Die Patella

Nordtext

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Steril und mit erhobenen Händen warteten sie auf den Mann im weißen Hemd. Sie würden ihn aufschneiden, um Titan-Schrauben und Drähte ins rechte Knie zu bohren. Ein glatter Querbruch der Patella, rechte Seite.

Sechs Augen starrten aus den grünen Kitteln auf das abgeklebte Rechteck auf dem Boden. Die forsche OP-Assistentin rollte den Instrumentenwagen heran und mit ihm das passende Besteck für den Einschnitt. Stahlzangen, Hebel und Messer, Spreizer, Pinzetten, Scheren und Skalpelle lagen da in allen Größen dicht nebeneinander, immer mit dem Kleinsten beginnend. Sie lechzten nach der Patella, wollten der Reihe nach ihren Einsatz leisten.

An den übrigen vier Tischen dröhnte, sirrte und schnappte es schon, als der Mann durch die Tür gerollt wurde. Er trug eine Haube auf dem Kopf, ein Schlauch steckte in seinem Mund, das rechte Knie noch bedeckt.

Sie verankerten die Lafette in der Säule. Dann hievten sie den massigen Körper in die richtige Position, ließen den Tisch auf- und abfahren und stellten die Lampen ein. Der Kopf mit der Haube verschwand hinter dem grünen Laken, das speckige Bein wurde angehoben und sogleich traten der Orthopäde und die OP-Schwester hinter die Linie, rieben es gleichmäßig mit der gelb-braunen Tinktur ein und klebten die anderen Körperteile mit grünen Tüchern ab.

Als nur noch das Knie aus dem Grün guckte, durfte die Praktikantin eintreten. „Komm näher“, sagte der Orthopäde unter dem Mundschutz und sie verbesserte ihre Position, damit alle sechs Augen eine freie Sicht auf das Knie hatten. „Hier, sieh her, hier ziehen wir den Schnitt, hier legen wir den gebrochenen Knochen frei, da kommen die Schrauben rein, hier die Drähte.“ Die Praktikantin nickte heftig mit dem Kopf. Sie konnte die Augen nicht von dem Knie wenden, das da sofort angeschnitten wurde. Geschult reichte die OP-Schwester die Instrumente. Der Orthopäde durchdrang die Haut, das Fettgewebe und legte endlich den geteilten Knochen frei.

Die Pupillen der Praktikantin weiteten sich, als sie die Patella sah. Sie war auf den Anblick nicht vorbereitet. Hektisch starrte sie von der Patella zum Orthopäden, zur Patella und wieder zurück. Er schien nichts zu merken von der Attrappe, die sie auf ihrem eigenen Tisch entkleidet hatten. Die Teile im Knie hatten mit dem Mann nichts zu tun, der hinter dem Vorhang lag. Es war der in zwei geteilte, gelbweiße Klumpen, der zuvor am hauseigenen Skelett gehangen hatte.

Vergeblich hasteten die Pupillen nun nach den Anästhesisten hinter dem Vorhang. Hatten sie den unverfrorenen Diebstahl entdeckt? War der Mann schon auf der Flucht und einzig die Kunst-Patella lag noch auf dem Tisch?

„Was die Bälger einem alles antun“, sagte der Orthopäde. „Wie bitte?“, die Praktikantin drehte ihren Kopf zurück zum Geschehen. „Er ist über ein Stoffnashorn in der Küche gestolpert. Jetzt liegt er bei uns.“ „Wie ärgerlich“, gab die Praktikantin zurück. In Gedanken lobte sie das Nashorn, das im Saal ihr einziger Zeuge der unverfälschten Patella wurde.
 



 
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