E.

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Raniero

Textablader
E.

Mitte der siebziger Jahre lernte ich sie kennen, das heißt wir lernten sie kennen, wir alle, die wir zum Clan der alten Gaststätte gehörten.
Von Beruf war sie Lehrerin, an einer Grundschule. Lehrerin und Junggesellin, heute würde man sie im schönsten Neudeutsch als Single bezeichnen.
Es war ihre rauchige Stimme, die der Stimme einer damals sehr populären israelitischen Sängerin ähnelte, und vor allem war es ihre burschikose, ungezwungene so gar nicht damenhafte Art, die mich faszinierte; eine Frau, mit der man stundenlang beim Bier über Gott und die Welt in gelassener Form philosophieren konnte, ohne plumpe Anzüglichkeiten oder Hintergedanken.
Sie war einige Jahre älter als ich, aber was machte das schon aus. Darüber hinaus war sie sportlich und hatte ein Faible für den Tennissport, aber sie lehnte es strikt ab, diesen Sport auf der Anlage auszuüben, die an unsere Kneipe angrenzte.
Im Gegenteil, sie verachtete die Personen, besonders die weiblichen, die hier spielten.
„Auf diesem Platz spielen die Leute nur, um gesehen zu werden, nicht aus Liebe zum Sport“, bemerkte sie bissig „ein reines Schaulaufen! Dieser Club nennt sich Traditionsverein, jedoch die einzige Tradition, die hier hochgehalten wird, ist die Arroganz!“
Es gab in der Stadt sogar einen Tennisclub mit noch mehr Tradition und noch mehr Arroganz; der erste Club der Stadt, das Aushängeschild im Tennissport.
Als ich sie einmal darauf ansprach, geriet sie fast außer sich.
„Der Club der städtischen Mumien“ schäumte sie „geballte Hochnäsigkeit hoch vier. In diesen Verein würden mich keine zehn Pferde hineinbekommen. Eine Scheinwelt der Pseudoprominenz!“
Aus diesem Grunde hatte sie sich, da sie diesen Sport wirklich des Sportes wegen liebte, in einem kleinen Vorstadtclub angemeldet; eine unscheinbare, im Wachsen begriffene Tennisanlage, ohne jahrzehntelange Tradition, ohne Prominenz und titelsüchtige Ehrgeizlinge, dafür mehr Kumpelhaftigkeit, mehr Hemdsärmeligkeit und Ehrlichkeit. Gleichwohl machte es ihr nichts aus, weiterhin in unserem Stammlokal im Windschatten eines feudalen Tennisclubs zu verkehren; sie musste ja hier nicht spielen.
Wir trafen sie auch in anderen Lokalen der Stadt an; sie war wie wir, in mehreren Kneipen zu hause.
Eines abends, in der Gaststätte war die Stimmung so ziemlich dahin, lud sie uns, wir waren vier Männer, zu sich in die Wohnung ein. Die Wohnung passte zu ihr, zu ihrer Art und zu ihrer Individualität, nicht aufgeräumt, aber auch kein Chaos, kleine stilvolle Möbel, geschmackvolle unaufdringliche Beleuchtungskörper, die eine anheimelnde Stimmung erzeugten.
Freimütig führte sie uns durch die gesamte Wohnung, die Wohnung einer Junggesellin. Anschließend verloren wir uns in eine angenehme Plauderei, auch diese Kunst der Unterhaltung beherrschte sie vorzüglich, dieses Zuwerfen der Worte und Argumente wie Bälle, auf humorvolle Art, wie es unsere französischen Nachbarn so meisterhaft beherrschen.
Spät in der Nacht verließen wir sie, ein Abend in angenehmer Erinnerung.

Aufgrund ihrer nonkonformistischen Art war sie im Kollegium ihrer Schule nicht sehr beliebt.
„Karriere werde ich nicht machen“, sagte sie einmal „aber deshalb habe ich diesen Beruf ja nicht gewählt“
Sie machte keine Karriere.

Ich kehrte von einer Urlaubsreise aus Italien zurück; zu Hause angekommen, erfuhr ich die Neuigkeit. Sie war tot aufgefunden worden, in ihrer Wohnung, nachdem sie einige Tage an ihrem Arbeitsplatz, der Schule, gefehlt hatte.
Sie lag in der Badewanne, den elektrischen Haartrockner in der Hand.

Wir alle hatten von ihrer Einsamkeit nichts geahnt.
 
H

HKunert

Gast
Hallo,
Dir ist ein erstaunlicher Text gelungen, obwohl das Thema gar nicht neu ist. Ich finde besonders positiv, dass Du es geschafft hast, Form und Inhalt so gut aufeinander abzustimmen. Der Leser fällt ebenso auf die scheinbar selbstbewusste Frau herein wie der Ich-Erzähler.
Weiter viel Spaß beim Schreiben wünscht,
Heiko
 

Raniero

Textablader
Hallo Heiko,

freut mich, dass Dir die Story gefallen hat. Im Prinzip habe ich nur meine Eindrücke von damals zusammengefasst, doch ich muss auch heute noch oft an E. denken

Gruß Raniero

PS
Carpe diem
 



 
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