Ein Neujahrsbrief

Lady Paloma

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Ein Neujahrsbrief
01.01.2011, 03:20 Uhr
Liebe Monika, lieber Andreas,
ich hoffe, ihr wundert euch nicht zu sehr, dass eure Mutter euch zu dieser ungewöhnlichen Zeit einen Brief schreibt. Obwohl Mütter das eigentlich immer tun dürfen, ihren Kindern schreiben, wenn ihnen danach ist. Nun, mir ist ziemlich selten danach, deshalb bitte würdigt dieses Ereignis gebührend.
Ich komme eben von der Silvesterparty hier in diesem schönen Hotel hoch ins Zimmer. Mit Sicherheit habe ich viel zu viel Sekt und Rosé intus, verteilt über den ganzen Abend, von halb acht im letzten Jahr bis drei Uhr früh an diesem Neujahrsmorgen. So viel Alkohol bin ich nicht gewöhnt, schon gar nicht in meinem reifen Alter. Da sollte man eigentlich Vorbild sein, vor allem, wenn man wie ich seit ein paar Monaten Großmutter ist.
Sicherlich hat der Alkohol auch zu dieser sentimentalen Stimmung beigetragen, die mich den ganzen Abend begleitet hat. Obwohl es eine wirklich gelungene Party war. Ein tolles Buffet, eindrucksvolle Showeinlagen, nette Leute, viel Smalltalk. Eigentlich hätte ich rundherum damit beschäftigt gewesen sein müssen, die Party zu genießen. Stattdessen hat sich dieses komische Gefühl breitgemacht in meinem Bauch. Ständig musste ich an euch beide denken, und ich glaube, ich werde nicht einschlafen können, bevor ich nicht diesen Brief an euch geschrieben habe.
Der Alkohol ist schuld daran, dass ich hier sitze, aber auch der Fakt, dass die Stadt, in der sich dieses Hotel befindet, die Geburtsstadt eures Vaters ist. Das ist mir erst aufgegangen, als ich schon im Saal war, genauer gesagt, als ich das erste Mal mit meinem Teller in der Hand in der Schlange vor dem Vorspeisenbuffet stand.
Vieles ist passiert im letzten Jahr. Das Wichtigste aber ist die Tatsache, dass du, liebe Monika, mich mit meinen 51 Jahren zur Großmutter gemacht hast. Deine kleine Tochter ist das Wertvollste und Vollkommenste, das ich jemals von dir bekommen habe. Gut, immerhin bist du nun schon 25, hättest dir noch ein paar Jährchen Zeit lassen können mit dem ersten Kind, aber andererseits, ich war 26, als du kamst. Und ich konnte mein Glück nicht fassen.
Knapp zwei Jahre später kamst du auf die Welt, Andreas. 23 Jahre wirst du alt in diesem Jahr 2011. Du wirst vermutlich noch etwas warten mit dem Vaterwerden, selbst wenn du umgehend damit anfangen würdest, so würdest du deinen Vater nicht mehr einholen. Denn sein erster Sohn wurde geboren, als er 22 Jahre alt war.
Das ist Jean Michel, euer ältester Bruder. Eins von drei Kindern aus der ersten Ehe eures Vaters. Von der Frau, der ich ihn weggenommen habe. So sagen es viele Menschen, die glauben, bei der ganzen Geschichte damals hautnah dabeigewesen zu sein. Ich sehe das anders.
Jean Michel ist nur wenige Jahre jünger als ich. Manager einer großen Versicherung ist er heute, und ziemlich pummelig. Er hat immer schon zu Übergewicht geneigt. Ganz im Gegensatz zu Marcus, seinem jüngeren Bruder, das ist der Künstlertyp in unserer Familie. Er ist Regisseur, arbeitet meist im Ausland und dreht Filme, die intellektuell für mich viel zu anspruchsvoll sind. Ich mag es einfacher, direkter. Mag nicht zuviel nachdenken müssen über das, was ich sehe. Man sieht ja, was dabei herauskommt, wenn ich zu viel nachdenke.
Dann gibt es noch eure Schwester Amelie, sie war zwölf, als euer Vater sich von seiner ersten Frau trennte. Für sie war es am schwersten, sie war genauso ein Papakind wie du es bist, Monika. Sie hat einige Jahre gebraucht, um das Auseinanderbrechen ihrer Familie zu verwinden und ihren eigenen Weg zu gehen.
Ich war damals eine Angestellte eures Vaters. Genauer gesagt ich war seine wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für mittelalterliche europäische Geschichte. Und bis über beide Ohren verliebt in meinen Chef. Der genau 20 Jahre älter war als ich, ein etablierter und renommierter Wissenschaftler von internationaler Bedeutung, und von daher eigentlich völlig unerreichbar für mich, die kleine unscheinbare Assistentin, die erst kürzlich ihr Examen gemacht hatte. Die ihr Studium allerdings in Rekordzeit durchgezogen hat, eine Tatsache, die schon auf eine gewisse intellektuelle Qualität hindeutet.
Vor dem Examen arbeitete ich zehn Stunden die Woche als studentische Hilfskraft an seinem Lehrstuhl. Durfte Unterlagen für seine Seminare und Vorlesungen kopieren, Anwesenheitslisten schreiben und unzählige Male in die Zentralbibliothek unserer Universität laufen, um Bücher und Zeitschriften zu bestellen, abzuholen und zurückzubringen, die er für seine wissenschaftlichen Abhandlungen brauchte. Nach dem Examen blieb ich an seinem Seminar, jetzt als wissenschaftliche Assistentin mit 19 Stunden und einem erweiterten und anspruchsvolleren Aufgabengebiet. Parallel zur Arbeit am Institut bereitete ich meine Dissertation vor.
Und blieb trotzdem die kleine unscheinbare Exstudentin, die ihren Prof aus der Ferne anhimmelte und glücklich war, wenn er das Wort an sie richtete. Das änderte sich, als ich ihn auf einer Vortragsreise nach Florenz begleiten durfte. Wir besuchten einen internationalen Historikerkongreß und hielten gemeinsam einen Vortrag. Das heißt, er hielt ihn und ich musste dafür sorgen, dass er alles hatte, was er brauchte. Dafür stand ich aber namentlich als Co-Autorin in allen Verzeichnissen und wurde auch in der Presse erwähnt.
Als wir aus Florenz zurückkamen, hatten wir eine Affäre. Für mich war es die Erfüllung des Traums von der großen Liebe. Was es für ihn war, weiß ich nicht. Niemals hatte ich den Eindruck gehabt, in seiner Ehe könne es nicht stimmen. Sie waren eine Vorzeigefamilie, Vater, Mutter, die drei Kinder. Und doch war es mir gelungen, einen Teil seines Herzens zu erobern. Für ihn war ich ein Jungbrunnen, hat er immer gesagt.
Wir flogen auf. Irgendwann, nach ein paar Monaten. Ich zog mich zurück und rechnete damit, dass er mir nahe legen würde, meine Doktorarbeit an einem anderen Institut, am besten an einer anderen Uni zu schreiben. Aus seinem Leben zu verschwinden. Mir brach schon bei dem Gedanken daran das Herz.
Es kam anders, wie ihr beide wisst. Euer Vater stand eines Abends vor der Tür meines Zimmers im Studentenwohnheim, das ich immer noch hatte. Er hatte sich für mich entschieden. Und wir wohnten tatsächlich ein paar Wochen lang gemeinsam in diesem Zimmer. Es war der Himmel auf Erden.
In dieser Zeit bist du entstanden, Monika.
Während der Schwangerschaft zogen wir um, zunächst in eine Dreizimmerwohnung, denn das große Haus behielt seine Frau mit euren drei Geschwistern. Jean Michel war zwar zu der Zeit schon ausgezogen und Marcus absolvierte einen USA-Aufenthalt, aber es sollte die Heimat seiner ersten Familie bleiben.
Mit der Dissertation ging es natürlich erst einmal nicht weiter. Ich war viel zu beschäftigt mit meinem Status als Frau an seiner Seite, die auch noch sein Kind erwartete.
Und die er sehr schnell heiratete. Wenn schon, denn schon, war seine Devise. Seine Frau hatte sofort in die Scheidung eingewilligt, der Beginn des Trennungsjahres wurde einvernehmlich vorverlegt, und so bist du, Monika, ehelich auf die Welt gekommen.
Ich habe mich in den ersten Jahren ganz auf dich, und später dann auf euch beide konzentriert. Wie es für euren Vater war, ob sein Renommee als Wissenschaftler darunter gelitten hat, seine Studentin geheiratet zu haben, die ihm intellektuell weit unterlegen war, ich weiß es nicht. Seine Kollegen, die Professoren, für die ich ebenfalls Unterlagen kopiert und Bücher aus der Bibliothek geholt hatte, waren nun plötzlich die Kollegen meines Mannes. Was sie von mir hielten, ob sie hinter meinem, unseren Rücken über uns redeten, unser Verhältnis belächelten, das Ganze ins Lächerliche zogen, ich weiß es nicht. Seine erste Frau war ebenfalls Wissenschafterin, Medizinerin, sicherlich in den Augen der Kollegen eine ernstzunehmende Partnerin. Im Gegensatz zu mir.
Wir zogen in ein recht großes Haus, ein paar Kilometer von der Uni entfernt. Wie euer Vater das finanziell alles managte, weiß ich nicht. Die andere Familie war schließlich auch noch da. Und er hat eure Geschwister niemals finanziell benachteiligt. Was er hatte, gab er zu gleichen Teilen an sie und an euch.
Wenn ich euch vor meinem inneren Auge sehe, dann ist es immer das gleiche Bild: du, Monika, bist etwa fünf, ein bildhübsches Mädchen mit lockigen braunen Haaren, im Blümchenkleid spielst du auf dem Rasen in unserem Garten. Einen kleinen braunen Hund haben wir auch noch. Und du, Andreas, bist ein ernsthafter kleiner Junge mit deinen drei Jahren, wie du im Sandkasten sitzt und Burgen baust.
Ich komme auch vor in diesem Bild. Es sind Gäste da, Kollegen eures Vaters. Im Garten ist eine große Kaffeetafel aufgebaut, ich bin die strahlend schöne Frau an seiner Seite, die Mutter dieser beiden reizenden Kinder.
Ihr seid älter geworden seit damals. Seid euren Weg gegangen. Schule, Gymnasium natürlich, etwas anderes wäre undenkbar gewesen, zum Glück seid ihr beide intelligent genug gewesen. Ein Jahr USA, als ihr 16 wart, auch das war ein Muß in unserer Familie. Ihr solltet selbständig und unabhängig werden.
Heute seid ihr selber erwachsen. Du, Monika, hast eine eigene Familie. Andreas, du hast eine feste Freundin, irgendwann werdet ihr heiraten und auch Kinder bekommen.
Ich danke euch, dass ihr da wart, dass ich an Abenden wie heute an euch denken darf. Meine beiden Kinder. Die einzigen, die ich je gehabt habe.
Nun werde ich schlafen gehen können. Ich drücke und küsse euch und wünsche euch für 2011 und überhaupt alles alles Gute.
Eure Mama
P.S.: Ich weiß, dass ihr mir nicht antworten werdet. Weder per Brief noch per Email oder SMS. Das ist nicht schlimm, ich bin nicht traurig darüber. Denn es gibt euch in Wirklichkeit gar nicht. Ich habe euch erfunden. Mir ausgedacht. Nicht heute. Sondern damals, vor mehr als 25 Jahren. Euren Vater, den hat es gegeben. Und ich denke, er lebt auch heute noch. Ist schließlich mal gerade Anfang 70. Auch seine Familie hat es gegeben, so wie ich sie geschildert habe. Aber er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, sich von seiner Frau zu trennen. Wegen mir schon mal gar nicht. Und ich hätte es auch gar nicht wirklich gewollt. Weder die Affäre mit ihm, noch die Ehe. Nur in meiner Phantasie, in der Gewissheit, dass all das sowieso niemals passieren würde, habe ich mir manchmal diese ganze Geschichte vorgestellt. Denn ich war nichts weiter als eine kleine dumme wissenschaftliche Assistentin, die unschuldig und rein platonisch für ihren Chef schwärmte und sich manchmal vorstellte, was wäre wenn….
 



 
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