Die fliegende Untertasse landete um 16:45 Uhr auf der Brühlschen Terrasse

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die fliegende Untertasse landete um 16:45 Uhr auf der Brühlschen Terrasse in Dresden. Die Passanten staunten ein wenig, als sie
erschien, sie landete – nachdem sie eine Weile am Geländer entlanggeflogen war, (dem, in welchem August der Starke seinen
Daumenabdruck hinterlassen hatte,) – auf einer Parkbank. Sie war gerade so groß, wie Untertassen zu sein pflegen. Und sie wurde
kaum beachtet. Ich rückte ein wenig, als sie neben mir landete und las weiter. Doch war da das seltsame Gefühl, beobachtet zu
werden. Ich blickte zur Seite, da stand die Untertasse auf der Parkbank, man sah noch die Reste von eingetrocknetem Kaffee auf
dem Porzellan. Vor mir hatte sich ein Menschenauflauf gebildet, alle blickten mich an. Mir war unbehaglich zumute. Hier bin ich und
was soll das alles überhaupt. Ich wollte aufstehen, aber fühlte mich gelähmt. Vielleicht träumte ich. Ich nahm die Untertasse und
steckte sie in meinen Aktenkoffer, den ich mithatte, ich konnte wieder gehen. Die Krawatte wurde mir eng, und ich begann zu
schwitzen. Die Passanten blickten mich an, als sei ich Beelzebub persönlich. Und ich fühlte mich auch so. Ich wartete nicht länger auf
meine Frau und ging los. Ich lief die Terrasse hinunter, am Fürstenzug und an der Frauenkirche vorbei und kam an das
Polizeipräsidium. Hinter mir hatte sich eine Schlange gebildet, alle folgten mir. Alle folgten mir. Realitätsverlust. Es herrschte eine
Stimmung wie in einem Horrorfilm. Der Himmel hatte sich braun gefärbt, ebenso, wie das Wasser der Elbe, es war ein eigenartiges
Rostbraun, ich besitze ein Foto. Das Polizeipräsidium flimmerte, es verschwamm in der Luft, es löste sich auf. Die Nuancen der Farben
des Himmels erinnerten mich an Schokoladenpudding, und so schmeckte der Himmel auch. Ich holte die Untertasse aus der Tasche,
handelte unter Zwang. Ich stellte sie auf die Straße und mich davor. Ich hatte Angst, fühlte mich wie bei meinem ersten
Bewerbungsgespräch nach der Wende – Schweiß strömte unter meinen Achseln hervor, das Hemd klebte am Körper, und der Wind
hatte aufgehört zu blasen. Ich wollte fortrennen, aber es gelang mir nicht. Langsam begriff ich: das war die Begegnung. Die
Untertasse nahm von mir Besitz, ich sah, wie sie in der Mitte auseinanderklappte. Ein Reporter der »Dresdner Morgenpost«
fotografierte, die restliche Menschenmenge klebte auf dem Pflaster fast bewegungslos, so schien es mir, und bewegte sich mit endlos
langsamen Bewegungen, die Untertasse aber wuchs. Ich stieg ein und traf Herrn Huber, er wartete schon auf mich.
»Haben Sie schon die Steuererklärung abgegeben?«
»Was? Steuererklärung, was soll das, was wollen Sie eigentlich von mir? Wo bin ich?«
Herr Huber antwortete nicht, sondern er begann sich aufzulösen.
Die Untertasse wuchs und wurde größer und meine Bewegungen wurden zäher und zäher, ich klebte in einer Luft von Honig fest, und
meine Lunge klebte und ich mußte husten und Herr Huber hustete und wurde durchsichtig und verschwand, ich hörte ihn noch einige
Zeit husten.
Mir war schlecht, ich löste die Krawatte, ich zog mein Hemd aus, ich versuchte zu atmen, etwas verstopte meine Bronchien, ich hustete
krampfhaft.
Ich erreichte einen Zustand der Euphorie, schwebte über den Dingen.
Dann verlor ich das Bewußtsein.
Ich erwachte auf einer Bank vor dem Italienischen Dörfchen, einer bekannten Dresdner Gaststätte. Es herrschte Hochbetrieb, und
das war sonderbar. Schwach erinnerte ich mich, diese Gaststätte war seit einigen Jahren geschlossen und sollte privatisiert werden.
Aber es gab ewige Streitereien um den neuen Eigentümer, und so war sie fast zerfallen. Nun aber herrschte Hochbetrieb. Ich lag auf
der Bank, ich streckte mich etwas, ich stand auf, niemand beachtete mich, niemand schien mich zu beachten. Neben der Gaststätte
hingen Werbeplakate: Superqualität Superpreis Supersuppen – heute Verkostung kostenlos. Ich ging hinein, setzte mich an einen der
Tische. Hier waren wir immer mit dem Jugendklub, damals in den siebziger Jahren.
 



 
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