Die Sanduhr

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Xuscha

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Schnellen Schrittes eilte sie durch die Gänge des hellen, sauberen Krankenhauses. Sie durfte nicht zu spät kommen. Sie sagten, sie hätte nicht mehr lange Zeit, also verließ sie vorzeitig ihren Arbeitsplatz mit dem Risiko entlassen zu werden. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ihr Chef ihr häufiger vorkommendes vorzeitiges Gehen nicht mehr tolerieren würde, aber das war ihr egal, Hauptsache sie konnte bei ihr sein.
Ihr schneller Schritt beschleunigte sich und sie fing an zu laufen. Je mehr Zeit sie gewinnen konnte, desto besser.
An der Tür zu ihrem Zimmer machte sie Halt und kämpfte einige Sekunden lang mit den Tränen.
Nein! Nicht heute! Heute musste sie stark sein! Für sie!
Sie atmete tief ein und betrat das verdunkelte Zimmer. Nur eine einzige Kerze erleuchtete schwach den Raum, sowie die Vorhänge, welche das Sonnenlicht gering durchdringen ließen.
Leise betrat sie das Zimmer und schloss die Tür lautlos hinter sich. Stille, bis auf das Summen einer sausenden Fliege.
Sie benötigte einige Sekunden um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Und trotz des verdüsterten Zimmers erkannte sie ihre Tochter. Schwach, hilflos und zerbrechlich lag sie in der Decke eingehüllt in ihrem Bett. Sie war leichenblass und kalt. Zumindest ahnte sie es. Schon seit Wochen hatte sie keine Wärme mehr gespürt. Ihre Augen waren geschlossen. Sie schlief.
Ihr Brustkorb hob sich langsam auf und ab. Sie war nicht zu spät. Noch hatte sie Zeit.
Vorsichtig setzte sie sich an den Rand des Bettes. Ihr Körper warf, verursacht durch die Kerze, einen großen schwarzen Schatten. Mächtig. Unwirklich. Erschreckend.
Gleich darauf öffnete ihre Tochter die Augen. Dunkel. Finstere Augenränder. Wie bei Schädeln. Eine lebende Hülle. Und trotz ihrer fortgeschrittenen Leukämie lächelte sie ihre Mutter kraftlos an. Nur ein Wunder konnte sie jetzt noch retten.
"Mama…", flüsterte sie und durchbrach neben der umherschwirrenden Fliege die Stille. Sofort zeigte ihr altes Gesicht Fröhlichkeit und Glück. Erleichterung.
"Hallo, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?", fragte ihre Mutter liebevoll mit den Tränen kämpfend und nahm ihre Hand. Sie nickte.
Es schien als sei sie durch ihre Krankheit um Jahre gealtert. Ihre jungendliche Energie und Vitalität verlor sie schon lange bei dem Kampf gegen den Krebs. Dabei war sie erst 13 Jahre alt! Ein Kind! Und akzeptierte dennoch wie eine alte Frau ihren Tod. Noch so mancher Erwachsener würde bei dem Todesurteil weinen. Nicht aber sie. Sie war stark. Sie hatte es nicht verdient! Niemand verdiente dieses Schicksal!
Nun lag sie schwach, entkräftet und ihrer Energie beraubt und wartete auf ihr Ende. Es war schon sehr lange her, dass sie ein unbeschwertes Leben ohne den Krebs geführt hatten. Zu lange her.
Das Mädchen zog ihre Hand weg und betrachtete ihre goldene Kette, die einen kleinen zierlichen Sanduhr-Anhänger mit sich trug. Als sie die Diagnose Leukämie bekam wollte ihre Mutter ihr Leben einfacher und schöner gestalten, was sich in kleinen Aufmerksamkeiten ausdrückte. Ihre Tochter hatte schon lange von einer Sanduhrkette geschwärmt. Antrieb dazu hatte ihr ihr Vater gegeben. Er erklärte ihr jedes Mal wie kostbar, aber auch kurz, die Zeit sei und sie diese ausleben und genießen solle.
Das Durchrinnen des Sandes durch die winzige Öffnung glich einem schwachen Lichtstrahl, welcher zu früh erlosch, und erinnerte sie nun immer an die zu schnell vergangene, aber dennoch schöne Zeit mit ihrem Vater. Ab dem Zeitpunkt wurde es ihr wertvollster Besitz.
Ihre Mutter lächelte und sah sich im verdunkelten Zimmer um. Sie bemerkte all die Bücher auf dem Tisch. Die einzige Beschäftigung und Ablenkung, die ihre Tochter hatte. Der Blumenstrauß, der den traurigen Ort eigentlich verschönern sollte, war schon eine Woche alt. Nun hingen die verwelkten Blüten herab und verdüsterten die Stimmung. Wieder durchbrach die summende Fliege die Ruhe. Nervosität beherrschte die Frau. Hektisch stand sie auf um die Blumen fortzuwerfen. Sie wollte, dass es ihrer Tochter gut ging und das konnte nicht in der Atmosphäre von verwelkten Blumen geschehen.
"Mum, lass nur!", flehte ihre Tochter, die dieses Verhalten gewohnt war. Auch sie wollte, dass ihre Mutter sich entspannte. Oft gab sie sich die Schuld an deren Trauer und Verzweiflung, da deren Leben komplett auf sie ausgerichtet war, sodass ihre Mutter vergaß auf ihren eigenen Zustand zu achten.
Die Fliege begann um das Mädchen zu schwirren und flog anschließend zu ihrer Mutter. Genervt schlug sie um sich. In ihrer Hast warf sie die Vase aus Glas um, welche zu Scherben zerbrach. Sie hielt sich beide Hände vor den Mund und sagte verzweifelt, dass es ihr Leid täte.
"Beruhige dich. Es ist alles ok.", antwortete das Mädchen.
Ihre Mutter lächelte ihr schwach zu und ließ eine Krankenschwester kommen um die Scherben und das Wasser zu beseitigen. Danach setzte sie sich erneut aufs Bett.
Zitternd griff das Mädchen nach der Hand ihrer Mutter, welche ihr mit der anderen Hand übers Gesicht strich. Durch die Blässe glich das Mädchen einem Gespenst.
Langsam schlossen sich ihre Augen, woraufhin ihre Mutter große Kraft aufbringen musste nicht zusammenzubrechen. Sie war ihre Tochter! Ihr einziges Kind! Wieso musste es ihr genommen werden? So früh. So jung. So unschuldig.
"Schlaf ein wenig.", flüsterte die Frau mit brüchiger Stimme und ließ es zu, dass eine Träne über ihr Gesicht rollte.
Die Atmung ihrer Tochter wurde flacher und flacher, doch sie blieb ruhig und hielt ihre Augen geschlossen. Gefangen in einem endlosen Traum.
Anschließend hörte das Kind auf zu atmen und trat, wie die Frau hoffte, eine Reise zu einem besseren, gerechteren Ort an. Ein Ort ohne Leid und Verluste. Ein Paradies.
Und es schien sich zu bewahrheiten. Zumindest wirkte es, als sei die Seele ihrer Tochter ruhig und friedlich gegangen. Nun sorglos und frei in den unendlichen Weiten des Universums.
Zurück blieb nur ihre leere Hülle. Und die Leere in den Herzen derer, die sie zurückgelassen hat.
Lange Zeit saß die Frau nun bei ihrer Tochter, klammerte sich an ihre kleine kühle Hand und ließ ihrer Trauer freien Lauf. Die Zeit verging wie Sekunden. Sie vergaß all die Krankenschwestern und Ärzte, welche sich nach ihr erkundigten. Sie vergaß ihre Wut auf die Ungerechtigkeit der Natur. Sie vergaß ihre Trauer. Sie vergaß ihre Gefühle.
Minutenlang betrachtete sie die Kerze. Es war nicht richtig.
Taub und benommen stand sie auf und schlenderte zu dem Licht, beugte sich träge herunter zum Tisch, auf dem die Kerze platziert war, und blies sie mit einem Atemhauch aus.
Anschließend glitt die Frau wie ein Geist langsam über den Boden aus dem dunklen Zimmer über die hellen Gänge in die Eingangshalle, wo sie zwei Frauen bemerkte, welche miteinander lachten. Eine von ihnen hielt in ihren Armen ein Neugeborenes in einer blauen Decke umwickelt. Sie beugte ihren Kopf lächelnd zum Baby und küsste es auf die Stirn.
Sie war glücklich, hatte einen Lebenssinn. Ihre Augen strahlten heller den je vor Mutterglück, während das Leuchten in den Augen der anderen Frau langsam verblasste, bis es endgültig starb.
 

nananuk

Mitglied
Hallo Xuscha,

ein wirklich berührende Geschichte, die das ans Licht zieht, was die meisten Leute am liebsten verdrängen. Auf alle Fälle hat sie mich mal wieder zum Nachdenken gebracht und mir Augen gehalten, dass das Schicksal blind ist. Ich wünsche mir, dass du es nicht selbst erlebt hast, weil du die Geschichte so real geschildert hast...

Lieben Gruß, nananuk
 
Hallo Xuscha,

eine unglaublich traurige, aber wirklich berührende Geschichte, die Du mit viel Einfühlungsvermögen und gleichzeitig scheinbarer Leichtigkeit beschrieben hast! Beim Lesen hatte ich einen richtigen Knoten im Hals.
Eine einzige Kleinigkeit: Achte ein bisschen besser auf Deine Kommastellungen bzw. oft fehlen welche, wo welche hingehören.

Beste Grüße und weiter so,
sternschwester
 



 
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