Die Ketama Connection, Kapitel 4 (Teil 5)

Peter

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Er hatte gar nicht mitgekriegt, dass der glücklose Juri und der alte Josip, der Dorfkrämer in die Schänke gekommen waren. Sie saßen an der Theke. Juri, der seit Jahren Pech mit seinen Tieren hatte, lamentierte laut darüber, dass eine seiner Stuten krank war. Sie hatte Fieber. Das habe er fühlen können. Das Pferd lag apathisch im Stall. Juri klagte, dass es keinen Tierarzt in der Nähe gab. Und dass er ja sowieso kein Geld hatte, um einen Arzt zu bezahlen. Josip und Goran hörten ihm mitfühlend zu und trösteten ihn, indem Goran ihm Schnaps einschenkte, den Josip bezahlte, weil Juri wie üblich kein Geld hatte. Attila kannte den Krämer nur zu gut. Jetzt ein Tröster und Gönner, und bei nächster Gelegenheit Juris Richter. Er würde kein gutes Haar an Juri lassen, sobald sich in der Öffentlichkeit die Möglichkeit bot, über ihn herzuziehen.
Attila hatte auf dem Gestüt einen Arzt, der sich vorzüglich mit seinen Pferden auskannte. Viktor Milojevi?. Er hatte ihn zunächst als Kunden kennengelernt. Viktor ritt gerne, obwohl er schon die 70 überschritten haben musste, und Attila hatte zunächst Bedenken gehabt, ihm ein Pferd zu geben. Wegen seines Alters. Ein Reitunfall, eventuell mit Todesfolge, war das letzte gewesen, was er verantworten wollte. Als Attila versucht hatte, ihm das klarzumachen, war der Alte geradezu explodiert. Er, Viktor Milojevi? hätte schon geritten, als er, Attila Petrovi? noch ein Jucken im Sack seines Vaters gewesen wäre. Und so weiter und so weiter. Ein Riesenradau war das im Empfang gewesen. Also gut. Attila hatte es drauf ankommen lassen, es sich aber nicht nehmen lassen, selbst eine Stute für den rüstigen Senior auszusuchen. Dann hatte er ihn heimlich beim Reiten beobachtet. Und feststellen dürfen, dass Viktor es tatsächlich noch draufhatte. Sehr gut sogar. Als erfahrener Reiter hatte er die Stute mächtig gefordert, aber intuitiv ihre Grenzen erfasst und diese nicht überschritten.
Als er das nächste Mal kam, kriegte er ohne Theater die Stute, die er wünschte. Beim dritten oder vierten Besuch offenbarte er Attila, dass er Arzt von Beruf war. Er war schon im Ruhestand, wollte aber gerne auf dem Gestüt arbeiten. Weil er die Pferdchen einfach liebte. Attila ließ sich Viktors Angebot durch den Kopf gehen. Der alte Doktor forderte ein Salär, das weit unter dem Üblichen lag. Und er wollte einen Teil seines Festhonorars in Naturalien ausgezahlt haben: Freie Kost und Logis sowie die Erlaubnis, ein paar Mal pro Woche nach Lust und Laune reiten zu dürfen. Selbstverständlich würde das nicht zu einer Vernachlässigung seiner ärztlichen Pflichten oder zu einer Störung des Reitbetriebs führen, hatte er augenzwinkernd angefügt. Ausschlaggebend für seine Anstellung war aber nicht die Höhe des Honorars, sondern dass die Pferdchen großes Zutrauen zu ihm hatten und ihm, wie man so schön sagt, aus der Hand fraßen.
Von Viktor wusste Attila, wie man mit Krankheiten, vor allem mit den ansteckenden umzugehen hatte. Gelegentlich wurde ein Pferdchen von den anderen abgesondert, um den Rest des Bestands gesund zu halten. Als auf dem Hof die erste Isolierung erforderlich war und Attila mit finanziellen Einbußen über Wochen rechnen musste, hatte er sich von Viktor bis ins kleinste Detail erklären lassen, was aus seiner Sicht hygienisch und medizinisch notwendig war. Mit der Zeit war Attila selbst ein Experte auf diesem Gebiet geworden. Eines war ihm klar: Wenn Juri ein krankes Pferd im Stall hatte, dann sollte es ihn nicht wundern, wenn er demnächst über zwei kranke Stuten klagte.
Dann horchte er auf. Goran hatte Josip gerade nach dem Bürgermeister gefragt. Ob er immer noch krank war. Josip berichtete, dass der hochbetagte Dragan Ili? Gicht hätte und immer wieder starke Schmerzen. Dass er eher dem Ende als der Besserung entgegen ginge. Und dass er ihn regelmäßig besuchte und den ehrenwerten Bürgermeister über alles im Dorf auf dem Laufenden hielt. Wer konnte das auch besser tun als der geschwätzige Josip, dachte Attila verächtlich.
Die drei beachteten Attila nicht, der einige Meter weiter weg im Halbdunkel saß. Attila bemerkte, wie in ihm ein bis dahin unbekannter Ärger aufstieg. Er wunderte sich über darüber. Es hatte ihn sonst nie gestört, nicht dazu zu gehören. Warum fuchste es ihn plötzlich, dass Goran, Josip und Juri ihn nicht in ihre Gemeinschaft riefen? Prompt fiel ihm wieder ein, wie Goran sich ihm gegenüber benommen hatte, und er verglich Goran mit Herrmann. Der Österreicher war zwar manchmal plump und manchmal ironisch dahergekommen, aber immer freundlich und respektvoll geblieben. Absehen von der Sache mit der Zeitung. Aber das war auch in Ordnung, weil er Attila wertschätzte. Wie die meisten anderen Kunden übrigens auch. Wer dann und wann mal unverschämt wurde oder sich nicht an die Regeln auf dem Gestüt hielt, wurde von Attila einmal verwarnt. Selten, dass das nicht zog. Seine Angestellten liebten ihn förmlich. Er war für sie der „großen Attila“. Nicht nur, weil er sie gut bezahlte, sondern auch, weil er sich für sie einsetzte. Im Grunde behandelte er sie nicht anders als seine Kunden. Und da war sie wieder, diese Erkenntnis: Aus Kunden können Freunde werden!
Attila schenkte sich erneut ein. Seit er das Gestüt besaß, war er tagtäglich unter Menschen. Menschen, die er nicht verlieren wollte. Ganz gleich, ob es sich um Kunden oder Angestellte handelte. Und er begegnete ihnen so, dass sie auf der einen Seite Respekt vor ihm hatten und auf der anderen Seite nichts auf ihn kommen ließen. Er hatte sich so daran gewöhnt, der „große Attila“ zu sein, dass es ihn schmerzte, ausgeschlossen zu sein. Ihn kränkte. Und ihn gewaltig ärgerte. Wütend leerte er die Flasche.
Attila musste nicht mehr lange warten, bis Juri und Josip sich von Goran verabschiedeten. Kurz nachdem sie die Schänke verlassen hatten, erhob der Riese sich und schwankte zum Tresen rüber.
„Was willst du haben, Goran?“, fragte er mit schwerer Zunge.
Goran wienerte die Theke und fragte ohne aufzuschauen zurück:
„Ist die Flasche leer?“
„Ja.“
„Dann waren das sieben Gläser. Macht 10 Dinara und 50 Para.“
Attila legte 11 Dinara auf die Theke.
„Stimmt so.“
Goran blickte kurz auf und dann noch einmal länger. Der gleiche Blick wie um neun Uhr, als Attila die Schänke betreten hatte. Attila ließ Goran stehen und trat ins Freie.

*

Die frische Luft machte den Kopf frei und tat ihm gut. Attila genoss die Stille und spazierte bewusst langsam nach Hause. Er dachte schmerzlich an die Missachtung, die ihm in der Schänke widerfahren war. Und dass er sie überall im Dorf erleben würde, wenn er sich den Leuten aussetzte. Und er ließ sich durch den Kopf gehen, was Juri und Josip von sich gegeben hatten. Als er an einer Bank vorbeikam, setzte er sich.
Der altehrwürdige Dragan Ili? hörte durch Josip garantiert mehr über die Leute aus dem Dorf, als diese selbst über sich wussten. Im Grunde war Josip sein Mann. Wenn der im Dorf gut über ihn redete, dann glaubten man das. Ihm war klar, dass Josip die schlechten Nachrichten aufbauschte und die guten kleinredete oder ganz unter den Tisch fallen ließ. Gute Nachrichten mussten also schon sehr gut sein, damit wenigstens ein Teil von ihnen beim Bürgermeister ankam. Was musste man nicht alles anstellen, damit die Leute gut über einen redeten beziehungsweise damit Josip es tat? Und zwar aus Überzeugung? Und dann auch noch vor Dragan Ili?? Ihm fiel ein, dass aus Kunden Freunde werde konnten und er stöhnte auf. Wenn er den Respekt der Leute haben wollte, dann blieb ihm wohl nichts erspart. Er musste sie wie Kunden behandeln. Und Josip musste so ganz nebenbei mitkriegen, was Attila tat. In der Schänke. Einen besseren Ort gab es dafür nicht. Und wenn es der guten Nachrichten genug waren, dann würden sie auch Dragan erreichen.
Um den sabbernden Greis stand es dummerweise schlecht. Attilas Sache wäre es natürlich zuträglich, wenn der Bürgermeister es noch einige Monate lang machte. Zumindest noch so lange, bis man Attila auch im Dorf den „großen Attila“ nannte. Danach durfte der alte Narr gerne ins Gras beißen. Um den Platz für ihn freizumachen.
Und was Herrmann da prophezeit hatte: Sollten die Deutschen und die Italiener doch ruhig kommen. Er hatte in seinem großserbischen Herzen auch ein wenig Platz für Nazis und Faschisten, wenn es dem Geschäft diente. Und sie würden mit ihm serbisch reden. Schließlich wären sie seine Kunden und nicht umgekehrt.
Attila stand mühsam auf. Er hatte einen Plan und wankte zufrieden nach Hause.

*
 



 
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