Dunkelheit

Anonym

Gast
An die Stunden vor meinem entgültigen Erwachen erinnere ich mich nur schemenhaft. Ich öffnete die Augen, doch sah ich nichts außer verschwommenen Konturen, wagen Umrissen und undeutlichen Schatten. Bevor ich mir meiner bewusst werden konnte, war ich bereits wieder in einen traumlosen Schlaf gefallen. Ich kam erneut zu mir, doch glich mein Zustand eher einem Delirium als einem wachen Moment. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an diesen Fieberwahn.
Ich lag bäuchlings und spürte den harten, kalten Stein auf meiner Haut. Mein Haar war strähnig und feucht und klebte in meiner Stirn und in meinem Nacken.
So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich nicht bewegen. Mein Körper schien wie mit Blei übergossen. Nicht einmal meinen Kopf war ich imstande zu heben.
Irgendwo, nicht allzu weit entfernt von mir, gab es eine Lichtquelle, die flackernde Schatten gegen die felsigen Wände warf.
Und ich hörte Menschen. Es müssen Mehrere gewesen sein, denn während der kurzen Gelegenheiten, die mir blieben, um etwas über meine Umgebung herauszufinden, hörte ich verschiedene Stimmen in einer Sprache sprechen, die ich nicht verstand.
An diese Dinge erinnere ich mich. Zu meinem Bedauern sind dies allerdings auch die einzigen Dinge, an die ich mich überhaupt erinnern kann. Der Rest meines Gedächtnisses muss auf dem Weg zu dieser Zelle verloren gegangen sein.
Denn genau das war es. Eine Zelle.
Ich muss wohl bereits mehrere Tage dort gelegen haben, denn als ich erwachte, und diesmal wach blieb, bemerkte ich höllische Gliederschmerzen. Ich kam langsam zu mir, richtete mich auf und sah mich um. Nicht, dass es in dem kleinen, kargen Raum etwas zu sehen gegeben hätte, ich suchte einfach nach etwas Vertrautem, etwas, das mir ein Gefühl der Sicherheit gab. Doch ich fand nichts dergleichen. Und ich stellte entsetzt fest, dass ich nicht nur nicht wusste, wo ich war, sondern auch, wer ich war. Ich wurde hektisch und panisch und rief nach jemandem, doch ich bekam nur fremdländische Worte zugerufen, die mir bedeuteten, Ruhe zu geben. Also saß ich da, halb nackt, verwahrlost, verzweifelt, in diesem kleinen Raum aus kaltem, feuchtem Stein, mit den rissigen Wänden und den Gitterstäben und versuchte, mich an irgendetwas zu erinnern, doch meine Gedanken waren wirr. Da ich noch immer an einer Art Fieber zu leiden schien, legte ich mich die meiste Zeit hin, damit der kalte Steinboden meinen Körper kühlen konnte.
Niemand schenkte mir besondere Aufmerksamkeit oder sprach gar mit mir, auch in meinen Gedanken fand ich keine Erklärung für die Lage, in der ich mich befand. Mir blieb also nichts weiter übrig, als die langen Tage und Nächte schlafend oder wartend zu verbringen. Morgens und Abends kam ein dunkelhäutiger Mann mittleren Alters und brachte mir zu Essen und zu Trinken. Ich fragte mich ernsthaft, welches Verbrechen ich begangen haben musste, um in diesem Höllenloch zu landen, doch die Antworten blieben aus.
Nach ein paar Tagen hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war ich schon hier gefangen? Tage? Wochen? Monate gar? Mein Haar reichte mir mittlerweile bis zu den Schultern und ich hatte keine Möglichkeit, meinen immer dichter werdenden Bart zu stutzen. Waschen konnte ich mich ebenfalls nicht, und meine Haut war schmutzig und klebrig vom Schweiß der schwülen Nächte.
Manchmal hörte ich geschäftiges Treiben nicht allzu weit entfernt, manchmal kam es vor, dass das einzige Geräusch, das die Stille um mich herum zerschnitt, das monotone tropfen des Wassers aus einer undichten Stelle der felsigen Decke war. Einmal kroch ich auf eine Pfütze zu, die sich auf dem unebenen Boden gebildet hatte, und versuchte, mein Spiegelbild darin zu erkennen. Ich dachte, der Anblick meines Gesichts könne mir vielleicht dabei helfen, mich an etwas zu erinnern, denn auch nach der schier endlosen Zeit in dieser Gefangenschaft blieb meine Vergangenheit, mein Ursprung, im Unklaren. Doch als ich mein Antlitz im Wasser betrachtete, kam keine plötzliche Erkenntnis, kein Blitz der Erinnerung. Ich sah nur in das traurige, verwahrloste Gesicht eines jungen Mannes, dessen braunes, zotteliges Haar ihm in die Stirn hing. Und obwohl der Großteil seiner Züge von einem dichten, ungepflegten Bart verborgen blieben, erkannte man doch die zarte Struktur seines Gesichts und die großen, wachen Augen, die in einem lebhaften braun funkelten. Gestutzt und gewaschen wäre dies ein durchaus ansprechendes Gesicht, doch es war das Gesicht eines Fremden. Keine Erkenntnis. Keine Erinnerung. Nur Enttäuschung und wachsendes Elend waren es, die mir dieser Anblick mitteilte.
Als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, und meine Verzweiflung einem wachsendem Irrsinn glich, öffnete sich endlich meine Zelle.
Mein schwacher, abgemagerter Körper wurde von zwei breitschultrigen, dunklen Hünen festgehalten, die mich durch einen schmalen Gang brachten, sandsteinfarbene Felsstufen hinauf, in einen Raum, ähnlich meines vorigen Quartiers. Die steinernen Wände waren derart uneben, dass es eher einer Mine als einem Gebäude zu gleichen schien. Doch ich hatte noch immer keine klare Vorstellung davon, wo ich war, noch, wie ich hier herkommen bin. Im Gegensatz zu meiner blassen Haut besaß der Teint meiner Peiniger eine bronzene Färbung, und ihre Sprache war mir fremd. Was immer auch passiert war, ich gehörte hier nicht her, doch diese Männer machten keine Anstalten, mich aus den Augen zu lassen, als sei ich ein Verbrecher. Mit einem groben Ruck wurde ich meiner zerrissenen Lumpen beraubt und ich schrak auf, als mich einer der Männer mit einem kalten Strahl Wasser abspritzte, bis ich zitternd und bebend die Arme um meinen Körper schlang. Meine Glieder wurden unsanft gewaschen und anschließend setzte man mich, nackt wie ich war, auf einen kleinen, hölzernen Stuhl. Trotz des stickigen, schwülen Klimas bebte ich vor Kälte, als ein weiterer Mann an mich herantrat und mein Haar, das während meiner Gefangenschaft eine stattliche Länge erreicht hatte, abschnitt. Mit einer scharfen Klinge wurde mir auch der Bart abrasiert. Ich war wie gelähmt und konnte keinen ruhigen Gedanken fassen, ich lies die Prozedur einfach über mich ergehen. Und auch wenn man mich grob anfasste, mich stieß und nach mir griff, war ich froh, seit langem wieder sauber zu sein und annähernd zivilisiert auszusehen. Mit dem verfilzten Haar und dem krausen Bart glich ich eher einem Eremit als einem... doch ich konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Wieder wurde ich unsanft gepackt, und unter fremdländischen Anweisungen aus dem Raum gebracht. Man steckte mich in Hemd und Hosen, die mir viel zu groß waren, aber im Gegensatz zu meiner vorigen Bekleidung nicht dreckigen, zerfledderten Lumpen glichen. Wieder ging es Treppenstufen hinauf. Meine nackten Füße schürften über den rauen Steinboden, als wir immer weiter hinaufstiegen. Es wurde heller, und ich vernahm Geräusche, die von außerhalb kommen mussten. Der Klang des Windes, der an Mauern vorbeipfiff, das Rauschen des Meeres, und Vogelgeschrei. Ein Wall von Hoffnung keimte in mir auf, denn ich glaubte, man würde mich feilassen. Ich würde hier herauskommen! Nach - wie lange? Wochen, Monaten der Einkerkerung endlich die Freiheit! Wir gingen weiter hinauf, das Sonnenlicht war nun unverkennbar und warf scharfe Schatten gegen die Wände. Mein Herz schlug schneller, mein Atem beschleunigte sich und mein ausgemergelter Körper wartete mit ungeahnten Kräften auf, als wir uns immer schneller dem Ausgang näherten. Ich würde nach Hause kommen, ich würde meine Familie und meine Freunde wiedersehen, und ich würde mich wieder erinnern! Wir traten hinaus, und die frische Meeresluft warf mich fast um. Was für ein Unterschied zur stickigen Zelle! Das Sonnenlicht blendete meine Augen, und ich kniff sie schmerzerfüllt zusammen. Mit geschlossenen Augen wurde ich weitergeführt, und meine Füße spürten warmen, körnigen Sand. Ich öffnete meine schmerzenden Augen und blickte mich hektisch und euphorisch um. Ich sah das Meer, weit und blau und rege, und den Strand davor. Ein riesiges Flaggschiff hatte angelegt. Ich warf einen Blick zurück. Erst jetzt wurde mir klar, wo ich gewesen war. Ich sah auf eine riesige Felswand, uneben und sandsteinfarben, genau wie das Innere meines Gefängnisses. Man hatte es in eine massive Felswand hineingebaut. Würden außer mir und meinen grobschlächtigen Begleitern nicht weitere Menschen aus den höhlenähnlichen Eingängen herauslaufen, wüsste man gar nicht, was sich im Inneren verbarg. Doch ich dachte nicht weiter darüber nach, es ging alles zu schnell. Ich blickte auf das Schiff, das, je näher wir kamen, immer gigantischer zu werden schien. Es war tatsächlich ein massiver Bau, und die Ausmaße schüchterten mich ein. Ich sah auf die anderen Menschen, ebenfalls Männer, die ebenfalls in Richtung des Schiffs gebracht wurden. Einige wurden mehr getragen, als dass sie selbst einen Fuß vor den anderen gesetzt hätten, und mir wurde klar, dass es anderen in der Gefangenschaft noch schlechter ergangen war als mir. Was mich verwirrte und zutiefst beunruhigte, war das Verhalten der vergleichbar kräftig geblieben Männer. Sie strampelten und wehrten sich, erfolglos, und schrien und protestierten in der mir fremden Sprache. Plötzlich verstand ich. Ich würde nicht nach Hause kommen. Angst bemächtigte sich meiner, und mit der letzten Kraft, die in meinem Körper noch vorhanden war, schrie ich gegen die tauben Köpfe meiner Peiniger.
"Wo bringt ihr mich hin?! Bitte... bitte! Lasst mich! Ich habe nichts getan!", schrie ich panisch, doch ohne Erfolg. Ich zerrte an meinen Armen, wollte mich losreißen, strampelte verzweifelt. In einem letzten Aufbäumen stieß ich meinen Ellbogen in die Rippen eines der Wärter. Der Getroffene gab dem Anderen ein Zeichen, und ich spürte einen dumpfen Schlag am Hinterkopf. Und wieder versank ich in der Dunkelheit.
 



 
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