Ein Ferienerlebnis

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JeanV

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Ein Erlebnis am Felsenkeller

Die Herbstferien verbrachte ich in jenem Jahr auf dem Bauernhof meines Onkels.
Es war später Nachmittag. Das Bier zum Abendessen fehlte noch. Ich hatte den Auftrag, es zu holen.

So ging ich die Dorfstraße hinab, vorbei am Dorfweiher und an der kleinen Sandsteindorfschule, am Sägewerk und am Bauernhof mit dem Dorfladen. Dann führte die von alten Obstbäumen gesäumte Straße, nur noch mit Schotter bedeckt, steiler bergab in den düster dunklen Fichtenwald. Hier unten am Waldrand bog ich nach links ab hin zu den Felsenkellern. Ein paar bucklige Steinplatten, bemoost und rutschig, wiesen den Weg. Neben der Kellertür wucherten Kräuter und feucht glitzernde Gräser. Mit einiger Mühe drehte ich den großen Schlüssel und zog die knarrende Tür auf.

Dumpfe Dunkelheit ließ mich kurz zögern, um einen minimalen Schauder zu überwinden und meine Augen an den Lichtmangel zu gewöhnen. Das Bierfass war gleich in der Nähe des Eingangs. Ich öffnete den Hahn und ließ das Bier in den Holzkrug laufen. Ein hohler, immer heller werdender Ton begleitete den Vorgang. Ich nahm einen Schluck und wischte mir mit der freien Hand über den Mund. Das Bier war kühl und schmeckte bitter. Es würde mich stärken für den etwas beschwerlichen Rückweg. Den konnte ich noch schaffen, rechtzeitig zum Abendessen. Ein Topf mit Kartoffeln dampfte bestimmt schon am Herd. Salz, frisch geschlagene Butter und Hausmacherwurst lagen bereit.

Auch wenn schon die Dämmerung einsetzte, war es eigentlich unmöglich, sich zu verirren. Es gab ja nur diesen steilen, steinigen Weg hinauf zum Dorf und ab und zu das vertraute Gebell eines Hundes von dort oben.

Ich blieb auch hier bei den Felsen nicht allein. Die Kröte, die auf einmal neugierig herein blickte, konnte mich im Dunkel des Kellers kaum wahrnehmen.
War es eine verzauberte Prinzessin?
Warum folgte ich ihr, als sie sich davon machte?

Auf einem zugewachsenen, kaum noch erkennbaren Pfad, über umgestürzte Bäume, Zweige wegbiegend, durch hohes Gras und Farnkraut verfolgte ich die behände vorausturnende Krötenprinzessin.

"Wenn der Abend hereinbricht, der Wind sich legt", warnte Großmutter gerne, "dann muss der Lichtschein des Hauses schon in Sichtweite sein. Es gibt nämlich Menschen, die in der Dämmerung Tag und Traum vermischen. Sie folgen Gestalten, wenden sich Erscheinungen zu, gehen Irrwege."
War ich ein Opfer meiner blühenden Fantasie, gefangen in einem Wachtraum?

Ihre Hand war kühl und trocken, als ich sie fasste, um die Kröte aus einer Grube zu ziehen, in die sie hinein gerutscht war.
"Danke", sagte sie treuherzig. "Das passiert mir sonst nicht."
Ihr Vorschlag: "Am besten suchen wir uns einen trockenen Schlafplatz, denn es ist noch weit, bis wir am Ziel sind." War das Ziel ein Schloss im Wald? Ich fragte nicht. Wenn ein märchenhaftes Geschehen erst begonnen hat, sollte man ihm geduldig seinen Lauf lassen.

Es war ihr aber wegen des Mondlichtes, das manchmal durch die Zweige schimmerte, zu hell zum Einschlafen. Unter dem Wurzelgelfecht einer schräg geneigten, halb umgestürzten Fichte fanden wir eine passende Erdhöhlung. Die Kröte lehnte sich an mich und fing bald an, leise zu schnarchen. Ich lauschte nach oben in den Nachtwald. Noch war ein beruhigendes Rauschen zu hören, der Nachtgesang der Baumwipfel, manchmal ein knarrendes Ächzen, einzelnde warnende Rufe von Nachtvögeln.

"Wenn Sturm aufkommt, soll man die hohe See und den tiefen Wald meiden." Aber ich saß mittendrin, versteckt unter Wurzeln, mit einer Kröte neben mir. Das Rauschen von oben wurde allmählich immer drohender, schwoll an wie entfesseltes Meeresrauschen. Die Bäume des Waldes wogten wie Ähren im Wind. Unsere Fichte richtete sich immer wieder auf und begrub uns dabei fast unter ihren Wurzeln. Ein Sturm hatte sie ausgerissen, der nächste wollte sie wieder zurück setzen. Wie oft mochte ihr dieses Auf und Ab schon widerfahren sein.

Wetterleuchten kündigte das Herbstgewitter an, das mit Donner und grellen Blitzen einsetzte. Jede der elektrischen Entladungen erleuchtete sekundenlang den Wald und unsere Schlafhöhle. Die Kröte, vom Tosen geweckt, zitterte ängstlich. Aber wir überstanden diese natürlichen Geschehnisse noch unbeschadet ... bis unser Baum zum Ziel wurde.

Der geheimnisvolle Blitz, für uns fast unhörbar und nur von einem beängstigenden Zischen begleitet, tauchte unsere Höhle in gleißendes Licht und verwandelte uns beide - augenblicklich. Mit staunend aufgerissenen Augen erlebten wir uns als hilflose Opfer, ausgeliefert einer übermächtigen Gewalt.

Für einen kurzen Moment, bevor undurchdringlicher Rauch die Höhle erfüllte, erschien sie mir wunderschön, die eben noch hässliche Kröte. Ich selbst fühlte mich vollkommen neu, wie ausgewechselt, geradezu umgestülpt, als ich aus dem Erdloch kroch.
Seither bin ich übrigens gespiegelt, mit vertauschter rechter und linker Seite. Davon bin ich überzeugt.

In einem Zustand bedrängender Gefühle und großer Verwirrung hilft nur Regen. Prasselnder, windgepeitschter Gewitterregen durchnässte mich auf dem Heimweg, sorgte für Normalität und beruhigte mein Gemüt.
Tropfen rollten von den Blättern wie kleine Glaskugeln und zersprangen kurz darauf mit einem unhörbaren Klingen.

"Trockne dich gut ab und zieh warme Sachen an", mahnte Großmutter.
Das Bier im Krug war ein wenig verwässert. Die märchenhafte Kröte habe ich nie mehr gesehen.
 



 
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