Ein Mensch am Abgrund

heidi dorma

Mitglied
EIN MENSCH AM ABGRUND​
(nach einer wahren Begebenheit)​
Teil 1 von 3​
Montag, Dienstag, Mittwoch: Notdienst – Donnerstag und Freitag: Seminar – Samstag und Sonntag: frei. Anette von Borgholm trug ihren Dienstplan in den Kalender für die nächsten Wochen ein. Sie hatte ihren Doktor-Titel vor 6 Jahren erhalten und danach ihre Praxis für Allgemein-Medizin in Buxtehude eröffnet. Anette schaute auf die Uhr – es war beinahe Mitternacht. Ihr fielen vor Müdigkeit schon fast die Augen zu. „Oh weh, die Quartals-Abrechnung muss in spätestens 14 Tagen erledigt sein“ stöhnte sie entnervt auf.

Die Haustür fiel ins Schloss. Anettes Ehemann Kevin von Borgholm kam von der Arbeit. Er war Chirurg für Inneres in einer Klinik in Hamburg. „Du bist ja noch auf – hat das einen besonderen Grund?“ Kevin gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. Anette seufzte leise: „Sieh´ dir mal meinen Dienstplan für die nächsten Wochen an.“ Kevin goss sich einen Cognac ein: „Dieses Wochenende hast du frei – ich übrigens auch. Ich habe mit Christian meinen Dienst getauscht. Seine Eltern haben Silberhochzeit. Dafür habe ich das nächste Wochenende Dienst.“ „Kevin, du weißt doch, dass ich dieses Wochenende in Berlin zur Tagung bin, ich habe erst nächstes Wochenende frei.“ Kevin sah seine Frau erschrocken an: „Oh, entschuldige bitte. Das hatte ich total vergessen.“ Anette blinzelte mit den Augen: „Schatz, komme doch einfach mit nach Berlin – was hältst du denn davon?“ Kevin schüttelte den Kopf: „Das geht auch nicht. Ich habe deiner Mutter doch versprochen sie zu ihrer Freundin nach Goslar zu fahren. Seit 3 Monaten wartet sie bereits darauf. Ich kann sie jetzt nicht schon wieder so kurzfristig vertrösten.“ Enttäuscht stand Anette auf: „Wie du willst. Ich gehe jetzt ins Bett. In 6 Stunden ist für mich die Nacht schon wieder zu ende. Um 7:00 Uhr habe ich bereits den ersten Patienten zur Krebs-Vorsorge-Untersuchung.“ Anette gab Kevin einen Kuss auf die Nasenspitze und verschwand in Richtung Schlafzimmer. Als Kevin 10 Minuten später nach ihr sah, schlief sie bereits tief und fest.

Kevin ging zurück in sein Arbeitszimmer. Er verglich seinen Dienstplan mit dem von Anette. Seit über 6 Wochen hatten sie nicht mehr zusammen frei. Einer von den beiden hatte immer entweder Bereitschaftsdienst oder musste arbeiten. Auch für die nächsten 3 Wochen sah es nicht anders aus. Kevin fluchte leise vor sich hin: „So kann es nicht weitergehen ...“

Am nächsten Tag begegnete Kevin auf dem Flur seinem Chef Professor Dr. Albert Maurus dem Leiter der Klinik. „Herr Kollege von Borgholm – es ist gut, dass ich Sie hier treffe. Kommen Sie doch mal eben in mein Büro.“ Kevin sah auf die Uhr. Eine viertel Stunde hatte er höchstens Zeit, dann musste er wieder nach oben in den OP. Albert Maurus hielt Kevin die Tür auf: „Herr Kollege von Borgholm – ich möchte mich bei Ihnen bedanken. So wie Sie und Ihr Kollege Christian Ewel in den letzten Monaten die Arbeit hier im Griff hatten ist einfach klasse und äußerst lobenswert. Ab nächste Woche Montag bekommen wir endlich wieder einen 3. Chirurgen für diese Abteilung. Er heißt Dr. Ali Celik, ein Türke, ist aber hier geboren und hat in München studiert. Zuletzt war er 5 Jahre in einer Klinik in Frankfurt tätig. Ich hoffe, dass er sich gut in unser Team eingewöhnt, denn der Kollege Schulte kommt definitiv nicht wieder. Sie sind jetzt ab sofort die Nummer 1, Ewel rückt auf Position 2 nach und Celik wird die Nummer 3. Er muss erst einmal beweisen was er kann.“

Kevin strahlte über das ganze Gesicht: „Danke Herr Professor, vielen Dank! Sie ahnen ja gar nicht, was das für mich bedeutet. Endlich haben wir wieder etwas mehr Freizeit. Meine Ehe fing schon an darunter zu leiden.“ Albert Maurus nickte verständnisvoll mit dem Kopf: „ Ja, ja, ich kenne das. Ihre Frau ist schließlich auch Ärztin – man ist immer im Dienst – selbst in der Freizeit.“ Er wusste wovon er sprach, denn bevor Albert Maurus Klinik-Leiter wurde, war er selber mehrere Jahre Chef-Chirurg auf der Station für Inneres. Deshalb lag sie ihm auch besonders am Herzen. Kevin schaute auf die Uhr: „Herr Professor, ich muss in den OP. Es stehen noch 8 Eingriffe auf dem Plan.“ Albert Maurus zog die Augenbrauen nach oben: „Was, noch so viele? Ach, heute ist ja Blinddarm-Tag. Machen Sie es gut, Kevin.“ Die beiden Männer gaben sich die Hand.

Leichten Fußes und noch immer über das ganze Gesicht strahlend eilte Kevin in den OP. Er hatte endlich mehr Freizeit in Aussicht, war gerade zum Chef-Chirurgen befördert worden und der Professor hatte ihn beim Vornamen genannt. Letzteres tat er nur bei Kollegen, dessen Fähigkeiten er sehr schätzte. Für ihn war die Welt wieder voll in Ordnung.

Als Kevin gegen 23:00 Uhr zu Hause ankam, zog sich seine Frau gerade ihren Mantel an: „Hallo Schatz, ich muss zu einem Notfall. Das Essen steht noch auf dem Tisch...“ Der Pieper ging erneut – Anette telefonierte. Kevin hörte gerade noch: „......ja gut, da fahre ich dann anschließend hin.“ Anette drehte sich zu ihrem Mann um: „Ich weiß nicht wann ich wieder zu Hause bin. Warte nicht auf mich.“ Mit diesen Worten entschwand sie aus der Tür.

Als Kevin am nächsten morgen erwachte, war seine Frau schon wieder in der Praxis. Er frühstückte und ging zu ihr herunter. Das Wartezimmer war schon voll, trotzdem mogelte er sich zwischen 2 Patienten vorbei an den beiden Assistentinnen zu seiner Frau durch. Anette strahlte, als sie ihren Mann sah: „Schön, dass du reinschaust – oder bist du krank?“ Kevin setzte sich auf Anettes
Schreibtisch: „Also, krank bin ich leider - oder besser - zum Glück nicht. Gestern hatten wir ja keine Zeit zum Reden. Aber, es gibt gute Neuigkeiten – ab Montag haben wir endlich wieder einen Nachfolger für Schulte, einen Türken, und ich bin jetzt der Big-Boss. Maurus hat mir Schultes Posten gegeben. Nun werden wir endlich wieder mehr Zeit miteinander verbringen können. Was sagst du nun?“ Anette war aufgestanden. Sie legte ihre Arme um ihren Mann und gab ihm einen Kuss: „Wie schön, herzlichen Glückwunsch. Ich freue mich für dich. Kevin, jetzt muss ich dich aber trotzdem bitten zu gehen – das Wartezimmer ist voll. Jeder zweite hat die Grippe.“ Das Telefon klingelte – sie nahm den Hörer ab und ihr Mann verließ das Sprechzimmer.

Kevin ging nach oben in sein Arbeitszimmer und blätterte noch einmal den Kalender durch. Am Samstag den 19.07. war ein dickes Kreuz und daneben eine 5 eingetragen. Was sollte das denn sein ?! Bis dahin waren es doch noch 8 Wochen hin... Er überlegte – unser 5. Hochzeitstag fiel ihm dann gerade noch ein. Er notierte sich das Datum mit einem roten Filzstift in seinem eigenen Kalender. An diesem ganz besonderen Wochenende wollte er sich frei nehmen – komme was da wolle! Er machte sich fertig und fuhr zum Dienst in die Klinik.

Als Kevin abends nach Hause kam, schlief seine Frau schon. Ihre bereits fertig gepackte Reisetasche stand in der Diele. Er bemerkte einen Brief auf dem Wohnzimmertisch:„Lieber Schatz, ich fahre hier um 5:30 Uhr los. Ich habe ein Zimmer im Hotel Adlon gebucht. Grüße Mutti ganz lieb und herzlich von mir und fahre vorsichtig. Ich vermisse dich. Anette. – PS: Wundere dich bitte nicht, dass ich im Gästezimmer schlafe, aber mein Wecker klingelt schon um 5:00 Uhr. Du hast es gut, du kannst ausschlafen.“ Kevin lächelte. Er griff in seine Manteltasche und zog eine Schachtel mit Anettes Lieblingspralinen heraus. Diese legte er zusammen mit ebenfalls einem kleinen Brief, worin er Anette eine gute Reise wünschte, auf ihre Reisetasche.

Am nächsten Tag holte Kevin Maren Krutzke – die Mutter von Anette – nach dem Frühstück ab. „Maren, wie kommst du eigentlich wieder zurück?“ fragte Kevin, während er schon mit seiner Schwiegermutter auf der Autobahn war. Maren putzte umständlich ihre Brille: „Erst einmal bleibe ich etwa eine Woche bei Astrid. Anschließend können mich ihre Kinder wieder bei mir zu Hause absetzen. Sie haben Urlaub und wollen nach Cuxhaven fahren. Buxtehude liegt doch auf dem Weg.“ Nach dieser Antwort starrte sie nur noch stumm aus dem Fenster. Nach einer viertel Stunde startete Kevin erneut den Versuch eine Unterhaltung zu beginnen, doch auch diese endete genau so kläglich wie schon zuvor. Nach weiteren 15 Minuten hatte er genug. Forsch fuhr er auf einen Parkplatz und bremste scharf ab: „Maren, was ist los? Habe ich dir etwas getan? Du bist heute stumm wie ein Fisch, das ist doch sonst nicht deine Art!“ Maren senkte den Kopf. Tränen liefen ihr über das Gesicht: „Kevin, es geht mich zwar nichts an, aber ich hatte immer den Wunsch mal Oma zu werden.“ Sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich die Tränen ab. Kevin blickte betroffen zu Boden: „Wir haben seit längerer Zeit in der Klinik viel Stress. Seit über 2 Jahren haben wir einen Kollegen, der immer wieder langfristig ausfällt. Ich war oft 2, 3 Wochen, ohne in der Zwischenzeit einmal nach Hause zu fahren, in der Klinik. Anette musste mir sogar Wäsche zum Wechseln dorthin bringen. Eine 36-Stunden-Schicht war keine Ausnahme. Nach nur ein paar Stunden schlafen stand ich dann erneut im OP. Wenn ich dann tatsächlich mal zu Hause war, hatte Anette Sprechstunde, Notdienst oder war zum Seminar.“ Maren war erschüttert: „Das wusste ich nicht. Ich dachte, ihr wollt keine Kinder, denn Anette wird schließlich schon 31 Jahre und du 33 Jahre alt.“ Kevin nahm seine Schwiegermutter in den Arm: „He, nun lächle mal wieder. Ab übermorgen haben wir auf unserer Station wieder einen Neuen, eine feste Verstärkung und ich bin seit gestern Chef-Chirurg. Na, was sagst du nun?“ Maren strahlte: „Was habe ich doch für einen tüchtigen Schwiegersohn. Ich weiß noch, wie ihr euch damals auf der Uni kennen gelernt habt. Vom ersten Tag an ward ihr zwei unzertrennlich.“

Kevin fuhr wieder los. Maren schwelgte in Erinnerungen. Sie sprach von Anettes Schulzeit, dem schrecklichen Unfall ihres Vaters, der einige Wochen später an den Folgen verstarb und dass Anette seitdem Ärztin werden wollte. Als sie sich dann endlich Frau Doktor nennen durfte, hatte ihr Patenonkel ihr eines seiner beiden Häuser geschenkt und ihr zusätzlich noch die Praxis eingerichtet. Er war sehr wohlhabend und besaß keine weiteren Angehörigen. Dann verstarb er an Krebs. Kevin wusste das zwar alles schon, denn er kannte seine Frau ja bereits von der Uni – als Anette und er noch studierten – aber er ließ seine Schwiegermutter erzählen. Wenn sie so redete ging es ihr gut, wusste er aus Erfahrung.

Eine Stunde später setzte Kevin Maren bei ihrer Freundin ab. Er trug ihr noch das Gepäck hinauf in die 2. Etage und vergewisserte sich, dass die Freundin auch zu Hause war. Danach fuhr er in den Ort und aß dort zu Mittag. Es war ein herrlicher Tag und Kevin nutzte ihn aus um einmal wieder einen langen Spaziergang im Wald zu machen. Anschließend machte er sich gemächlich auf den Heimweg.

Es war schon 22:00 Uhr durch als Kevin endlich wieder zu Hause war. Der Anrufbeantworter blinkte – er hörte ihn ab. Anette hatte angerufen: „He, was ist los? Warum ist dein Handy nicht an? Ich vermisse den Klang deiner Stimme und ich bin gut angekommen.“ Kevin holte sein Handy aus der Manteltasche – tatsächlich, das Gerät war ausgeschaltet! Er verzog sich in sein Arbeitszimmer und wählte die Nummer vom Hotel. Anette hörte das Klingeln nicht, denn sie stand gerade unter der Dusche. Resigniert legte Kevin den Hörer wieder auf. Wahrscheinlich schlief seine Frau schon längst. Am nächsten morgen rief Anette schon vor der Tagung besorgt Kevin an. Schnell wurden die Missverständnisse aufgeklärt und Anette hoffte gegen 20:00 Uhr wieder daheim bei ihrem Mann zu sein... Berufsbedingt wurde mal wieder nichts mit einem gemütlichen Abend zu zweit, denn um 18:00 Uhr wurde Kevin in die Klinik gerufen. Es gab einen Engpass wegen gleich drei Notfallpatienten. Als Anette abends nach Hause kam fand sie nur eine kurze Notiz auf dem Tisch.

Kevin hatte die ganze Nacht über zusammen mit seinem Kollegen Chrisian Ewel im OP verbracht. Nun war es schon 10:00 Uhr. In 4 Stunden begann sein regulärer Dienst. In der Cafeteria begegnete er Professor Dr. Maurus: „ Kevin, ich möchte Ihnen unseren neuen Kollegen vorstellen. Das ist unser neuer Chirurg Ali Celik – Herr Celik, das ist unser Chef-Chirurg Kevin von Borgholm.“ Die beiden Männer gaben sich die Hand. Kevin wandte sich an seinen Chef: „Herr Professor, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich komme gerade aus dem OP. Ewel und ich wir haben 15 Stunden durchgearbeitet. In knapp 4 Stunden fängt mein regulärer Dienst an. Etwas Schlaf brauche ich noch. Ach ja, der jungen Frau geht es besser, sie ist außer Lebensgefahr.“ Professor Maurus nickte anerkennend mit dem Kopf: „ Ich bin mit Ihnen sehr zufrieden Kevin. Legen Sie sich ruhig 2 Stunden länger hin. Jetzt ist ja der Kollege Celik da.“ Er wandte sich an Ali: „Wie Sie sehen, ist hier immer reichlich zu tun. Feste Arbeitszeiten gibt es so gut wie gar nicht. Glauben Sie, dass Sie es trotzdem bei uns aushalten können?“ Ali Celik sah Professor Dr. Maurus in die Augen: „Natürlich, ich bin langes Arbeiten gewöhnt und da ich in keiner festen partnerschaftlichen Beziehung mehr stehe, bin ich jederzeit verfügbar. Meine Wohnung liegt übrigens gleich um die Ecke. Meine Ehe ist kürzlich zerbrochen. Meine Frau hatte für meine unregelmäßigen Arbeitszeiten kein Verständnis. Schließlich hat sie mich betrogen. Mit dem anderen Mann hat sie bereits seit 4 Jahren ein Kind. Anfangs dachte ich, es wäre meines, aber es konnte zeitlich nicht angehen. Ein Vaterschaftstest hat mir meine Vermutung bestätigt. Das ist auch der Grund warum ich aus Frankfurt weg wollte.“ Ein bitterer Zug legte sich um die Mundwinkel von Professor Dr. Maurus: „So etwas in der Art habe ich mir schon gedacht. Man hat keine Freunde, denn man kann nie jemanden feste Zusagen geben. Nur im Urlaub können wir mal so richtig die Seele baumeln lassen. Bei Ihrem Vorgänger Schulte war es so ähnlich. Zuerst hat er versucht seine Probleme mit Tabletten in den Griff zu bekommen. Später kam noch der Alkohol dazu. Jetzt ist er körperlich und seelisch am Ende – mit 48 Jahren. Er ist arbeitsunfähig. Herr Celik, wenn Sie irgendwann mal irgendwelche Probleme haben, Sie können jederzeit zu mir kommen oder aber Sie können auch zu Frau Dr. Giesel gehen. Sie ist Psychiaterin und fachlich sehr kompetent. Ihr Behandlungsraum befindet sich genau über den OP-Räumen.“ „Herr Professor, wann kann ich anfangen?“ fragte Ali Celik erwartungsvoll sein Gegenüber. Professor Maurus blickte auf seine Uhr: „In einer halben Stunde treffen wir uns im OP. Ich werde dabei sein und Ihnen bei Ihrem Einstand zusehen.“ Die beiden Männer erhoben sich.

Als Kevin nach 5 Stunden erwachte, machte er sich frisch und ging in den OP. Professor Dr. Albert Maurus und Ali Celik wuschen sich gerade die Hände. Kevin hörte, wie er zu Ali sagte: „So souverän, wie Sie an die Sache herangegangen sind, können Sie die Routineeingriffe durchaus alleine durchführen. Mal sehen, was Kevin und Ewel dazu sagen – aber ich denke, dass sie der gleichen Meinung sind wie ich.“ Kevin ging auf die beiden zu: „Na, darf man gratulieren?“ Ali strahlte. Professor Dr. Maurus ergriff erneut das Wort: „Der Kollege Celik ist ein ausgezeichneter Ersatz für Schulte. Was ich da eben gesehen habe, hat mich überzeugt. Das war gute Arbeit.“ Ali und Kevin drückten sich noch immer die Hand. „Herzlichen Glückwunsch, willkommen im Team und auf gute Zusammenarbeit“ kam es erleichtert von Kevin. Bei diesen Worten musterte er sein Gegenüber unauffällig. Irgendetwas irritierte Kevin an seinem neuen Kollegen – dann wusste er es: Ali hatte einen Silberblick und sehr kleine Ohren. Im gleichen Augenblick hörte Kevin Ali sagen; „Danke, ich freue mich schon auf die nächste Herausforderung.“ Kevin atmete tief durch: „Auf geht´s. Das nächste sind akute Gallensteine bei einer schwangeren Frau. Da müssen wir ganz schön vorsichtig sein.“ Ali nickte mit dem Kopf: „Wir sind ja zu zweit. In welchem Monat ist die Dame?“ Kevin gab Ali die Unterlagen: „Ich glaube in der 14. oder 15. Woche.“ Ali machte einen ruhigen und selbstsicheren Eindruck: „Na, das kriegen wir doch locker hin.“

Während der OP beobachtete Kevin seinen neuen Kollegen. Ali ging mit einer Ruhe ans Werk, die Kevin verblüffte. Schon nach kürzester Zeit lag die werdende Mama wieder im Aufwachraum. Alles lief wie am Schnürchen – Kevin war begeistert, er brauchte nur assistieren.

Als Kevin spät abends nach Hause kam, war Anette wider erwartend zu Hause. Als er ins Wohnzimmer kam lag seine Frau auf dem Sofa und döste. Als sie Kevin bemerkte schnellte sie erschrocken hoch: „Wie spät ist es denn schon?“ Kevin sah auf die Uhr: „Gleich Mitternacht. Eine Stunde hast du noch Bereitschaftsdienst, dann ist dein Kollege Franke dran. Ich werde dir so lange Gesellschaft leisten. Müde bin ich sowieso noch nicht.“ Kevin erzählte Anette von Ali. Anette hörte interessiert zu: „Wie alt ist dieser Mann? Weißt du das?“ Kevin zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen: „Schwer zu sagen – ich denke aber, so in unserem Alter ist er schon. Allerdings seinem fachlichen Wissen und Können nach zu urteilen müsste er normalerweise schon viel älter sein. Selbst Maurus war von seinem Können schwer beeindruckt. Ali redet nicht viel, er handelt – sofort und sehr sicher. Nach jeder erfolgten OP bedankt er sich bei allen, die mitgeholfen haben, für die gute Zusammenarbeit. O.K. – heute ist alles super für ihn gelaufen. Ich weiß aber nicht ob er das auch macht, wenn mal was schief läuft. Und wie war es bei dir?“ „Heute Nacht gab es keine nennenswerten Notfälle. Gegen 21:00 Uhr wurde ich zu einem Patienten mit starken Magenkrämpfen gerufen – es waren nur Blähungen. Danach hatte eine Frau falsche Tabletten eingenommen. Ich konnte ihr ein Gegenmittel geben. Seitdem ist es ruhig.“ beantwortete Anette Kevins Frage. Der Pieper meldete sich. Anette eilte zum Telefon: „Ja, danke. Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht, Herr Kollege.“ hörte Kevin Anette sagen. Er öffnete eine Flasche Rotwein und schenkte 2 Gläser ein: „Endlich haben wir mal eine Stunde Zeit für uns. Ich brauche morgen erst um 14:00 Uhr zum Dienst und du hast morgen Vormittag frei.“ „Eigentlich wollte ich mich morgen früh um die Quartalsabrechnung kümmern, aber du hast Recht – das kann noch warten. Wir haben ja sooo wenig gemeinsame Freizeit.“ Kevin nahm seine Frau auf den Arm und trug sie ins Schlafzimmer.

Am nächsten Morgen wachten die beiden erst nach 10:00 Uhr auf – und wieder schloss Kevin seine Frau in die Arme. Beim Frühstück berichtete er ihr, dass Maren ihm gesteckt hatte, dass sie sehnsüchtig darauf wartete endlich Großmutter zu werden. „Meine Mutter hat nicht ganz Unrecht. Wenn wir ein Kind wollen, wird es wirklich langsam Zeit. Was würdest du denn davon halten, wenn wir ein Kind bekommen würden? Wir haben wirklich noch nie darüber gesprochen....“ Anette war unsicher. Entgeistert blickte Kevin seine Frau an: „Ein Baby? Es wäre das Schönste, was ich mir denken kann. Sag mal, nimmst du die Pille noch?“ Anette nickte mit dem Kopf. „Ja. Ich dachte du willst kein Kind. Du hast nie etwas gesagt.“ Kevin reagierte entsetzt: „Natürlich möchte ich mit dir eine Familie gründen. Für wen schuften wir uns denn sonst so ab?“ In Anettes Augen lag ein seltsamer Glanz: „Mir gehört glücklicherweise das Haus und die Finanzen stimmen auch. Selbst wenn mein Einkommen wegfallen würde, können wir sehr wohl auch nur von deinem Gehalt leben – auch zu dritt. Und falls doch nicht, so würde ich die Praxis wieder eröffnen und ein Kindermädchen einstellen. Kevin, ich möchte sehr gerne ein Kind von dir. Ab sofort werde ich nicht mehr verhüten.“ Anette schielte auf die Uhr: „Schatz, es ist schon spät, du musst dich fertig machen. In einer halben Stunde musst du zum Dienst.“

Als Kevin die Klinik betrat empfing ihn sichtlich nervös Professor Dr. Maurus bereits am Eingang: „Kevin, gut dass Sie endlich da sind. Ich habe schlechte Neuigkeiten. Ewel hatte einen Unfall. Er ist auf der Treppe gestürzt und hat sich 2 Finger gebrochen. 4 Wochen fällt er mindestens aus – wenn nicht sogar noch länger. Wir können nur von Glück sagen, dass wir Celik haben. Nicht auszudenken, wenn das schon vor ein paar Wochen passiert wäre...“ „Herr Professor!“ Kevin zog seinen Chef von der Tür weg „Beruhigen Sie sich. Ich bin bereit eine Woche in der Klinik zu bleiben. Danach hat sich Celik eingearbeitet.“ Professor Dr. Maurus war sichtlich erleichtert: „Danke Kevin, auf Sie ist Verlass. Ach übrigens, Celik ist bereits seit über 2 Stunden alleine im OP. Er müsste aber gleich fertig sein. Den nächsten Eingriff machen Sie bitte selbst. Celik wird Ihnen assistieren. Der Patient ist der alte Schubert. Ihm muss ein Herzschrittmacher eingesetzt werden. Ein paar Stunden haben Sie also gut zu tun.“

Eine Schwester kam auf die beiden Männer zugelaufen: „Wir bekommen gleich einen Notfall-Patienten. Es ist ein junger Mann mit Magendurchbruch.“ Noch bevor der Professor etwas sagen konnte gab Kevin schon die Anweisung: „Den übernimmt Celik, ich mache das mit dem Herzschrittmacher alleine. Der Patient wird bereits in Narkose liegen. Danach werde ich Celik assistieren.“

Nachdem Kevin die OP erfolgreich durchgeführt hatte, rief er seine Frau zu Hause in der Praxis an. Missmutig ergab Anette sich mal wieder ihrem Schicksal und brachte ihrem Mann frische Wäsche in die Klinik. Anette suchte danach – noch immer schlecht gelaunt – ein Gespräch mit Professor Dr. Albert Maurus: „Herr Professor, was wäre gewesen, wenn Kevin und ich jetzt, wie eigentlich geplant, im Urlaub gewesen wären? Warum stellen Sie nicht noch eine weitere Fachkraft ein? Auf Dauer gesehen machen sich die Männer hier nervlich kaputt. Sie wissen doch selber, dass bedingt durch den Stress, sich leicht Fehler einschleichen können“ kam es ohne Umschweife von Anette. Der Professor sah Anette geknickt in die Augen: „Sie haben Recht. Ein Fehler wäre in der Tat fatal, aber für einen 4. Chirurgen reicht der Etat nicht. Wenn das liebe Geld nicht fehlen würde... Zum Glück habe ich auf dieser Station 3 ausgezeichnete und ehrgeizige Spezialisten, die zudem nervlich auch noch belastbar sind. Auf einigen anderen Stationen sieht die Personal-Frage noch viel chaotischer aus. Liebe Frau von Borgholm, liebe Kollegin, ich verstehe Sie ja, aber mir sind die Hände gebunden – wie es so schön heißt. Was soll ich denn tun?“ „Könnte man nicht einen Springer einstellen, der überall da eingesetzt wird, wo gerade ein Engpass ist?“ überlegte Anette laut. Professor Dr. Maurus schüttelte den Kopf: „Das geht leider auch nicht. Kein Kollege ist firm auf allen Gebieten gleichzeitig. Ihr Mann würde doch auch nicht z.B. in der Knochen-Chirurgie arbeiten oder bei einer Entbindung einen Kaiserschnitt vornehmen. Jede Station hat da sein Fachpersonal. Zwar haben wir alle die Grundkenntnisse, aber mal angenommen, es gibt bei einem Eingriff doch mal Komplikationen, dann möchte ich selber auch nicht der Patient sein.“ Anette erhob sich: „Ja, das war unüberlegt von mir. Ich selber überweise meine Patienten schließlich auch an Fachkollegen, wenn ich nicht weiterkomme. Ich war nur enttäuscht, wütend, traurig – alles auf einmal. Bitte verzeihen Sie, dass ich meinen Frust bei Ihnen abgeladen habe, aber jetzt geht es mir besser – und jetzt verstehe ich auch Sie.“ Professor Dr. Albert Maurus drückte Anette fest die Hand: „Liebe Frau Kollegin, solche Gespräche sind dringend notwendig. Leider machen die wenigsten anderen Kollegen davon Gebrauch. Ich bin sehr froh, dass wir uns ausgesprochen haben. Wenn Sie wollen, können wir diese Unterredung gerne demnächst fortsetzen.“ Anette schüttelte den Kopf: „Ist nicht nötig, außerdem ist Ihre Zeit begrenzt und meine leider auch.“ Mit diesen Worten entschwand sie aus der Tür. Der Professor blickte ihr hinterher: Kevin von Borgholm hat wirklich Glück, dass er so eine hübsche und verständnisvolle Frau hat, dachte er bei sich. Dann musste er sich wieder seiner Arbeit widmen.

Nachdem 5 stressvolle Wochen hinter Kevin und Ali Celik lagen, konnte Christian Ewel wieder seinen Dienst aufnehmen. Müde sah Kevin in der Klinik seinen Dienstplan für die nächsten 14 Tage durch – und war erleichtert. Ab morgen hatte er 3 Tage hintereinander frei, an den beiden darauf folgenden Tagen hatte er nur Bereitschaftsdienst. Wenn alles ruhig bleiben würde, hätte er ergo 5 Tage am Stück Ruhe. Kevin war ausgelaugt. Er wollte nur noch eins: Nach Hause und schlafen, schlafen, schlafen. In den letzten 48 Stunden hatte er sich nicht mal 3 Stunden ausruhen können, denn Ali Celik musste wegen der Beerdigung seines Vaters nach Hause in die Türkei. Die 30 Kilometer Fahrt von Hamburg bis nach Buxtehude kamen Kevin so lang wie eine Weltreise vor. Als er endlich zu Hause ankam schmiss er sich, ohne sich auszuziehen, auf sein Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Der Körper verlangte sein Recht.

Anette wusste Bescheid. Kevin hatte seiner Frau vom Auto-Telefon aus eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Als Kevin erwachte, blickte er verschlafen auf den Wecker – er zeigte 4:48 Uhr an. Da es schummrig war und Anette neben ihm lag, war ihm klar, dass es früh am Morgen war. Kevin schmerzte der Rücken. Als er auf das Datum seiner Armbanduhr sah, traf ihn fast der Schlag – Es war schon Samstag. Er hatte über 26 Stunden durchgeschlafen und er war noch völlig angezogen. Anette musste ihm wohl die Schuhe ausgezogen haben, denn Kevin konnte sich nicht daran erinnern, dieses getan zu haben. Jetzt musste er unbedingt ins Bad, sich frisch machen und danach die Kleidung wechseln. Aus dem Badezimmerfenster heraus sah er, dass es in strömen regnete. Er zog sich Regenjacke und Regenhose an und fuhr mit dem Fahrrad durch den Ort. Die frische Luft tat ihm gut. Auf dem Heimweg brachte er frische Brötchen und die Zeitung mit. Als Kevin nach Hause kam, schlief Anette noch. Er deckte liebevoll den Frühstückstisch und sah kurz in die Zeitung. Sein Blick fiel auf das Datum – oh Schreck! Anette hatte gestern Geburtstag! Schnell schrieb er ihr ein paar liebe Zeilen und steckte einen Blanko-Scheck für ein Schmuckstück ihrer Wahl mit in den Umschlag. Eilig lief er in den Garten, schnitt eine Rose ab und stellte sie zusammen mit einer Kerze auf den Tisch. Dann weckte er seine Frau.

Als Anette ins Esszimmer kam, sah sie als erstes die brennende Kerze. Schuldbewusst und mit treudoofen Dackelblick, den Kopf leicht gesenkt, schloss Kevin seine Frau in die Arme: „Ich habe deinen Geburtstag zwar nicht vergessen – aber verschlafen. Verzeihst du mir?“ Anette strahlte: „Das du überhaupt daran gedacht hast?!“ Sie öffnete den Briefumschlag: „Kevin! Ein Blanko-Scheck! Schatz, wollen wir zusammen einkaufen gehen?“ Kevin nickte mit dem Kopf. Er erzählte seiner Frau von den vergangenen Tagen, denn er hatte zuletzt vor 3 Tagen mit ihr telefoniert. Anette schüttelte verständnislos den Kopf: „So machst du dich kaputt. Wechsel doch endlich die Klinik oder, noch besser, mache dich selbständig. Einen guten ambulant operierenden Arzt gibt es hier in der Gegend nicht. Hinten der Anbau steht doch eh´ leer. Dort könntest du deine eigene Praxis einrichten. Groß genug ist er allemal.“ Kevin sah seine Frau entgeistert an: „Ich fühle mich in der Klinik wohl. So schlimm wie in den letzten Wochen wird es so schnell nicht wieder werden, denn wir sind ab heute wieder voll besetzt. Und bist du dir im Klaren darüber, wie teuer die Anschaffung der notwendigen Geräte für eine eigene Praxis ist? Außerdem müsste ich umlernen. Die meisten Erkrankungen in einer ambulanten Chirurgie sind Knochenbrüche. Damit habe ich kaum Erfahrung. Das ist absolut nicht mein Fachgebiet.“ Anette köpfte ihr Frühstücksei: „Lasse dich doch in die chirurgische Ambulanz versetzen. Damit erweiterst du dein Wissen und das Geld für die Geräte haben wir auch. Ich kennen einen älteren Kollegen, Peter Babel, der in ein bis zwei Jahren seine Praxis aufgeben will. Er wohnt in Stuttgart. Kennen gelernt habe ich ihn bei der letzten Tagung in Berlin. Wir könnten seine gesamten Geräte und Instrumente sehr günstig bekommen. Es würde finanziell sogar noch für neue Möbel für das Sprechzimmer und den Warteraum langen.“ Noch bevor Kevin antworten konnte klingelte das Telefon. Es war Professor Dr. Maurus: „Kevin, Sie müssen sofort kommen. Bei der Patientin Timms haben sich schwere Komplikationen eingestellt. Celik nimmt gerade bei ihr einen 2. Eingriff vor.“ Kevin wurde kreidebleich: „Ich komme sofort.“ Er legte den Hörer auf und drehte sich zu Anette, die das Gespräch mit angehört hatte, um: „Die Timms habe ich gestern, ach nein, es war ja schon vorgestern, als letzte operiert. Ein simpler Routine-Eingriff. Ich verstehe das nicht.“

Als Kevin die Klinik betrat kam ihm Albert Maurus mit hochrotem Kopf entgegen: „Kevin, kommen Sie sofort in mein Büro.“ Albert Maurus schloss die Tür hinter sich mit den Worten: „Die Patientin hat schon seit gestern über starke Schmerzen geklagt. Letzte Nacht sind sie dann wohl unerträglich für sie geworden. Plötzlich ist sie ins Koma gefallen. Wenn Celik mit dem Eingriff fertig ist, kommt er umgehend zu uns.“ Kevin ballte die Fäuste: „Herr Professor, soll ich Celik assistieren?“ Albert Maurus schüttelte den Kopf: „Sie haben heute frei und Celik...“ weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick betrat Ali Celik das Büro: „Die Patientin liegt jetzt auf der Intensiv. Ob sie durchkommt ist schwer zu sagen – ihre Chance liegt bei höchsten 10 %. Beim Vernähen einer Arterie durch den Kollegen von Borgholm hatte sich ein Faden gelöst. Die Patientin hatte starke innere Blutungen.“ Kevin war aufgesprungen: „Wie konnte das passieren? Ich habe alle Fäden ordnungsgemäß doppelt verknotet...“ „Beim Entfernen des alten Fadens habe ich nicht mal einen Knoten bemerkt“ kam es spitz von Ali Celik. Zornig schnauzte Kevin messerscharf zurück: „Ich weiß genau, dass ich verknotet habe, aber vielleicht haben Sie am falschen Ende nachgesehen, Herr Kollege!“ „Meine Herren! Beruhigen Sie sich bitte!“ wetterte Professor Albert Maurus dazwischen. „Es bringt doch nichts, wenn Sie sich hier gegenseitig beschuldigen. Die Hauptsache ist doch die, dass die Patientin durchkommt. Im übrigen möchte ich Sie darum bitten, dass dieses Gespräch unter uns bleibt. Ich gehe mal davon aus, dass jetzt alles gesagt ist. Guten Tag die Herren.“ Albert Maurus ging zur Tür um Kevin und Ali Celik hinaus zu lassen. Hasserfüllt sahen sich Kevin und Ali Celik auf dem Flur an. Wortlos drehte Kevin sich um und ging zu seinem Auto. Hatte er wirklich vergessen die Fäden – oder zumindest nur einen – ordnungsgemäß zu verknoten? Voller Selbstzweifel fuhr er nach Hause.

Es war schon später Mittag, als Kevin in seine Garage fuhr. Anette hatte das Auto gehört. Jetzt erwartete sie ihren Mann in der offenen Haustür. Ihre langen, sonst hochgesteckten Haare, fielen ihr über die Schulter. Das schlichte und doch elegante Kleid unterstrich ihre gute Figur – doch alles das bemerkte Kevin gar nicht. Mit versteinerter Miene ging er ins Wohnzimmer und goss sich einen 3-fachen Cognac ein. In einem Zug trank er das Glas leer. Er füllte das Glas erneut....

Anette war ihrem Mann gefolgt: „Kevin, egal was passiert ist – Alkohol ist keine Lösung.“ Kevin sah seine Frau erschrocken an: „Stimmt. Ach, es ist so verdammt frustrierend sich von einem Neuling Kunstfehler vorwerfen lassen zu müssen – und das Schlimmste ist: Ich weiß nicht einmal ob er Recht hat...“ Kevin erzählte seiner Frau was passiert war. Anette konnte ihre Tränen nur mühsam unterdrücken. „Schatz, und selbst wenn doch – was ich nicht mal glaube – dann trägt die Personalpolitik der Klinikleitung die Verantwortung. Maurus hätte dich gar nicht 48 Stunden lang hintereinander operieren lassen dürfen. Das verbietet das Gesetz.“ Kevin resignierte: „Und was ist, wenn die Frau es nicht schafft?! Sie ist noch nicht einmal 30 Jahre alt und hat 2 kleine Kinder!“ Anette legte die Arme um die Schultern ihres Mannes: „Du musst positiv denken. Sie ist jung, sie wird es schaffen.“ Kevin senkte den Kopf: „Dein Wort in Gottes Ohr.“ flüsterte er fast lautlos. Anette nahm das volle Cognacglas und schüttete den Inhalt in die Spüle. Wie ein geprügelter Hund folgte Kevin ihr. Anette sah ihren Mann aus den Augenwinkeln heraus an: „Schatz, soll ich uns etwas zu essen zaubern oder soll ich dich zum Griechen entführen?“ versuchte sie ihren Mann auf andere Gedanken zu bringen. Bei dem Wort „essen“ drehte sich Kevin der Magen um. Der Cognac machte sich bereits bei ihm bemerkbar: „Mir ist der Appetit vergangen und – mir ist übel...!“ Mit diesen Worten stürmte er ins Bad.

Es klingelte. Maren Krutzke stand mit einem riesengroßen Blumenstrauß und einem noch größeren Paket vor der Haustür. Anette öffnete ahnungslos die Tür. „Alles Liebe nachträglich zum Geburtstag, mein Engel. Darf ich reinkommen? Die Taxe, mit der ich gekommen bin, ist gerade weggefahren.“ „Mutti?! – Du, ich habe total vergessen, dass du heute kommen wolltest. Komm´ doch rein.“ Maren merkte ihrer Tochter an, wie peinlich ihr das war und auch die verwischten Tränenspuren blieben ihr nicht verborgen. Anette ging in die Küche und Maren folgte ihr. Anette holte eine Vase aus dem Schrank: „Hoffentlich ist die groß genug. Doch, ja, sie passt. Eine größere habe ich auch gar nicht.“ Sie blickte neugierig auf den großen Karton. Ein zweites, winzig kleines Kästchen war darauf befestigt. Anette legte ihre Stirn in Falten: „Was – um Himmels Willen – ist denn da drinnen?“ Maren Krutzke schmunzelte: „In dem kleinen Kästchen ist dein Geburtstagsgeschenk. Es ist die Kette mit den Rubinen, die ich von deinem Vater zur Hochzeit bekommen habe. Du mochtest sie doch schon damals, als du noch ein kleines Mädchen warst, so gerne leiden. Mir wird sie jetzt am Hals zu eng. In dem großen Karton sind deine alten Spielsachen. Dein Schaukelpferd, Lego-Steine – alles von der Baby-Rassel angefangen bis hin zu dem Tag, wo du das Zeug nicht mehr angesehen hast. Ich hoffe, du hast erst mal ein Plätzchen dafür, denn bei mir im Keller wird es allmählich sehr eng...“ „Mutti!“ Anette fiel Maren um den Hals: „Natürlich habe ich dafür Platz – und um deine indirekte Frage gleich zu beantworten: Kevin und ich wir planen eine Familie zu gründen. Na, bist du zufrieden?“ Maren strahlte über das ganze Gesicht. Dann wurde sie ernst: „Anette, hast du geweint?“ Ein trauriger Zug legte sich um Anettes Mundwinkel: „Mutti, Kevin hat großen Ärger in der Klinik.“ Sie berichtete ihrer Mutter was passiert war. „Kevin ist noch immer im Bad.“ schloss sie leise. Und wieder liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Anette war sehr nah am Wasser gebaut, genau wie ihre Mutter. Maren Krutzke war schockiert: „Wie heißt es aber? Wo kein Kläger, da kein Richter“ sinnierte sie kopfschüttelnd. Anette ging ins Bad. Kevin stand am offenen Fenster und stierte mit leerem Blick hinaus. „Kevin, Mutti ist gekommen. Bitte geh´ doch ins Wohnzimmer und leiste ihr ein wenig Gesellschaft. Ich muss in die Küche, Kaffee aufsetzen und Kuchen auftauen.“

Als Maren Krutzke abends nach Hause ging, hatte sich Kevin etwas beruhigt. Anette schaltete den Fernseher an. Da es für sie nichts Interessantes gab, zappte sie durch alle Programme. Auf einem Programm lief gerade eine Fahndungsmeldung. Gesucht wurde ein deutscher Mann, der sich aufgrund seines südländischen Aussehens als Türke ausgab. Weshalb er gesucht wurde, hatten Anette und Kevin nicht mitbekommen – sie hatten zu spät umgeschaltet. Das Bild des Mannes wurde noch einmal kurz eingeblendet. Kevin fiel die Kinnlade herunter: „Das ist Ali Celik!“ schrie er laut auf. Anette fuhr erschrocken zusammen: „Du irrst dich, der heißt anders...“ Ohne auf seine Frau zu hören, griff Kevin zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei. Danach informierte er Professor Dr. Albert Maurus. Anschließend fuhren Anette und Kevin gemeinsam in die Klinik. Als die beiden auf den Parkplatz fuhren sahen sie gerade noch wie die Polizei Ali Celik in Handschellen abführte. Er trug noch die blutverschmierte OP-Kleidung und bemerkte Kevin nicht.

Professor Dr. Albert Maurus lief den Beamten hinterher und kehrte kurze Zeit später in das Klinikgebäude zurück. Dort warteten schon Anette und Kevin auf ihn. „Kevin, Frau von Borgholm! Bitte kommen Sie doch in mein Büro.“ Kopfschüttelnd murmelte er: „ Was haben wir uns da nur für einen Kuckkuck ins Nest geholt? Aber fachlich war er gut. Woher hat der Mann nur seine Kenntnisse? Laut Angabe der Polizei hat er gerade mal 4 Semester Medizin studiert. Anschließend soll er in einem Labor, was verbotenerweise Tierversuche gemacht hat, eine Zeit gearbeitet haben... Kevin, tut mir leid, aber ab morgen muss ich Sie wieder hier haben – zum Spätdienst.“ Kevin seufzte auf: „Das war mir klar. Wie geht es der Patientin Timms?“ Albert Maurus blickte betroffen zu Boden: „Sie ist am späten Nachmittag erneut ins Koma gefallen und noch nicht wieder erwacht. Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden wir sie wohl verlieren.“ „Verdammter Mist! Entschuldigung, das wollte ich nicht sagen.“ Man merkte Kevin seine Anspannung deutlich an: „Kann ich mal kurz zu ihr?“ Der Professor zögerte: „Glauben Sie, dass das etwas bringt? Warum wollen Sie die Patientin eigentlich sehen?“ Kevin blickte auf den Fußboden: „Wissen Sie, der Vorwurf, den mir Celik – oder wie immer er auch heißen mag – gemacht hat, geht mir nicht aus dem Kopf.“ Fast väterlich drückte Albert Maurus den Arm von Kevin: „Vergessen Sie den Blender. Mich hat er schließlich auch getäuscht. Seine Papiere waren gefälscht und ich bezweifele auch, dass er jemals in Frankfurt war – jedenfalls nicht als Chirurg. Er hat sich schon mehrfach als Arzt ausgegeben, aber nur um an harte Drogen zu kommen. Diese hat er dann an Schulkinder verkauft – einfach abscheulich! Das hat mir einer der Kommissare verraten. Ach ja, die Polizei wird sich auch noch mit Ihnen in Verbindung setzen.“ „Herr Professor, haben Sie geglaubt, was Celik von mir behauptet hat?“ Kevin war noch immer voller Selbstzweifel. Albert Maurus blickte in den Sternenhimmel: „Jein – einerseits weiß ich, dass ich mich 100%ig auf Sie verlassen kann – andererseits ist da in der Tat etwas gewesen. Fragt sich nur Was?“ Es klopfte kurz an der Tür und eine Schwester kündigte das Erscheinen zweier Polizisten an. Sie wollten Kevin sprechen. Oberkommissar Wölfe drückte Kevin fest die Hand: „Das haben Sie gut gemacht. Woran haben Sie die verdächtige Person erkannt? Auf dem Fahndungsfoto hatte er lange Haare, trug eine Brille und hatte einen Vollbart...“ Kevin grinste: „Herr Oberkommissar, dieser Hochstapler hat a) einen Silberblick, b) am linken Nasenflügel eine kleine halbrunde Narbe und c) hat er, wie ich finde, extrem kleine Ohren.“ Oberkommissar Wölfe blickte verduzt drein: „Die Sache mit den Ohren ist bis jetzt noch niemanden aufgefallen, aber es stimmt.“ Kevin fuhr fort: „Die 3 Gemeinsamkeiten konnte dieser Betrüger weder durch einen Bart, noch durch eine Brille vertuschen. Es ist wie beim Fasching – einige markante Merkmale hat jeder.“ Die beiden Polizisten lachten laut los: „Herr Dr. von Borgholm, wenn Sie wollen, können Sie sofort bei uns anfangen. So gute Spürnasen wie Sie es sind können wir immer gebrauchen.“ Kevin atmete tief ein und wieder aus: „Vielen Dank für das Angebot, aber ich bin Chirurg mit Leib und Seele. Ich liebe meinen Beruf.“ Die beiden Polizisten verabschiedeten sich und verließen das Büro von Professor Dr. Albert Maurus.

Auch Kevin wollte gerade gehen da klingelte das Telefon. Er hörte seinen Chef sagen: „Ja, gut – nein, das ist natürlich nicht gut – aber damit war im Prinzip zu rechnen. Danke für die Information.“ Kevin schluckte trocken. Obwohl Albert Maurus noch nichts zu ihm gesagt hatte, wusste er doch, dass Frau Timms verstorben war. Noch bevor der Professor etwas sagen konnte fragte Kevin nach: „Wann ist die Obduktion? Ich würde gerne das Ergebnis erfahren.“ Albert Maurus verschränkte die Arme im Nacken: „So schnell wie möglich. Wir müssen aber erst einmal die Angehörigen verständigen. Wenn diese keine Untersuchung wünschen – ich weiß nicht, ob es dann überhaupt sinnvoll wäre...“ Kevin lief unruhig im Zimmer auf und ab: „Herr Professor, bitte, ich möchte selber auch wissen woran die Patientin wirklich gestorben ist. Außerdem ist es doch normalerweise üblich, dass hier verstorbene Patienten obduziert werden – oder irre ich mich?“ Professor Dr. Albert Maurus schüttelte den Kopf: „Sie irren sich nicht. Ich werde alles veranlassen.“

Nachdem ein paar Tage später das Ergebnis vorlag, konnte Kevin erleichtert aufatmen. Der Vorwurf, den Ali Celik ihm gemacht hatte, erwies sich als falsch. Man fand im Inneren des Körpers der toten Patientin ein Stückchen des besagten Fadens – doppelt verknotet. Die Ursache für die starken Schmerzen und die inneren Blutungen wurden ebenfalls gefunden. Es war ein kleines zweites Geschwür, welches bei den Voruntersuchungen nicht festgestellt wurde. Dieses Geschwür war geplatzt. Somit war Kevin endgültig rehabilitiert.

2 Tage später gab Albert Maurus Kevin und Christian Ewel die Dienstpläne für die nächsten 14 Tage. Kevin erstarrte. Am 18.07. war er für eine 36 Stunden-Schicht eingetragen – und am 19.07. hatten er und Anette doch ihren 5. Hochzeitstag! Kevin schüttelte ärgerlich den Kopf: „Herr Professor, ich hatte Sie letzte Woche darum gebeten vom 18. bis 20. Juli Urlaub nehmen zu dürfen. Ich habe privat etwas sehr wichtiges vor.“ Betroffen sah Albert Maurus Kevin an: „Das geht nicht, tut mir leid, aber Sie sehen doch selber was hier los ist...“ Kevin sah noch einmal auf den Plan: „Aber ich kann doch mit Ewel tauschen? Er ist sicher damit einverstanden.“ Albert Maurus schüttelte missmutig den Kopf: „Dann muss ich den Plan ja schon wieder ändern – dafür habe ich keine Zeit. Es bleibt so, wie es eingetragen ist – basta!“ Kevin platzte sprichwörtlich der Kragen: „Ich kündige!“ schrie er unbeherrscht. „Meine Frau hat Recht. Das hier ist Ausbeutung!“ Erschrocken sprang Albert Maurus auf: „Um Gottes Willen! Kevin! Nein! Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Überlegen Sie es sich bitte noch einmal!“ Total empört fauchte Kevin zurück: „Wir sind doch keine Sklaven. Da gibt es nichts mehr zu überlegen. Mein Entschluss steht fest. Die schriftliche Kündigung liegt spätestens morgen auf Ihrem Tisch. Auf wiedersehen, Herr Professor. Ich fahre jetzt nach Hause. Ich bin zur Zeit nicht in der Lage noch irgendeine OP durchzuführen.“ Kevin rannte aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Albert Maurus trat wütend und mit voller Wucht seinen Papierkorb um. Der Inhalt flog quer durch das Zimmer. Langsam begriff er: Jetzt hatte er den Bogen überspannt.

Anette hatte gerade Praxisschluss als Kevin, noch immer aufgebracht, die Haustür aufschloss. „Kevin, was ist passiert? Du bist ja kreidebleich...“ Kevin streckte beide Arme seitlich aus: „Ich bin frei! Ich habe gekündigt! Die Meinung, die du von Maurus hast, stimmt. Zwar hat er immer für sein Personal ein offenes Ohr, aber wehe, irgendjemand möchte mal frei nehmen – vergiss es! Dieses Hick-Hack mache ich nicht mehr mit!“ Anette schüttelte nur ungläubig den Kopf: „Ich fasse es nicht! Was willst du denn jetzt tun?“ Kevin wurde langsam ruhiger: „Liebling, ich bin fix-und-fertig. Schreibe mich bitte eine Woche krank. Ich muss in Ruhe überlegen, wie es nun weitergeht.“ Er stampfte trotzig wie ein kleines Kind mit dem Fuß auf: „Als erstes werde ich meine Kündigung schreiben. Meinen gesamten Urlaub muss Maurus mir auch noch geben – darauf bestehe ich! Der einzige, der mir echt leid tut, ist Christian.“ „Weswegen soll ich dich denn krank schreiben?“ hakte Anette nach. „Schlafstörungen“ bekam sie lapidar zur Antwort.Kevin ging ins Wohnzimmer . Er fing an zu rechnen: 36 Urlaubstage standen ihm für das ganze Jahr zu – also 3 pro Monat. „Wenn ich jetzt zum Quartalsende im September kündige, muss mir dieser Ausbeuter noch 27 Urlaubstage geben. Anette wird mich garantiert 2 bis 3 Wochen krankschreiben – und die restliche Zeit lasse ich mich nicht mehr verheizen“ murmelte er vor sich hin.

Nach 2 schlaflosen Nächten und unzähligen Diskussionen mit seiner Frau stand Kevins Entschluss fest. Er wollte sich selbständig machen – sein eigener Herr sein. Die dafür erforderlichen theoretischen Kenntnisse wollte er sich durch Seminare erarbeiten und zusätzlich noch in einem anderen Krankenhaus als Assistenzarzt das Praktische vertiefen. Als Kevin Anette von seinem Plan unterrichtete, tanzte sie übermütig durch das ganze Haus: „Endlich! Jetzt brauchst du dich von Maurus nicht mehr schikanieren lassen.“ Kevin ging in den Garten und setzte sich auf der Terrasse in einen bequemen Korbsessel. Durch die Fensterscheibe sah er Anette telefonieren. Er streckte die Beine weit aus und schon nach wenigen Minuten schlief er tief und fest.

Kevin war davon ausgegangen, dass Anette mit ihrer Mutter telefonierte, aber das war nicht der Fall. Seine Frau hatte sich umgehend mit Dr. Peter Babel aus Stuttgart in Verbindung gesetzt. Nachdem sie ihm die Sachlage von Kevin geschildert hatte, machte er ihr ein ungewöhnliches aber verlockend klingendes Angebot.

Am Abend, bei einem Glas Rotwein, erzählte Anette, welchen Vorschlag ihr Peter Babel unterbreitet hatte.

„Kevin, ich habe von einem 2-jährigen Versuchs-Projekt erfahren, das am 1.10. beginnt – allerdings nicht hier, sondern in Stuttgart. Das ist der einzige Nachteil. Es sind alles Fachärzte die sich beruflich umorientieren wollen, so wie du. Ich habe dir doch neulich mal erzählt, dass wir von dem Kollegen Peter Babel die Geräte und Instrumente für deine eigene Praxis günstig bekommen können. Du kannst 2 Jahre bei ihm als Assistenzarzt arbeiten und dabei lernen, diese Geräte richtig zu handhaben. Da er einen sehr guten Ruf besitzt, wird er dir sicher auch noch ein paar andere Tipps und Tricks verraten. Die Arbeitszeit ist von Montag bis Freitag von 7:00 Uhr bis 12:30 Uhr und dann von 14:00 Uhr bis 18:00 Uhr. Die Wochenenden sind frei. 14 Tage würdest du bei ihm arbeiten, dann 14 Tage lang die Schulbank drücken – immer im Wechsel.“ Kevin hatte seine Frau bewusst nicht unterbrochen. Jetzt überlegte er laut: „Das heißt also 14 Tage Theorie, 14 Tage Praxis, 14 Tage Theorie... Hört sich nicht schlecht an – aber wo soll ich wohnen?“ „Bei Babels Schwester. Sie wohnt in der Nähe vom Bahnhof. Gleich um die Ecke ist auch die Praxis. Du könntest sogar ohne umzusteigen mit dem Zug hierher fahren und wieder zurück. Soweit mir bekannt ist, hält in Stuttgart der ICE. Die Theorie findet übrigens etwas außerhalb von Stuttgart statt. Deshalb brauchst du dein Auto dort. Über eines müssen wir uns aber noch im Klaren sein. Das Geld, was du bei Babel verdienst, ist nicht mal halb so viel wie das, was Maurus dir zahlt. Das Zimmer ist wohl nicht all zu teuer, aber die Gebühren für die Theorie müssen wir selber tragen. Dann kommt auch noch das Fahrgeld hinzu und verpflegen musst du dich auch selbst, Babel hat keine Kantine. Wir werden also die 2 Jahre kräftig draufzahlen – aber ich denke doch, dass sich diese Investition lohnt und schon bald danach auszahlt.“ Kevin rümpfte die Nase: „Gibt es so etwas in der Art nicht auch hier? Stuttgart ist doch so weit weg...“ Anette schmunzelte: „Höchstens 5 Stunden mit dem ICE und da kannst du dich ausruhen. Mit dem Auto würdest du doch nur im Stau stecken bleiben oder ...“ Weiter kam sie nicht, denn Kevin verschloss den Mund seiner Frau mit einem dicken Kuss.

Am nächsten Tag fuhr Kevin nach Stuttgart. Er suchte Dr. Peter Babel auf. Nachdem die beiden gemeinsam alles abgeklärt und besprochen hatten meldete sich Kevin bei der Seminar-Leitung für die theoretische Schulung an. Anschließend ließ er sich bei Dr. Babels Schwester für ein Zimmer vormerken. Reni Babel, die schon fast 70 Jahre auf dem Buckel hatte und Kevin waren sich auf Anhieb sympathisch. Sie schwärmte von Peter, ihrem Bruder, der fast 8 Jahre jünger war als sie selbst. Dann ging sie auf Kevin ein: „Ich habe gestern von meinem Bruder erfahren, dass Sie eventuell wohl Wochenend-Fahrer sind, als Chirurg arbeiten, bereits einen Doktor-Titel haben und mit einer Kollegin von meinem Bruder verheiratet sind. Stimmt das alles?“ Kevin nickte mit dem Kopf: „Jedes einzelne Wort.“ Reni ergriff erneut das Wort: „Kevin, ich darf Sie doch wohl so nennen, alles was Sie hier tun und lassen, geht mich nichts an. Es interessiert mich auch nicht – nur um eines möchte ich Sie bitten: ich habe Asthma und reagiere allergisch auf Zigarettenrauch.“ „Fräulein Babel...“ Weiter kam er nicht, denn Reni Babel unterbrach ihn: „Bitte nennen Sie mich Reni, so wie alle anderen Mitbewohner hier auch.“ Kevin fuhr fort: „Gut, also Reni, ich bin überzeugter Nichtraucher. Die Folgen, die durch das Nikotin entstehen, habe ich schon oft genug unter dem Skalpell gehabt. Darf ich mir jetzt das Zimmer einmal ansehen?“ Reni ging über den Flur. Kevin folgte ihr. Sie öffnete die Tür: „Es ist das beste Zimmer, das ich habe – voll möbliert und mit einer kleinen Küchenzeile. Geschirr ist im Schrank. Außerdem hat dieses Zimmer, im Gegensatz zu den anderen Räumen, ein zwar kleines – dafür aber eigenes Bad mit WC. Das einzige was hier fehlt ist ein Fernseher. Den müssen Sie sich selber mitbringen. Der Blick aus dem Fenster ist nicht so schön. Sie sehen nur den Hinterhof, aber dafür ist es hier ruhig. In den Zimmern, die nach vorne liegen, hört man jedes Mal wenn ein Zug den Bahnhof passiert. Sind Sie heute mit dem Auto oder dem Zug hergekommen?“ „Mit dem Auto, aber ich parke am Bahnhof. Hier gibt es ja kaum Parkplätze“ stöhnte Kevin. Reni ging ans Fenster: „Wenn Sie hier gleich rechts um die Ecke fahren ist ca. 20 Meter weiter wiederum rechts eine Toreinfahrt. Da dürfen Sie hineinfahren und sich auf einen der 4 Privatparkplätze stellen – die gehören nämlich mir. Von den anderen 3 Mitbewohnern haben nur 2 noch ein Auto. Leider sind die jungen Männer jetzt nicht anwesend. Es sind Studenten und alle sehr ruhig.“ Kevin gab Reni die Hand: „Ich nehme das Zimmer. Am 1.10. beginnt mein Kursus. Ich werde wohl schon am Tag davor hier erscheinen.“ Reni war das Recht.

Kevin kehrte zurück zu seinem Auto. Von dort aus rief er Anette an: „Hallo Liebling! Es hat alles geklappt. Peter Babel ist ein äußerst umgänglicher Mann und auf seinem Gebiet eine wahre Koryphäe. Von ihm kann ich in der Tat noch viel lernen. Für die Theorie habe ich mich auch angemeldet. Das war knapp, aber ich hatte Glück. Es war nur noch ein einziger Platz frei. Und das Zimmer – na ja. Es ist zwar nicht das Hilton, aber nur zum Schlafen für die 2 Jahre reicht es hin.“ Anette atmete erleichtert auf: „Wie schön. Kommst du heute Abend noch nach Hause oder willst du dir nicht lieber ein Hotelzimmer nehmen? Es ist doch schon recht spät.“ Kevin sah auf die Uhr: „Du hast Recht. Ich werde mir für diese Nacht hier ein Bettchen suchen. Sobald ich etwas nettes gefunden habe, rufe ich dich noch einmal an.“

Endlich war Kevin wieder zu Hause. Eine Stunde hatte er im Stau gestanden. Müde ging er in die Küche und goss sich ein Glas Milch ein. Anette steckte den Kopf durch die geöffnete Tür: „Hallo, mein Schatz! Ich komme in etwa einer Stunde, wenn Praxisschluss ist, schnell zu dir. Allerdings habe ich heute Bereitschaftsdienst.“ Und schon war sie wieder verschwunden. Das Telefon klingelte. Kevin nahm das Gespräch entgegen. „Hallo Kevin, hier ist Christian. Ich habe eben erfahren, dass du gekündigt hast. Das kannst du doch nicht machen?! Ich bin hier ganz alleine. Maurus steht kurz vor einem Herzinfarkt und brüllt nur noch herum. Ich halte das nicht mehr aus! Außerdem habe ich seit ein paar Tagen so ein Ziehen und Stechen in der Leistengegend – ich tippe auf Blinddarmreizung. Nachher habe ich einen Termin bei deiner Frau. Wenn sich mein Verdacht bestätigt, kann Maurus unsere Station schließen.“ „Christian“ Kevin versuchte seinen Kollegen zu beruhigen „nach der Untersuchung kommst du zu mir. Dann können wir in Ruhe über alles reden. Bist du damit einverstanden?“ Christian stöhnte leise auf: „Au verdammt, tut das weh. Ja gut, wir sehen uns nachher. Aber lange bleibe ich nicht. Ich bin hundemüde. Ich habe eine 40 Stunden-Schicht hinter mir. Aber das kennst du ja selber auch.“

Christian war der letzte Patient, den Anette untersuchte. Christian hatte mit seiner Vermutung Recht. Der Blinddarm war akut und musste sofort operativ entfernt werden. Anette rief umgehend einen Rettungswagen. Christian ließ sich nach Buxtehude ins Krankenhaus bringen, weit weg von seinem Chef.

Nicht ganz ohne Schadenfreude informierte Anette Professor Dr. Maurus darüber, dass nun auch sein letzter Chirurg aus dem Verkehr gezogen worden war. Albert Maurus brachte nicht einen Ton heraus – er schnaubte nur wie ein altes Walross. Mit voller Wucht knallte er den Telefonhörer auf die Gabel...

2 Tage nach seiner Blinddarm-Operation besuchte Kevin seinen Freund und Kollegen Christian im Krankenhaus. Er war alles – nur kein Vorzeigepatient. So mäkelig kannte Kevin Christian gar nicht: „Hier ist es furchtbar.“ klagte er. „Zu essen bekomme ich nur Haferschleim in Wasser aufgelöst und irgend so einen labberigen Tee – bäh!“ Kevin schmunzelte: „Das wusstest du doch vorher, das ist doch völlig normal. Erst nach 4 Tagen bekommst du was anderes zu essen.“ Christian setzte sich im Bett aufrecht hin: „Jetzt verstehe ich, warum sich unsere Patienten oft über das Essen beschweren. Das einzig Positive an der ganzen Sache ist, dass ich endlich mal wieder so richtig ausschlafen kann. Ich habe hier auch viel Zeit um zu überlegen. Ein Onkel von mir hat in München eine ganz exklusive Privat – Klinik. Er hat mich erst kürzlich wieder gefragt, ob ich nicht bei ihm anfangen will. Vielleicht sollte ich sein Angebot doch annehmen. Wie sehen denn deine Pläne für die Zukunft aus?“ „Christian, das was ich dir jetzt erzähle muss unter uns bleiben. Ich will nicht, dass Maurus etwas davon erfährt. Bitte verspreche mir das.“ Christian grinste: „Na klar!“ Kevin erzählte, was er diesbezüglich vorhatte. Christian verdrehte die Augen: „Gut gemacht. Jetzt weiß auch ich endlich, was ich zu tun habe: Ich gehe doch nach München. Ich werde, genau so wie du, zum 30 September kündigen. Ich habe lange Zeit viel von Maurus gehalten. Leider hat er sich um 180 ° gedreht – aber zu seinem Nachteil.“ Ein schmerzlicher Zug lag um Kevins Mundwinkel: „Irgendwie ist es schade, dass unsere gemeinsame Zeit nun bald vorbei ist. Wir zwei sind so ein gutes Team...“ „Kevin, du bist der einzige Freund, den ich habe, jedenfalls hier.

Nur einen habe ich noch von der Uni her – aber der lebt drüben in den Staaten“ kam es leise von Christian. Die beiden Männer drückten sich fest die Hände. „Ich habe auch keine weiteren Freunde“ stellte Kevin erschrocken fest. Die Schwester kam herein mit dem abendlichen Haferschleim. Kevin machte sich auf den Weg nach Hause.

Kevin und Christian nahmen beide am gleichen Tag ihre Arbeit in der Klinik wieder auf. Albert Maurus hatte Urlaub, war also nicht anwesend. Seine Sekretärin informierte Kevin und Christian, der tatsächlich auch gekündigt hatte, über den Dienstplan – und auch darüber, dass 3 neue Chirurgen eingestellt waren. Da jetzt genügend Personal zur Verfügung stand, hatten die Männer endlich eine geregelte Arbeitszeit – mit ausreichend Pausen und ohne Überstunden. Erst als Kevin und Christian ihren letzten Arbeitstag hatten, war auch Albert Maurus wieder in der Klinik anwesend. Mit bitter-süßen Worten verabschiedete er Kevin und Christian und gab den beiden dann ihre Zeugnisse. Danach wünschte er ihnen für die Zukunft noch alles Gute.

Kevin hatte sich schon morgens von seiner Frau verabschiedet. Heute war Mittwoch und morgen, am Donnerstag den 1.10. fing die theoretische Schulung an. Gleich vom Krankenhaus aus fuhr Kevin nach Stuttgart.

Die nächsten 2 Jahre waren stressiger als Kevin es vermutet hatte. Anette und Kevin hatten sich schon bald darauf geeinigt, dass Kevin nur an den Wochenenden nach Hause kommen würde, wo Anette frei hatte. Wenn Kevin nach 8 Stunden Theorie aus der Schule kam, musste er den gelernten Stoff noch einmal aufarbeiten. Stand Praxis bei Peter Babel auf dem Plan, sah es nicht viel anders aus. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten hatte Kevin die neue Materie schließlich doch begriffen. Danach war er mit Feuereifer bei der Sache. Schon nach einem Jahr stand er Peter Babel kaum noch nach und als Peter Babel nach weiteren 2 Monaten in Urlaub ging, wusste er, dass er mit Kevin eine Vertretung hatte, die ihm ebenbürtig war.

Anette kamen die beiden Jahre wie eine Ewigkeit vor – für Kevin verging die Zeit wie im Flug. Dann war endlich der Zeitpunkt gekommen, wo Kevin seine frisch erworbenen Kenntnisse vor einem Ärzte-Gremium unter Beweis stellen musste. Die theoretische und auch die praktische Prüfung meisterte er mit Bravour. Jetzt konnte er endlich seine eigene Praxis eröffnen!

Nach seiner bestandenen Prüfung erwarteten Anette und auch Peter Babel Kevin am Eingang der Schule. Kevin war sehr überrascht, damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Anette schloss ihren Mann in die Arme: „Na, wie ist es für dich gelaufen?“ Kevin streckte den Daumen in die Höhe: „Super! Ein besseres Ergebnis kann man nicht erzielen.“ Kevin war stolz wie ein Spanier. Anette strahlte: „Ich gratuliere dir.“ „Ich auch.“ Peter Babel drückte Kevin die Hand.
„Danke. Einen besseren Ausbilder wie Sie gibt es wirklich nicht.“ Von Kevin fiel die Anspannung ab. Jetzt meldete sich sein Magen. Vor Aufregung hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen – nun war es schon fast 18:00 Uhr. Kevin lud Anette und Peter Babel in ein gemütliches Lokal zum Essen und Feiern ein. So selig war er schon lange nicht mehr. Er fühlte sich richtig wohl.

Das Lokal, in das Kevin Peter Babel und seine Frau entführte, war gut besucht. Als die drei noch auf das Menü warteten, ergriff Peter Babel das Wort: „Kevin, es ist an der Zeit, dass wir dieses alberne SIE weglassen – ich heiße Peter. So, nun zu etwas anderem: Ich werde Ende des Jahres meine Praxis endgültig schließen. Ich würde mich zwar sehr freuen, wenn du hier bleiben und die Praxis übernehmen würdest, aber ich weiß – das geht nicht. Zu deiner bestandenen Prüfung möchte ich dir einige meiner Geräte schenken. Zwar nicht alles, für den Rest möchte ich nur einen kleinen Obolus haben. Der Anfang wird für dich sehr schwer und teuer werden. Das Labor kannst du dir ja mit deiner Frau teilen, denn das hat sie ja bereits. Du brauchst einen Narkose-Arzt, 2 bis 3 Schwestern und einen technischen Assistenten. Aber das kennst du ja schon von mir. Diese Leute wollen alle bezahlt werden. Du musst dir zuerst einmal einen Namen machen, damit die Patienten auch zu dir kommen. Willst du nur Kassen-Patienten oder nur Private behandeln – oder beides? Wenn du meinen Rat annehmen willst: Ich rate dir zu beiden.“ Kevins Augen strahlten: „Danke Peter. Sie – nein – du ahnst nicht, wie dankbar ich dir für alles bin. Ich wollte eh´ beides machen.“ Anette ergriff das Wort: „Kevin, von mir bekommst du ein ganz anderes Geschenk – allerdings erst in ein paar Monaten – wir bekommen ein Baby, ich bin in der 10. Woche schwanger.“ Ungläubig blickte Kevin seine Frau an: „Juchuuu – ich werde Papa!“ jubelte Kevin 2 Sekunden später lauthals los. Es störte ihn nicht einen Deut, dass die anderen Gäste ihn irritiert ansahen. Kevin gab seiner Frau einen Kuss. Einige der anderen Gäste lächelten, andere klatschten Beifall – nur eine merkwürdige alte Frau, die keiner beachtete, starrte Anette wie versteinert an.... „Anette, Kevin, ich möchte ganz herzlich gratulieren. Anette, ein schöneres Geschenk hätten Sie – ach, auch wir beide sollten uns allmählich duzen – also hättest du deinem Mann gar nicht machen können.“

Das, was Peter Babel da eben von sich gegeben hatte war ehrlich gemeint und kam von Herzen. Jedoch – Peter war ein erfahrener Mann und sah auch die finanzielle Seite der beiden: und die war nicht gerade rosig...

Nachdem sich Anette und Kevin von Peter Babel verabschiedet hatten, fuhren sie zu Reni Babel um Kevins Sachen abzuholen. Als Reni von Anettes Schwangerschaft erfuhr, war sie zu Tränen gerührt. Danach beglückwünschte sie Kevin zu seinem guten Prüfungsergebnis und wünschte den beiden für die Zukunft alles Gute. Anette und Kevin luden die persönlichen Sachen ins Auto ein und dann fuhren die beiden in ein naheliegendes Hotel, welches Anette schon bei ihrer Ankunft mit dem Zug gebucht hatte
 



 
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