. Seine Stimme klang gedankenverloren, als er wieder zu sprechen anfing.
„Ich weiß nicht, wie sie es machen. Wahrscheinlich kommt es aus dem Wasser. Aus Ihrem Haus. Der Kaffee – der hat mächtig eigenartig geschmeckt, wissen Sie? Es geht in den Körper über. Natürlich wehrt der sich zuerst. Das sieht dann aus wie eine Ansteckung. Wie eine schwere Erkältung oder so. Aber dann ist es im Gehirn und übernimmt die Kontrolle ... nur bei Ihnen nicht. Wegen der Pillen!“
Hatte er Wasser gesagt? Ich musste an das eigenartige Verhalten des Tropfens an der Rohrleitung denken.
„Aber worauf läuft das Ganze überhaupt hinaus?“
„Ich weiß es nicht!“
Für einen Moment dachte ich, ein Geräusch aus dem Wohnzimmer gehört zu haben. Als ich mich umdrehte, erkannte ich, dass die Tür nur einen kleinen Spalt breit geöffnet war. Ich lauschte ein paar Sekunden, konnte aber nichts hören. Daher hob ich den Hörer wieder auf Mundhöhe.
„In einem haben Sie übrigens Recht. Irgendetwas war hier. Und irgendjemand hat Stöwer gezwungen, es zu vergraben ...“
„Das Ding!“
„Stöwer schreibt was von einem Apparat! Warum haben Sie eigentlich nicht schon früher danach gesucht?“
„Damit alle glauben, ich wollte was vom Haus und hätte den alten Stöwer um die Ecke gebracht? Ne, ne. Aber dann sind Sie gekommen, und plötzlich sind wir hier alle krank geworden ... “
„Was war das für ein Ding?“
„Es ... es kam von oben. Ich habe es gesehen. Unglaublich hell. Es ist bei ihm auf dem Grundstück gelandet. Und am nächsten Tag war es weg.“
„Wie es aussieht, hat er es am Haus eingegraben.“
„Und jetzt ist es wach geworden. Sie haben es gestört. Es wehrt sich. Mit irgendwelchen Sporen, die im Wasser sind und die die Leute anstecken. Sie sind in unserem Gehirn. Sie können unsere geheimsten Gedanken sehen ...“
Er wurde von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen.
„Wie stark fühlen Sie sich, Harald? Warum kommen Sie nicht einfach vorbei? Ich bin mir nicht mehr sicher, oder ich die ganze Sache allein ...“
Durch den Hörer vernahm ich ein unheimliches Lachen.
„Fürchte, dafür ist es ein bisschen zu spät. Ich spüre, dass sie mich bald am Schlawittchen haben. Sehr, sehr bald. Tut mir Leid. Keine Zeit mehr. Ich muss es wohl sofort erledigen.“
„Was erledigen?“
„Ist ein Andenken von meinem Vater. ´Ne alte Walther P.38, Wehrmachtsbestände. Komisch!“ Er machte eine kurze Sprechpause, in der ich nicht zu atmen wagte. „Ist doch ein wichtiger Moment im Leben. Und dann weiß ich noch nicht einmal, warum ich es tue. Ob ich das wirklich selber will, oder ob die mir das befehlen. Naja, spielt danach wohl keine große Rolle mehr. Machen Sie´s gut!“
Der Schuss war so laut, dass ich instinktiv den Hörer vom Ohr wegriss.
„Harald?“
Nachdem ich ein paar Sekunden vergeblich in den Hörer gelauscht hatte, legte ich auf, wobei mir die Hände zitterten. Was mache ich jetzt, dachte ich, während ich die Fingerknöchel gegen die Lippen presste. Mein erster Gedanke war der Rettungsdienst. Aber das würde mit Sicherheit die Polizei auf den Plan rufen oder sonst wen. Ich traute diesem Ort nicht mehr. Weiß Gott nicht. Am besten, ich wäre gar nicht mehr da, wenn sich hier irgendetwas in gang setzte. Anrufen und dann gleich ab ins Auto, das würde mein Plan sein. Vor allem brauchte ich erst einmal den Wagenschlüssel.
Als ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, sah ich das Mädchen auf dem Sofa liegen. Es stützte den Oberkörper auf die Ellenbogen und schaute mich an. Spöttisch. Einladend.
Ich erkannte sofort, wer sie war — oder zumindest, wer sie sein wollte: Das Mädchen aus „Der Tod kommt zweimal“. Dieselbe schwarzlederne Schirmmütze mit Nieten beschlagen, das lederne Halsband, ein schwarzes Top mit Spaghettiträgern.
Es wunderte mich, wie wenig ich erschrak. Vor allem füllte sich mein Bewusstsein mit einer Erregung, die wie Kohlesäurenbläschen in meinen Adern perlten.
Das Mädchen verfolgte meinen Blick aus engen Augen, die in tiefen Make-up-Schatten schwammen. Das übrige Gesicht war weiß geschminkt. Trotzdem wurde mir jetzt klar, wer sie wirklich war. Beke.
Sie erhob sich und schritt mit wiegenden Hüften auf mich zu. Dabei heftete sich mein Blick an ihren Minirock aus schwarzem Leder und den schlanken Beinen in den schwarzen Strapsen.
„Gefällt es Ihnen in Ahrdorf?“, fragte sie mit einer Stimme, zu der mir immer nur die Farbe Purpur einfällt, sobald ich mich an sie erinnere.
Sie legte ihre Unterarme auf meine Schultern und zog mich an sich. Als ich ihr Parfüm, ihre Haare und das Leder roch, war ich wie betäubt. Ich spürte ihre heißen Lippen auf meiner Wange.
„Sei ganz ruhig, Liebling. Mach einfach nur die Augen zu!“
Ich wollte es nicht, aber trotzdem folgte ich ihrer Aufforderung. Plötzlich löste sie sich von mir. Fast gleichzeitig hörte ich einen überraschten Schrei und riss die Augen wieder auf. Ich benötigte ein paar Sekunden, um mir bewusst zu werden, dass es Saskia war, die ich da direkt vor mir mit dem Mädchen kämpfen sah und die mit beiden Händen deren rechtes Handgelenk gepackt hatte. Dann erkannte ich, dass das Mädchen in dieser Hand ein Messer hielt. Während die Frauen miteinander rangen, wobei sie immer wieder Wut- und Schmerzensschreie ausstießen, war ich zu perplex, um mich irgendwie zu bewegen.
Polternd fiel das Messer zu Boden. Ich diesem Augenblick sah ich ein gefährliches Blitzen in Saskias Augen. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ihr Arm vollführte eine schnelle Halbkreisbewegung und klatschend traf ihre Faust Bekes Kinn. Lautlos sackte das Mädchen in sich zusammen. Saskia stand über ihr und fixierte sie mit grimmigem, misstrauischem Gesichtsausdruck, wobei sie sich eine Strähne ihres dunklen Haars aus der Stirn strich.
„Was machst du denn hier?“
„Siehst du das nicht? Ich rette dir das Leben, du kleiner Esel! Oder habe ich etwa gestört?“
„Ich ... ich kenne sie eigentlich gar nicht ... ich ...“

*

Vom Sofa aus verfolgte ich, wie Saskia das ohnmächtige Mädchen mit einer Wäscheschnur fesselte.
„Was hat dich überhaupt auf den Gedanken gebracht, hierher zu kommen?“
„Deine Stimme! Du hast wirklich nach Panik geklungen. Da habe ich ... mein Gott, sieh dir das an!“
Während sie mit einem Gesichtsausdruck des Ekels und wachsenden Entsetzens auf die Wange des Mädchens starrte, sprang ich auf und ging neben Beke auf die Knie.
„Du meine Güte, das habe ich doch schon mal gesehen!“
Aus dem Ohr des Mädchens sickerte ein klarer, durchsichtiger Schleim, der einen Fleck auf dem Holzfußboden bildete. Wollte mir meine Fantasie einen Streich spielen, oder bewegte sich die Flüssigkeit wirklich langsam in Richtung auf eine Ritze zwischen den Bohlen zu?
„Schätze, die Ratten verlassen das sinkende Schiff!“
Ich wandte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Harald hob in seiner gewohnt lässigen Art die Hand.
„Ich dachte, Sie wären tot!“
„Man muss flexibel bleiben! Hab’s mir kurzfristig anders überlegt und nur meine Zimmerdecke erschossen.“
Er kam ein paar Schritte näher und betrachtete das Mädchen, das auf dem Boden lag, wobei seine Aufmerksamkeit anscheinend vor allem ihren Strapsen galt. Anerkennend pfiff er durch die Zähne.
„Das ist Harald, ein Bekannter von hier. Und das ist Saskia, meine Frau!“
Unsicher lächelnd reichten sich die beiden die Hände.
„Vielleicht können Sie mir erklären, was hier los ist, Harald? Mein Mann ist in solchen Dingen ja immer so schrecklich unsystematisch.“ Ihr Seitenblick in meine Richtung war mehr als vielsagend. „Oder rufen wir erst die Polizei und trinken einen Kaffee?“
„Beides keine sehr guten Ideen“, antwortete Harald. „Sie sollten auf jeden Fall vermeiden, hier im Haus oder überhaupt im ganzen Ort irgend etwas zu essen oder zu trinken. Und die Polizei ... na ja, ich glaube, dass wir so ziemlich auf uns gestellt sind.“
Er ließ sich aufs Sofa plumpsen.
„Aber wenn Sie eine Erklärung wünschen, dann bitte! Ich versuche, es kurz zu machen. Irgend etwas ist hier gelandet. Schon vor längerer Zeit. Und es ist immer noch hier. Hier beim Haus! Irgend etwas, das dieses Dorf unter seine Kontrolle gebracht hat.“
Saskia musterte ihn mit einem Blick, der verriet, dass sich erste Zweifel an ihrem neuen Verbündeten regten.
„Harald hat Recht!“, warf ich ein. „Ich habe Stöwers Aufzeichnungen gefunden. Der Vormieter. Irgendjemand hat ihn gezwungen, hier etwas zu vergraben.“
„Was vergraben?“
„Ein UFO, nehme ich an!“
„Aha?“
„Wahrscheinlich ist es notgelandet und befindet sich in einer Art Wartezustand. Der Einzug Ihres Mannes muss es irgendwie alarmiert haben. Es wehrt sich dagegen, entdeckt zu werden.“
„Wehrt sich vor Entdeckung, soso?“ Saskias Gesichtsausdruck begann, ins Maliziöse zu spielen. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich hier andere Sachen gegen Entdeckung sträuben!“ Sie ging in die Knie und hob die Ledermütze auf, die Beke beim Kampf verloren hatte. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, setzte sie sich die Mütze auf und schenkte mir ein süffisantes Lächeln.
„Ganz andere Sachen!“
Harald machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es ist diese Substanz, dieser Schleim! Er dringt in die Gehirne der Menschen ein und manipuliert sie!“
„Daran kann verdammt noch mal was dran sein! Ich habe das Zeug gesehen, unten an der Wasserleitung.“
„Genau!“ rief Harald aus. „Es sickert aus dem UFO in die Wasserversorgung. Von hier aus infiziert es die Menschen und verbreitet sich überall hin!“
Saskia stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Ihr glaubt wirklich daran, ja?“
Harald lächelte milde.
„Wenn Sie denken, dass wir völlig übergeschnappt sind, verstehe ich das. Aber ...“
Er machte eine Sprechpause, in der sein Lächeln von einer Sekunde zur nächsten verschwand. „Aber Sie haben nicht erlebt, was ich erlebt habe!“
Für einen Moment schaute er ihr tief in die Augen.
„Sie haben nicht erlebt, wie Sie plötzlich krank werden, Fieber bekommen und dass Ihr Verstand plötzlich anfängt, sich aus dem Staub zu machen. Sie haben nicht erlebt, wie Ihr eigener Hausarzt Sie in seine Praxis nimmt. Wo dann dieses Mädchen dort wartet.“
Er deutete auf Beke.
„Und wie der Arzt dann so eine komische Kanüle in Ihr Ohr führt und dieses ganze widerliche Zeug aus einem rausläuft. Wie denen da wohl irgendetwas daneben gegangen ist und Sie schlagartig wieder klar denken können und Sie begreifen, dass die beiden nichts Gutes mit Ihnen im Schilde führen und sie dem Doc eine Spritze in den Handrücken jagen und dann ganz schnell Reißaus nehmen.“
„Okay, okay. Sprechen Sie weiter bitte!“, sagte Saskia mit tonloser Stimme.
„Wie Sie dann zu Haus sitzen und wissen, dass das ganze Dorf hinter Ihnen her ist. Und das da etwas ist in Ihrem eigenen Kopf. Etwas, das wuchert und wuchert und immer stärker wird und plötzlich dieser Gedanke da ist: Bring dich um! Und dann – dann kam die Idee! Medikamente! Antibiotika! Sie schaufeln das Zeug in sich rein und können nur noch warten. Warten, wer gewinnt. Sie oder das Ding da in Ihrem Kopf!“
Ich legte meine Hand auf Saskias Schulter.
„Eine wilde Geschichte, ich weiß. Aber nach allem, was ich hier erlebt habe, müssen wir ihm einfach glauben!“
„Aber dieser Schleim, welche Bedeutung kann der ...“
„Er ist im Kopf, so viel weiß ich!“ Bei diesen Worten deutete Harald mit beiden Zeigefingern gleichzeitig auf seine Schläfen. „Keine Ahnung, was es ist! Aber ich habe da meine eigene kleine Theorie!“
Aufmunternd nickte ich ihm zu.
„Ich glaube, das Zeug besteht aus einzelnen Zellen oder so, die in den Körper eindringen, zum Gehirn wandern und sich dort mit den Nervenzellen vernetzen. Sie horchen das Gedächtnis ab und speichern das in ihrem eigenen Netzwerk. Aber sie können auch selber Befehle geben. Das, was sie lernen, nehmen sie mit, wenn sie den Körper verlassen. Sie können es anderen Schleimzellen übermitteln, wenn sie sich mit denen wieder verbinden.“
„Ziemlich weit hergeholt!“, unterbrach Saskia ihn.
„Wieso weit hergeholt? Sehen Sie das Mädchen da? Der Fummel, den sie anhat?“ Er deutete auf Beke, die anfing, sich auf dem Boden hin und her zu drehen, wobei sie die Augen jedoch geschlossen hielt.
„Straps, Ledermütze und so. Ich habe so ähnliche Sachen schon einmal gesehen. Vor ein paar Tagen. Hier! Auf Video! Der Schleim hat das in meinem Hirn herausgefunden. Und dann hat er das weitergegeben an andere Schleimzellen.“
„Heiß, ganz heiß!“, unterbrach ich ihn. „Die Menschen sind die Überträger für dieses Zeug. Aber nicht nur die. Auch die Tiere! Da draußen habe ich ein Kaninchen gesehen...“
„Kaninchen sind verdammt schnelle Tiere!“
Harald wandte sich wieder an Saskia. „Und dann wussten diese kleinen Schleimvicher: ‚Der Christoph, der steht auf Leder und so. Damit kriegen wir den um den Finger gewickelt. Und dann machen wir kurzen Prozess!’“
Er warf mir einen verlegenen Blick zu. „Ist Ihnen doch hoffentlich recht, wenn ich das so offen anspreche!“
„Spielt ja wohl keine Rolle mehr“, antwortete ich, wobei ich es angestrengt vermied, Saskia anzuschauen. „Aber Sie haben Recht. So wird es gewesen sein.“
Harald ließ sich in die Sofapolster sinken. „Und das ... das flößt mir ehrlich gesagt ein richtig mulmiges Gefühl ein!“
„Wie meinen Sie das?“
„Naja. Schleimzellen von irgendwo da draußen! Von jenseits der Erde. Und doch passgerecht zu menschlichen Hirnen – das kann nicht einfach so funktionieren. Da muss vorher endlos viel geforscht, experimentiert und gezüchtet werden.“
„Von wem? Was können das für ... Leute sein?“
Versonnen schaute er auf seine Hände.
„Dafür müssen wir tiefer gehen!“
*

Wir gruben an der Außenwand, dort wo nach unseren Berechnungen das Wasserrohr verlaufen musste. Nach einer halben Stunde, als das Erdloch eine Tiefe von ungefähr einundhalb Metern erreicht hatte, stieß Haralds Spaten auf etwas Metallisches. Nach weiteren fünfzehn Minuten hatten wir ungefähr einen Quadratmeter einer gewölbten Metallfläche freigelegt, die teilweise blau und violett verfärbt war – so als wäre sie großer Hitze ausgesetzt gewesen.
Hastig schob Harald mit dem Spaten noch mehr Erdreich beiseite. Dabei wurden Rohrleitungen, Kühlrippen und andere technische Einzelheiten sichtbar, die mir nichts sagten.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und deutete auf die Leitungen.
„Genau kann ich das natürlich nicht sagen, aber wenn Sie mich fragen: Das sieht aus, als würde es zu einem ganz normalen Düsen- oder Raketenantrieb gehören!“
„Und das heißt?“
„Damit kann man wohl kaum von einem Sonnensystem ins andere reisen.“
„Dann kommt es also von der Erde?“
„Entweder das – oder es ist nur ein Beiboot. Für den Flug in der Atmosphäre oder knapp darüber gedacht. Dann müsste es da draußen aber noch ein Mutterschiff geben!“
Er ging in die Knie, schob seine Hand in die bröckeligen Erdmassen und tastete an verschiedenen Stellen die Metallverkleidung ab.
„Hier! Da müssen wir ran. Könnte so eine Art Schott sein! Ich schau mal, ob es sich öffnen lässt. Am besten, Sie gehen raus aus dem Loch. Keine Ahnung, was uns erwartet!“
Nachdem ich aus der Grube gekrabbelt war, behielt ich weiterhin den knienden Harald im Blick, der im Begriff war, mit dem Spaten eine Art Klappe freizulegen. Ein paar Minuten später war er so weit, dass er sie öffnen konnte. In der Öffnung war es zu dunkel, als dass ich etwas erkennen konnte.
Mit einem Tempotaschentuch meine Hände wischend, trottete ich zur Terrassentür. Dort stand Saskia und beobachtete uns, wobei sie immer wieder einen Blick ins Wohnzimmer warf, wo sich Beke, die mittlerweile erwacht war, auf dem Boden sitzend an die Wand gelehnt hatte und ausdruckslos vor sich hin starrte.
Ich strich Saskia mit dem Finger über die Wange und küsste sie.
„Keine Angst, ich glaube, er weiß, was er tut!“
Nach einem weiteren Kuss wandte ich mich von ihr ab, ging zurück zur Grube und beugte mich über den Rand.
„Und? Was Neues?“
„Ich glaube, ich habe den Piloten entdeckt!“
„Und? Wie sieht er aus? Lebt er noch?“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Sieht eigentlich nicht nach Mensch aus! Sie sind kleiner als wir. Verdammt komische Gesichtszüge!“
„Darf ich dann bitte auch mal? Ist ja nicht gerade alltäglich, dass man ein Raumschiff von einem anderen Planeten findet!“
„Warten Sie bitte noch ein paar Minuten. Ich möchte erst einmal ... oh ...!“
„Was ist los?“
„Ich glaube, ich komme jetzt lieber raus!“
Durch den kleinen Spalt konnte ich erkennen, wie grelles Licht auf- und abblendete.
Dann setzte dieses unterirdische Geheule ein. Behände, mit einem Ausdruck deutlicher Panik im Gesicht, schlüpfte Harald durch die Öffnung und griff meine Hand, die ich ihm instinktiv gereicht hatte. Schnaufend kämpfte er sich aus dem Erdloch, packte mich am Oberarm und zog mich mit sich.
„Los, kommen Sie! Weg hier!“
Er ließ mich los und fing an, Saskia mit wedelnden Armen Zeichen zu geben, bis er sie nach ein paar Schritten erreicht hatte.
„Wir müssen hier verschwinden! Sofort!“
Während ich ihm folgte, drängte er Saskia ins Wohnzimmer. Dann fiel sein Blick auf Beke.
„Christoph, helfen Sie mir! Die muss natürlich mit. Wir nehmen die Haustür. Beeilung bitte!“
Wir zogen die junge Frau an den Armen hoch, bis sie auf eigenen Beinen stand. Sie wirkte sehr folgsam und benommen.
Wir rannten durch den Flur, Saskia riss die Haustür auf. Dann rannten wir durch die Gartentür auf den Feldweg. Wir rannten und rannten. Der Heulton aus dem Wrack gellte in unseren Ohren. Wir waren vom Haus ungefähr dreißig Meter entfernt, als sich Harald bäuchlings ins Gras neben den Trampelpfad warf und seinen Kopf mit den Armen bedeckte. Wir machten es ihm nach.
Die Explosion ließ meinen Körper mehrere Zentimeter in die Höhe hüpfen. Beim Aufprall wurden meine Rippen so gestaucht, dass mir für ein paar Sekunden die Luft wegblieb. Ich spürte, wie kleine Steine auf meinen Rücken prasselten. Direkt neben mir lag Saskia. Ihre Haare waren plötzlich voller Staub, aber sonst schien ihr nichts passiert zu sein. Sie wandte sich zu mir um und schaute mich mit ihren hübschen großen Augen an. Fragend. Geradezu bohrend. Aber besonders geschockt schien sie nicht zu sein.
Vorsichtig setzten wir uns auf und schauten in Richtung Haus. Alles, was wir sahen, war eine riesige dunkelgraue Staubwolke, die sich langsam in alle Richtungen ausbreitete.
„Was war das, Harald?“
„Wahrscheinlich irgend so ein Selbstvernichtungsmechanismus. Hätten wir eigentlich auch vorher drauf kommen können!“
„Meine Datsche!“, murmelte ich.
„Mein Auto!“, murmelte Saskia.
Kopfschüttelnd klopfte mir Harald auf die Schulter. „Tut mir echt Leid. Da werden Sie ne ganze Menge zu erklären haben!“
„Der Ausklang einer netten Landpartie!“ Bei diesen Worten gab Saskia Geräusche von sich, die sich durchaus als Ansatz eines Lachens deuten ließen. Ich fühlte mich unendlich erleichtert.
„Hmm! Ich glaube nicht, dass die Sache hier zu Ende ist!“, sagte Harald und schaute in den Himmel.
 

Amadis

Mitglied
Gefällt mir gut ...

... und erinnert mich etwas an Stephen King's "Tommyknockers". Ein paar Formulierungen fand ich etwas ... wie soll ich sagen ... fremdartig ... wie z.B. "einundhalb", aber vielleicht ist das irgendwie regional geprägt. Bei uns zumindest sagt man eineinhalb oder anderthalb. Schreit aber nach einer Fortsetzung
 
Hallo, Amadis

Tommyknockers? Hmm. Na ja, warum nicht? Ist ja immerhin das gute alte Invasionsthema. Und damit etwas völlig Neues und Unverwechselbares aufstellen zu wollen, ist schon ein wenig vermessen. Aber ich habe nun einmal eine Schwäche für das Thema. Besonders, wenn es Menschen wie du und ich sind, die sich der Bedrohung stellen müssen.
Speziell beim Punkt Bewusstseinsübernahme war es mein Ehrgeiz, Mechanismen zu entwickeln, die zumindest nicht im schreienden Gegensatz zur Naturwissenschaft stehen. Dabei bin ich auf neuronale Netze auf der Basis organischen Gewebes gekommen, die an fremde Hirne andocken und sich dann wieder auf die Socken machen können (der Gedanke stammt aus einer älteren Story, irgendwie ist der vorliegende Text also schon eine Fortsetzung, muss aber durchaus nicht die letzte sein).
Liest sich „einunhalb“ wirklich so exotisch für dich? Ich habe den Eindruck, dass es in Norddeutschland ziemlich häufig gebraucht wird. Aber du hast Recht: Meine Word-Korrekturfunktion akzeptiert nur „anderthalb“ – was für mich nun eher süddeutsch klingt.

Gruß Volker
 

jon

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Teammitglied
Schön was zum Schmökern!
Für mich als Sachse war die "norddeutsche Stimmung" sehr gut spürbar. Als zur Zeit Kurz-Text-Gewohnte dachte ich manchmal: „Na mach schon!“, aber es störte nicht wirklich. Wie gesagt: Schön zu schmökern und sehr sehr glaubwürdig…
 
Hallo, Jon!
Das „Na mach schon!“ ist mir bereits häufiger angekreidet worden, anscheinend sind meine Einstiege wirklich ein wenig verschlafen. Nun ist es mir aber wichtig, Atmosphäre zu schaffen und die Spannung langsam zu steigern. Ich habe für mich selber den Begriff „Hyänentexte“ geprägt. Hyänen sind Tiere mir imposanten Raubtierschädeln und ziemlich mickrigem Hinterteil, Hyänentexte sind eben solche, die stark anfangen und dann zunehmend versanden. Und so etwas selber zu verzapfen, ist meine kleine private Horrorvorstellung. Aber vielleicht finde ich ja irgendwann den Dreh, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Bis dahin

mit lieben Grüßen

Volker
 



 
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