Die fliegende Großmutter

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Stierfrau

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Ein Märchen


Zu Zeiten, als die Menschen noch an Wunder glaubten, lag in einem kleinen Dorf eine Großmutter des Abends im Bett und wünschte sich etwas. Einen Zentner Leichtigkeit hätte sie gern.
Nicht, weil sie etwas rundlicher geworden war, damit hatte sie sich abgefunden, und das Rundliche füllte ja auch einige Fältchen frisch auf. Sie hatte vielmehr das Gefühl, vieles sei so schwer geworden, dass sie es nicht mehr tragen könne.
Die Großmutter schloss also die Augen, dachte ihren Wunsch und nebenbei gleich noch so einiges anderes und schlief darüber ein.
Denken ist ja auch eine anstrengende Angelegenheit.

Als sie des Morgens erwachte, schwebte sie über dem Kirchturm.
Ein Zentner Leichtigkeit war wohl doch zu viel.
"Herjeh", flüsterte sie. "Das ist ja nun freilich ziemlich hoch. Aber, was soll´s. Bleibe ich halt hier schweben und sehe mir die Welt von oben an." Was sie dort jedoch alles sah – erquicklich war es nicht in jedem Fall und ihr wurde bange.
Flugs war alle Leichtigkeit dahin, und die Großmutter plumpste in den Kirchgarten.
Da lag sie nun mit schmerzenden Gliedern und schmutzigen Kleidern, und alles war so schwer als wie zuvor.
Plötzlich erschien ein kleines grünes Männlein und sprach zu ihr, dass sie, den klassischen Wunschregeln zufolge, noch zwei Wünsche frei hätte.
Aber die Großmutter murmelte vor sich hin, dass sie vom Wünschen jetzt gehörig die Nase voll hätte und erst einmal in die Badewanne wolle, samt ihres Schlafkleides, welches am helllichten Morgen nicht nur unangemessen, sondern auch verdreckt war. Was sollten denn die Leute denken!
Voller Schmerz und Schmach humpelte sie von dannen, nicht ohne vor sich hin zu tottern, wie naiv es doch gewesen sei, einem Wunsch zu vertrauen.
Endlich in der Wanne liegend genoss sie die Tragkraft des Wassers und beschloss, dies jetzt immer dann zu tun, wenn das Leben ihr wieder einmal zu schwer würde. Wenigstens hier hätte sie ihre gewünschte Leichtigkeit.
Ach, wäre es doch immer so einfach, dachte sie. Und blitzsauber und duftend wäre man noch dazu.

Nach einer Weile sah die Großmutter zufällig in den Spiegel und war überrascht. So blitzsauber und duftend sah sie fast so hübsch aus, wie in jungen Jahren. Nur die Hände waren ein wenig schrumpelig vom häufigen Baden. Sie fühlte sich frisch und kräftig, und erinnerte sich an frühere Zeiten. Ihr größter Wunsch war es damals, eine Klavierspielerin zu werden. Doch zu viel Schweres in ihrem Leben hatte sie bisher gehindert, sich diesen Wunsch erfüllen zu können.
"In der Badewanne hat es ja nun ab und an mit der Leichtigkeit geklappt", brabbelte sie vor sich hin. "Das ist doch aber kein Dauerzustand, nachher verschrumpele ich noch vollständig. Da muss etwas anderes her, damit es in meinem Leben leichter wird." Und sie dachte nach.
Sich einfach nur etwas zu wünschen hatte sich als untauglich erwiesen, und so beschloss sie, sich einen Ballon zu bauen. Vielleicht würde in der Luft alles leichter, hoffte sie, arbeitete wie gewohnt fleißig und gründlich, holte sogar Rat bei berühmten Ballonbauern ein, und nach wenigen Wochen war es vollbracht.

Ein wunderschöner Ballon in zauberhaften Farben mit einem sehr großen Korb war es geworden, denn unsere zukünftige Klavierspielerin war sich nicht sicher, wie lange sie unterwegs sein würde, und hatte Mengen an Proviant und ein Kleiderbündel eingepackt.
Ein extra leichtes Klavier war auch mit an Bord, außen hingen die Sandsäcke, der Ballon war gefüllt, die Reise konnte losgehen.
Doch nichts rührte sich. Sie warf noch ein wenig Ballast ab. Auch das half nicht. Der Ballon schien am Boden zu kleben.
Unruhig wanderte die Großmutter im Korb umher, rechnete alles noch einmal im Kopf nach, aber sie konnte keinen Fehler finden.

Im Korb jedoch gab es ein Durcheinander. Aus ihrem Proviantpaket waren kleine Figuren herausgepurzelt, die heftig lamentierten.
Eine kleine schwarze war auf ihre Schulter geflogen und flüsterte in ihr linkes Ohr: "Du siehst traurig aus. Deshalb bin ich ganz dicht bei Dir. Das wird wohl nichts mit dem Fliegen, oder?"
Unserer Großmutter stiegen die Tränen in die Augen, und sie nickte.
Am Boden des Korbes sprang das kleine grüne Männchen herum, das ihr nach dem Sturz vom Kirchturm die Erfüllung weiterer Wünsche angeboten hatte. Wütend brüllte es die Schwarze an: "Du schon wieder, mit deinem ewigen Geheule. Halt doch endlich mal die Klappe. Hilf lieber, das lahme Ding hier flott zu machen, damit wir endlich aus diesem Kaff herauskommen!" Die Großmutter wollte sich ob der Streiterei die Ohren zuhalten, aber da erklang eine zauberhaft zarte Melodie rechts von ihr. Sie sah genauer hin und erblickte ein fröhliches, lilafarben leuchtendes Mädelchen, das umher sprang und sich sichtbar freute. Die Großmutter wunderte in diesem Moment gar nichts mehr, und trotz des Kuddelmuddels und des bisherigen Misserfolges war sie froh, wenigstens nicht allein zu sein in ihrem Kummer und mit all der Schwere, die immer stärker wurde.

Das fröhliche Mädel sprang auf ihren Kopf und rief von oben herunter :"Was ist denn hier los? Das ist ja toll, ein herrlicher Ballon, eine freundliche, fleißige Dame sogar mit einem Klavier, und wir drei Freunde zusammen an Bord. Was für ein herrlicher Tag."
"Das ist die Fee Mariposa," erklärte die kleine Schwarze. "Die freut sich immer, egal was ist, und kann natürlich zaubern. Ich bin eine Fledermaus, ohne einen Namen allerdings, obwohl ich mir so sehr einen wünsche. Ich kenne mich sehr gut mit der Dunkelheit aus, und kann dir helfen, wenn es mal wieder zu düster für dich wird. Der kleine wütende Grüne ist der Kobold Kasimir. Stinksauer allerdings, weil sich niemand mehr von ihm Wünsche erfüllen lassen will. Nun will er es auf Biegen und Brechen ohne Auftrag bei dir versuchen, weil er deinen Wunsch ja schon kennt und hofft, dass du ihn nach Wunscherfüllung seinem jetzigen, total langweiligen Herrn abkaufen wirst. Wir drei arbeiten in schwierigen Fällen immer zusammen. Zu dritt sind wir unschlagbar. Deshalb sind wir heimlich zu Dir an Bord gestiegen."
"Aha", dachte unsere Ballonbauerin. "Ich bin also ein schwieriger Fall. Aber auf die komische schwermütige Fledermaus und den wütenden Kobold könnte ich schon verzichten. Die machen den Ballon auch nicht leichter, ich werfe sie einfach über Bord und behalte nur die kleine lilafarbene Fee, die kann immerhin zaubern."

Plötzlich bemerkte sie, dass ihr Kleiderbündel sich bewegte. Die drei Freunde gingen in Habachtstellung und die Großmutter erschrak, denn die Figuren, die sich da herausschälten, erschienen ihr riesengroß.
Ihr wurde kalt und ihr Herz zog sich zusammen, irgendwie kam sie sich plötzlich viel kleiner vor und musste sich setzen, so zog es sie nach unten.
Eine großer, gutaussehender, kräftiger Mann trat auf sie zu und wollte sie umarmen, wie um sie zu trösten. Die kleine schwarze Fledermaus flüsterte ihr jedoch zu, dass sie vorsichtig sein solle, der Kobold trat dem Mann vor das Schienbein, und die Fee streichelte der Großmutter die Wange.
"Was tut ihr da, ihr hässlichen Zwerge?" sprach der Mann. "Seht ihr nicht, wie schön, klug und gut ich bin? Ich will sie doch nur trösten, weil sie wieder einmal nicht geschafft hat, was sie tun wollte. Die ist einfach ein faules Stück. Deshalb bin ich jetzt da. Ich werde sie antreiben, das braucht die."
Da sprang die Fee auf den Rand des Korbes und rief: "Wer bist du eigentlich? Siehst du denn nicht, wie wunderschön sie diesen Ballon gebaut hat? Ganz allein hat sie das geschafft, du dagegen hast nichts getan außer dich an Bord zu schleichen, auf ihre Kosten mitzufliegen und sie schlecht zu machen. Ich kenne Dich. Du bist die Boshaftigkeit. Hau einfach ab."
Der Mann jedoch sprach : "Das muss sie mir schon selbst sagen. Ohne mich ist sie eh nichts wert. Liegt nur faul herum. Du siehst doch, wie klein und schwach sie ist."
Nun aber sprang der Kobold auf, packte die ängstliche Großmutter bei der Hand und rief: "Es ist Zeit. Steh auf, wir packen den Kerl und werfen ihn über Bord. Alle zusammen schaffen wir das bestimmt." Wie durch ein Wunder gewannen sie alle an Größe und Stärke und schubsten und zerrten den Boshaften aus dem Korb hinaus. Der Ballon erhob sich ein wenig, mindestens jedoch so hoch, dass der Mann nicht mehr zurückklettern konnte.
Die Großmutter schaute ihm hinterher und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Anstrengend war es schon gewesen, doch sie fühlte sich ein wenig leichter.

Da berührte sie etwas von hinten. Sie drehte sich um und sah eine kräftige, schwarze Figur. Wie eine große Hexe sah sie aus, und ihre Stimme war hässlich kalt.
"Na, das war ja klar", sprach diese zu ihr. "Ich wusste es immer. Du bist eh zu nichts nütze. Ein Glück, dass wir dich früh genug aus dem Nest gestoßen haben. Und nun dachtest du, du könntest uns entkommen? Mit einem lächerlichen Ballon, der nicht richtig fliegen kann? Niemals schaffst du das. Wir sind schwer genug, dich am Boden zu halten. Uns wirst Du nicht los". Sie lachte hämisch, trat ein kleines graues Männchen, das auf dem Boden kauerte, um Zustimmung heischend mit der Fußspitze, und drückte unser Mütterlein auf den Boden des Ballons.
Das kleine Männchen nickte und sah starr vor sich hin. Es war ein Schöngeist, und so immer nur mit sich und seiner Welt beschäftigt.
Die Großmutter jedoch wurde immer kleiner, und der Ballon senkte sich wieder zur Erde hinab.

Da aber wurde es den kleinen Freunden zu bunt, sie stürzten sich auf die düstere Gestalt. Die Fee hatte ein Seil gefunden und fesselte sie, die Fledermaus krallte sich in den Haaren der schwarzen Unholdin fest und zerrte sie vom Boden des Korbes immer weiter in die Höhe. Der Kobold verpasste ihr einen Tritt, so dass sie wie ein Stein auf die Wiese fiel, von der aus der Ballon gestartet war. Dieser stieg plötzlich in die Luft. Das kleine graue Männchen warfen die mutigen Ballonfahrer schnell noch hinterher. Es hatte eh nichts von all dem mitbekommen, weil es sich für nichts anderes, als für sich selbst interessierte.

Die Großmutter aber hatte ihre Größe wiedergefunden und schaute den verschwundenen drei Gestalten ungläubig hinterher. Die kleinen Helfer hopsten allesamt stolz im Korb umher, selbst die Fledermaus lächelte leise, und die Fee kriegte sich nicht mehr ein vor Freude.
Sie genossen bei strahlendem Sonnenschein gemeinsam einen herrlichen Flug, begleitet von etwas zaghafter Klaviermusik.
Und ich wollte die Kleinen aus dem Korb schmeißen, dachte die Klavierspielerin.
Eine kleine schwarze, traurige Fledermaus ohne Namen, ein wütender grüner Kobold namens Kasimir und die immer fröhliche lilafarbene Fee Mariposa hatten ihr zu mehr Leichtigkeit verholfen und das Schwere über Bord geworfen.
Wie, als könne sie Gedanken lesen rief Mariposa: "Na, du warst doch auch dabei. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft. Boshaftigkeit, Kälte und Gleichgültigkeit sind schwer loszuwerden. Die brauchen dich nämlich, um existieren zu können. Ich hoffe, sie sind nun aus deinem Leben verschwunden. Wenn du möchtest, bleiben wir noch eine Weile bei dir. Vorsichtshalber sozusagen."

Da freute sich die Großmutter sehr und nickte voller Begeisterung, denn irgendwie waren die Kleinen ihr schon ans Herz gewachsen. Mit ihnen war das Schwere wie weggeblasen.
Zwei Dinge jedoch hatte sie nicht vergessen. Erstens versprach sie dem Kobold Kasimir, dass sie ihn seinem Besitzer abkaufen würde. Der kleine Grüne sprang ihr um den Hals und biss sie vor Freude ins Ohr.
Als Zweites hatte sie sich einen Namen für die Fledermaus ausgedacht. "Wie wäre es, wenn du Lili heißen würdest?", fragte sie die Kleine, die daraufhin ihrerseits in Tränen ausbrach. So lange hatte sie sich nach einem Namen gesehnt. Nun hatte sie einen wunderschönen geschenkt bekommen. "Das sind jetzt aber für eine Weile die letzten Tränen!", rief die Fee Mariposa fröhlich. "Lasst uns lieber Namenstag feiern, so richtig mit Tschingederassabumm und so." Das taten sie dann auch, laut und mit vielen schiefen Tönen. Es war herrlich.

Am Ende dieses Tages stand die frischgebackene Klavierspielerin im Korb des Ballons, sah über das Land und dachte nichts. Sie genoss die Leichtigkeit und flog mit neuen Begleitern und ihrem kleinen Klavier selig weiter, lächelnd, ein wenig ängstlich, ein wenig traurig, aber im Grunde frohgemut.
Irgendwann würden sie landen, das jedoch wird der Beginn eines neuen Märchens sein.

Ganz fern höre ich gerade die Fee Mariposa säuseln, dass sie heimlich ab und an ein wenig lila Feenstaub über das Ganze gestreut hat. Nun denn, das darf sie wohl. Sie ist ja schließlich eine Fee.
 



 
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