Ein Leben

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H

HFleiss

Gast
Sie hatten ihr den Jungen krank zurückgeschickt. Wochen zuvor waren zwei Polizisten zu ihr gekommen, abends, als es schon dunkel war. Ausgewiesen, sagte einer der Polizisten, ausgewiesen ohne Widerruf hätten ihn die USA. Verständlich, ohne gültige Papiere, fünf Jahre auf der Straße, zwischen Abfallcontainern und Suppenküchen, in Atlanta, Wisconsin, New York, ständig auf der Flucht. Das BKA habe ihn gesucht, wegen der Strafsache damals, sagte der Ältere der beiden. Was zwischen dem BKA und der amerikanischen Ausländerbehörde lief, interessierte sie nicht, sie hatte zerstreut zugehört, ihr waren die Tränen gekommen.

Die Sache von damals, als er, noch in Deutschland, einen Nazi zusammengeschlagen hatte, dass dem das Jochbein brach, schwere Körperverletzung, erinnerte sie sich. Ein paar Nazis hatten ihn auf der Straße überfallen, und er hatte sich gewehrt. „Ich gehe nicht in den Knast“, hatte er trotzig gesagt. Er war in die USA geflogen, als Tourist, ohne dass er ihr sich von ihr verabschiedet hätte. Sie hatte nichts von ihm gewusst, fünf Jahre lang nicht. Sie getraute sich nicht zur Polizei zu gehen und nach ihm fahnden zu lassen, sie hatte gewusst von der Schlägerei, kannte auch das Urteil. Die deutsche Justiz vergaß nichts. Nie. Sie hatte nach ihm gefahndet, international. Und in New York hatte man ihn dann aufgetrieben. In einem psychiatrischen Spital.

Sie konnte kaum Englisch. Trotzdem hatte sie in der Klinik in New York angerufen, die Polizisten hatten ihr eine Telefonnummer gegeben. „I call from Germany“, hatte sie noch zusammengebracht und dann den Namen des Jungen genannt: Chris Neumann. Es hatte eine Weile gedauert, dann kam der Junge ans Telefon. „Hey, Mam!“ rief er. „Wie geht’s denn so?“ Sie war sprachlos, der Junge war doch gar nicht so durcheinander, es klang alles so vernünftig. Sie sprachen noch dies und das und wann er abgeschoben werden würde und dass er direkt vom Flughafen nach Moabit käme, in Untersuchungshaft. „Ach so“, sagte der Junge. Es hatte nicht enttäuscht geklungen, eher so, als sei er zufrieden, dass er in Deutschland endlich ein Dach über den Kopf bekäme.

Alle vierzehn Tage machte sie sich auf den Weg, als sie ihn endlich hinübergeflogen hatten, in die Stadt, nach Moabit. Er war schmal geworden, viel schmaler, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er hatte sich den Kopf kahlgeschoren. „Praktisch“, sagte er, als sie ihn fragte, warum. „Keine Läuse.“ Über die Jochbeingeschichte durften sie nicht reden, nur davon, wie er sich fühle, was er in den USA so gemacht habe und wie es mit ihm weitergehen solle. Die Kontrollen waren lästig, außer den Wohnungsschlüsseln und dem Personalausweis nahm sie nie etwas mit, nur etwas Geld für Tabak aus dem Automaten. Die Beamten beäugten sie, als ob sie Konterbande ins Kittchen schmuggeln wollte. Der Junge sprach nicht viel, er sah sie nur an. „Ich liebe dich“, sagte er. Er streichelte ihre Hand, und sie musste lächeln. „Es war schlimm“, sagte er, als sie wissen wollte, was er in den letzten fünf Jahren in den USA erlebt hatte. „In Atlanta wollte mich einer erschießen. Mitten auf der Straße. Soll in Vietnam gewesen sein. Aber ein Schwarzer hat mir geholfen.“ Mehr erfuhr sie nicht. Sie hatten ihn in New York aufgegriffen, hatten ihr die Polizisten gesagt, als er mit dem Messer auf einen Mann losgegangen war. Aber davon kein Wort. Vielleicht wusste er es nicht mehr.

Sie ging nicht zur Verhandlung. Der Junge wollte es nicht. Der Anwalt plädierte darauf, dass Chris damals schon psychisch krank und also nicht schuldfähig gewesen sei. Der Richter ließ sich herumkriegen, verordnete dem Jungen einen Betreuer und Depotspritzen. Das Jahr, zu dem er fünf Jahre zuvor, verurteilt worden war, erließen sie ihm.

Der Junge besaß jetzt eine Wohnung im Tiergarten. Er wollte nicht, dass sie ihn besuchte. Einmal aber nahm er sie doch mit hinein. Das Zimmer war mit dem Nötigsten eingerichtet und unaufgeräumt, an die weiße Wand hatte er mit Filzstift Zeilen aus einem Lied irgendeiner Rapgruppe geschrieben. Der Kühlschrank war leer, die Jalousien heruntergelassen. Der Dämmer im Raum machte alles noch schlimmer. Der Junge tat ihr leid, aber mitnehmen den Jungen, einfach mitnehmen, nach Hause? Es wäre nicht gutgegangen, sie wusste es. Der Betreuer legte auch Wert auf Selbständigkeit.

Im Sommer nahm sie ihn mit, zu einem Ausflug an die Havel. Sie hatte den Müggelsee vorgeschlagen, der Junge aber wollte nicht nach Ostberlin. Sie fuhren zum Wannsee, zu einer Rundfahrt über die Havel, das Wasser glitzerte, vorbei ging es an prachtvollen alten Villen, durch dunkle Kanäle, in die kaum Sonne gelangte. Der Junge saß vor ihr und löffelte schweigsam sein Eis. „Was für eine Gegend“, sagte er plötzlich. „Hier müsste man wohnen können.“ Viel mehr hatte er an diesem Tag noch nicht gesprochen, sie bemerkte aber, dass er versuchte zu verarbeiten, was er sah. „Wovon lebst du?“, fragte sie, und der Junge sagte, von Alg II. „Kommst du hin, brauchst du noch was?“ Er wehrte ab, mit beiden Händen. „Lass mal, der Betreuer, der Sakorski, teilt mir mein Geld ein. Geht schon.“ Er sah aus dem Fenster aufs Wasser, und dass er so verloren einem Reiher, der gerade aufflog, nachblickte, machte auch sie hilflos. „Es gibt gute und böse Menschen“, sagte er und riss sie aus ihrer Besorgnis. „Sakorski ist ein böser.“ Es hatte dumpf geklungen, als poche er auf die Erde, um zu prüfen, ob sie hohl sei. „So erdenschwer?“ Sie lächelte. Plötzlich erschrak sie: Der Junge war krank, sie hatte es vergessen, fast. Worüber dachte er nach? „Nimmst du ... deine Tabletten?“, fragte sie. Er hatte sich geweigert, sich die Depotspritzen geben zu lassen. Sie beeinträchtigten sein Mannsein, hatte er beiläufig erklärt. Man hatte ihn auf Tabletten umgestellt. „Ich bin nicht krank.“ Der Junge saß aufrecht vor ihr. Sie hatte geschwiegen, sie fürchtete seine Gereiztheit.

Dann, zwei Wochen später der Anruf des Betreuers: Chris war wieder im Krankenhaus. Er lehne es ab, Medikamente zu nehmen. Ob sie, seine Mutter, nicht doch mal mit ihm reden wolle, er drangsaliere das Krankenhauspersonal, er ließ niemanden an sich heran. Sie wusste, dass es sinnlos war, trotzdem fuhr sie in die Klinik. Es war eine geschlossene Abteilung. Sie musste klingeln. Eine Frau im mittleren Alter öffnete ihr. „Keine Besuchszeit“, sagte sie, ließ sie dennoch hinein. Es war ein langer, verwinkelter Gang, durch den sie gingen. Unterwegs sprach die Frau die Kranken an, die ihnen entgegenkamen: „Wissen Sie, wo Herr Neumann gerade ist?“ Einer, er hatte ein Handtuch um den Hüften, sagte: „Der treibt sich doch überall und nirgends herum, das Arschloch.“ Sie öffnete eine Tür, blickte ins Zimmer, auf ein Bett. „Er liegt im Bett. Vielleicht spricht er mit Ihnen, Frau Neumann.“ Unschlüssig hielt sie die Türklinke in der Hand. „Ihre Mutter ist gekommen, Herr Neumann“, sagte sie. „Stehen Sie auf, oder soll sie hereinkommen?“

Sie drängte der Frau nach, erblickte das schwarze Haar des Sohns unter der Bettdecke, wollte aufs Bett zugehen. Plötzlich warf er das Bettzeug von sich, richtete sich auf. Sie sah die schwarzen Augenränder, das wirre Haar, das unrasierte Kinn. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen. Sein Blick war feindselig. Sie streckte die Hände aus.
„Chris.“ Er warf sich herum, zog die Bettdecke wieder über den Kopf. „Geh zur Hölle.“

Die Schwester zog die Tür zu. „Wir tun, was wir können. Er weigert sich, seine Tabletten zu nehmen. Aber so ist er, Ihr Sohn. War er schon immer so?“

(2006)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also

irgendwie wirkt das unfertig. besonders stört mich das offene ende. die geschichte macht nicht betroffen, höchstens auf eine dumpfe weise traurig.
lg
 



 
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