Ein Anruf im April

Anonym

Gast
Ein Anruf im April

Ich hatte insgeheim gehofft, dass sie heute anrufen würde. Ihr Leben lang waren diese Anrufe für sie sehr wichtig gewesen, ein absolutes Muss. Doch wirklich gerechnet hatte ich damit nicht. Nun, da ich sie am anderen Ende der Leitung hörte, schwankte ich zwischen Verwunderung, Freude aber auch einer gewissen Vorsicht.

Ihre Stimme klang müde, als sie sich meldete. Zum Glück funktionierte das Telefon. Seit es mal heruntergefallen war, hatte es eine Macke und man musste teilweise brüllen, damit sie einen verstehen konnte. Die Anschaffung eines neuen Gerätes war aber schon in Planung.

"Schön, dass du anrufst", sagte ich dann. "Onkel Reiner hatte sich schon Sorgen gemacht, weil er dich seit ein paar Tagen nicht erreichen konnte."

"Ach, das Telefon ist scheiße", maulte sie. "Aber was ich dich fragen wollte: Sag mal, stimmt es, dass Papa und Mama tot sind?"

"Ja", sagte ich ruhig. "Seit etwa vierzig Jahren."

Ich hatte mich daran gewöhnt, dass sie hin und wieder anrief, und nach ihren Eltern fragte. Mal wollte sie die Telefonnummer von den beiden haben, mal beschwerte sie sich, dass ihr niemand etwas von deren Tod erzählt hatte und mal wollte sie sich nur vergewissern, ob die Behauptung, dass sie gestorben sind, wirklich wahr wäre. Noch gelang es mir meistens, sie irgendwann wieder in die – wie ich es nannte – allgemein gültige Realität zurückzuholen. Mir war geraten worden, dies so lange zu tun, wie es nur möglich war. Irgendwann, das wusste ich, würde sie in ihrer Welt bleiben und nicht mehr zurückkehren.

"Nee, das kann gar nicht sein. Ihr spinnt doch alle!" antwortete sie empört.

"Doch, es ist wirklich so. Glaub mir bitte", antwortete ich ruhig.

"Oh Mann, ist das alles scheiße", stöhnte sie auf.

Ich musste unwillkürlich grinsen. Ihr Leben lang war sie stets sehr direkt gewesen, Mit Diplomatie hatte sie nicht so viel am Hut gehabt. Vor allem in den ersten Jahren, als es ihr noch relativ gut ging, hatte das im Heim immer wieder zu Spannungen mit dem Personal geführt. Sie konnte aber auch einstecken, wenn man ebenso direkt, ironisch oder sarkastisch antwortete. Hauptsache, es blieb fair. Und nachtragend war sie auch nicht. Allerdings verstand sie inzwischen nicht mehr jede Pointe oder Anspielung über die sie sich früher herzhaft amüsiert hätte.

"Weißt Du, Mutti", sagte ich dann und spürte nun doch etwas Traurigkeit aufsteigen. "Ich hätte mir wirklich gewünscht, wenn du heute das Gespräch mit Worten wie 'Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag' begonnen hättest."

"Oh, das tut mir jetzt leid. Aber du weißt ja, dass mit mir echt nichts mehr los ist. Doch nun, wo du es sagst: Alles Gute zum Geburtstag und Gottes Segen!"
 



 
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