Ein Schiff für Marie

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Katharina M

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Marie hat den schönsten Mund der Welt. Ich sehe ihre Lippen direkt vor mir. Wenn sie so unmittelbar vor meinem Gesicht schweben, erscheinen sie riesig. Ich habe Angst vor diesem lodernden, rot angemaltem Mund.
Maries Lippen sind schön und voll, weich und warm von außen. Sie locken und warnen zugleich. Dahinter wartet dunkle Ungewissheit.

Marie.
Ihre halblangen, schwarzen Haare, die wie ein seidiger Helm um ihren Kopf liegen.
Ihre großen, runden, dunklen Augen, die meistens etwas grimmig blicken.
Ihr üppiger Busen, ihre wogenden Röcke, ihr Duft nach Rosen und Seife.
Ihre hohen Wangenknochen, ihre zarte, blasse Haut.
Ihr federnder, leicht hüpfender Gang.
Ihre dunkle, warme Stimme.
Ihre gerade, kleine Nase mit den empfindsamen Nasenflügeln.
Das Muttermal unter ihrem rechten Auge.
Das alles verschwimmt vor meinem Blick.
Ich sehe nur Maries Mund.
Er öffnet sich.
Ich sehe ihre weißen, kräftigen Zähne aufleuchten. Sie schimmern. Ich sehe die dunklen Spalte in den Zahnzwischenräumen.
Dieser riesige, rote Mund macht mich fertig. Ich bin ihm total verfallen.
Marie weiß das ganz genau.
Sie muss nur zupacken mit ihren kräftigen weißen Zähnen. Sie muss nur nach mir schnappen. Ich warte darauf. Ich habe Angst davor.
Maries Mund nähert sich noch ein Stück mehr, bleibt dann ganz dicht vor meinem stehen.
Ich spüre die Hitze, die von den Lippen ausgeht, ich spüre den Atem, der zwischen den Zähnen hervorströmt. Warm und feucht. Der Duft von Maries Atem vermischt mit einem aufgelösten Hustenbonbon. Zitrone und Eukalyptus.
Maries Mund ist so nahe an meinem. Ich kann die Augen nicht von ihm wenden. Lange sehe ich Maries Mund an, folge ihrem Atem und wage es selbst nicht, Luft zu holen.
Mein eigener Atem geht schnell und stoßweiße. Ich kann mich nicht bewegen, bin wie gelähmt.
Und dann lacht Marie.
Sie lacht und lacht und lacht und lacht und lacht.
Und ich werde ins Dunkle gezogen.
Ich falle. 10 000 Meilen tief. Unsanft lande ich auf hartem Asphalt.
Ein Sommermorgen im August. Das Thermometer zeigt 35 Grad. Jeder ist wie betäubt von der Hitze. Keiner nimmt den anderen richtig wahr. Die Menschen schlurfen lustlos aneinander vorbei.
Der große Haufen Holzteile, der mitten auf dem Gehweg liegt, wird einfach ignoriert.
Mich zieht er wie magisch an. Ich wühle in dem Haufen, sehe mir die einzelnen Stücke genau an. Zersplitterte Planken, ein Gerüst aus hohen Stangen, Masten, zerissene Segel. Die Trümmer eines Schiffes im Miniaturformat.
Ich sammele alle Teile auf. Es sind sehr viele. Ich muss einen Korb holen, um sie in meine Wohnung im dritten Stock zu transportieren. Ich schütte sie zu Hause auf meinem Küchenboden aus. Ein riesiger Berg Puzzle-Teile liegt vor mir. Mit Sekundenkleber füge ich sie wieder zusammen.
So wächst unter meinen Händen allmählich ein Schiff empor. Wunderschön! Ein Schiff wie ein Traum. Schlank und federleicht. Man könnte auf diesem Schiff durch den Himmel segeln. Ich taufe das Schiff Penelope und denke an Marie.

Marie, wie sie am frühen Abend am Tisch sitzt, ihre Malsachen vor sich ausgebreitet.
Marie, wie sie mit Kreide ein paar Linien zeichnet, das Papier zerknüllt. Finster, abwesend, nicht ansprechbar. Am nächsten Morgen sitzt sie immer noch da, mit üblen Augenringen. Den Kaffee, den ich ihr bringe, rührt sie nicht an.
Ich sehe Marie, wie auf ihren Skizzenblättern eingeschlafen ist. Sie hat Kreide auf den Wangen, auf den Lippen. Ich bringe sie ins Bett wie ein kleines Mädchen. Helfe ihr dabei, sich auszuziehen, decke sie zu.
Ein anderer Abend mit Marie:
„Warum krieg ich das nicht hin? Verdammte Scheiße!“ brüllt sie und pfeffert den Pinsel in die Ecke. Sie zerknüllt das Papier. „Nichts kann ich! Ich bin nichts. Gar nichts. Bedeutungslos.“
Ich darf nichts sagen. Ich bekäme sonst die Wucht ihres ganzen Zorns ab. Ich streichele ihr Haar. Und dann nehme ich den Pinsel, tauche ihn in hellgrüne Farbe und male ihr einen dicken Schnurrbart unter die Nase. „Ey!“ brüllt sie und holt aus, als ob sie mir eine knallen will. Aber dann zucken ihre Mundwinkel und Marie lacht.
Marie lacht und lacht und lacht und lacht. Und ihr grüner Schnurrbart wackelt dabei hin und her. Bald habe auch ich einen. Bald ist unser weißes Bettlaken voller grüner Flecken.

Ich sitze an Maries Arbeitstisch und baue ein Schiff. Ein Schiff für Marie. Ich streiche es blütenweiß an. Vom Boden bis hin zu den Segeln. Es ist so voller Hoffnung wie Marie es war. Es trägt die Hoffnung aller weißen Blätter in sich, die niemals von Marie bemalt wurden. Alle Ideen, die unentdeckt in ihr schlummern.

Marie mit ihren finsteren Augen, unter ihren finsteren Brauen.
Marie mit wilden, wirren, ungekämmten Haaren.
Marie Kette rauchend.
Marie zerstreut und fahrig.
Marie, die mit zwei unterschiedlichen Schuhen das Haus verlässt.
Marie, die einen zentnerschweren Rollkoffer hinter sich herschleift. Ein Koffer, der aus allen Nähten platzt, weil er so vollgestopft ist. 500 Meter vor dem Flughafen verhakt er sich irgendwo unglücklich und reißt tatsächlich. Sachen quellen heraus: Leichte Sommerkleidchen, Parfüm, Handtücher, Tuben mit Farbe, Lippenstifte, Bücher.
Ein Golfball!
„Scheiße! Scheiße! Verfickter Mist!“, flucht Marie.
Der Golfball rollt in meine Richtung. Ich stehe da. Ganz ruhig. Dabei geht in etwas mehr als zwei Stunden unser Flieger nach Lanzarote.
Ich bleibe gelassen, während Marie herumspringt wie ein Rumpelstilzchen. Hektisch wühlt sie in ihren Sachen, versucht alles zusammenzuraffen, was ihr nicht gelingt.
Ich reiche ihr den Golfball wie ein Prinz seiner Prinzessin. Sie nimmt ihn an sich, lächelt, presst ihn an ihre Lippen.
„Was ist damit, Marie?“, frage ich.
„Er ist ein Schatz. Ich habe ihn als Kind im Schnee gefunden. Er bringt Glück. Oder wendet Unglück ab. Als Kind habe ich mir eingebildet, dass ein Geist darin wohnt, der mich beschützt.“
Marie ist auf ihre Art furchtbar abergläubisch, obwohl sie so klug ist.
Es macht ihr einfach Spaß, die Welt magisch aufzuladen. Das ist wie ein Spiel. Ein Zauber, den sie den Dingen gibt, weil sie Marie ist. Sie versucht, die Welt dazu zu bringen, nach ihren Gesetzen zu funktionieren. Dass das oft nicht klappt, nimmt sie meistens mit Humor.
Sie erzählt, wie sie auf ihren Skiern hinfiel in den Schnee griff und plötzlich den Ball in der Hand hielt, den offensichtlich irgendein verrückter Cross-Golfer dort verloren hat. Und dann, wie wenig später die schlimmste Lawine der letzten Jahre den Berg heruntergedonnert kam und alles unter sich begrub. Sie und ihr Vater blieben verschont.
Marie nimmt meine Hand in die ihre, dreht meine Handfläche nach oben, legt den Golfball hinein und schließt feierlich meine Finger darum. „Den schenk ich dir. Ich brauche ihn jetzt nicht mehr. Ich hab ja dich.“ Ich bin sehr gerührt, ich küsse sie. Ich freue mich, wie ich mich selten zuvor über ein Geschenk gefreut habe. Ich stecke den Golfball in meine Hosentasche. Ich will Maries Golfball immer mit mir herumtragen und ich will immer auf Marie aufpassen.
Mit Hilfe von Plastiktüten schaffen wir den Inhalt ihres Koffers zum Flughafen, kaufen schnell eine billige Reisetasche und schaffen unseren Flug nach Lanzarote noch. Gerade so. Im Flieger schläft Marie ein, den Kopf auf meine Schulter gebettet.
Ihr Mund ist leicht geöffnet, die Unterlippe zittert. Sie schnarcht ein bisschen. Sehr süß.
Ich streichel ihre Wange, lächele und sehe durch die runde Luke riesige Wolkenberge an uns vorbeiziehen. Irgendwann später das schroffe Gestein der Vulkane im starken Kontrast zum tiefblauen Atlantik.

Mein schneeweißes Boot für Marie könnte diese Felsen mühelos umschiffen. Es ist so leicht wie Wolken und ebenso nachgiebig. Es passt sich jeder Umgebung, jedem Widerstand an. Es kann nicht zerschellen. Marie ist darin sicher wie ein Baby im Mutterleib.
Marie kann nichts passieren. Nie. Marie ist so stark und schön. So voller Leben.
Ich baue ein Schiff für Marie und als es fertig ist, bin ich sicher, dass es ihr gefällt.
Ich will es nicht immer nur in meiner Wohnung betrachten. Ich will damit rausgehen. Ich will ausprobieren, ob es schwimmen kann. Der Stadtpark ist der einzige Ort, der mir einfällt. Dort gibt es Tümpel und Teiche mit ruhigem, stehenden Wasser. Keine gefährlichen Strömungen, keine Riesenschiffe, die mein zartes Bötchen gefährden könnten.
Ich bin nicht allein. Ein alter Mann sitzt auf einer Bank und lässt ein perfekt ausgerüstetes Playmobilschiff schwimmen. Eine komplette Mannschaft ist darauf versammelt. Mit einem kindlichen Lächeln betrachtet er sein Spielzeugschiff. Er wirkt zufrieden. Eins mit der Welt und sich.
Um die Masten des Schiffs ist eine Lichterkette geschlungen, kleine Lämpchen blinken, begleitet von Schlagern, die aus einem Kassettenrekorder tönen, der im Schiff integriert ist.
„Ein Wind weht von Süd und zieht mich hinaus auf See. Mein Kind, sei nicht traurig, tut der Abschied auch weh.“ singt Heino.
Ich setze mich neben den alten Mann auf die Bank. Es dauert ein bisschen, bis er beschließt, mich neben sich wahrzunehmen und den Kopf in meine Richtung dreht. Er schaut mich mit seinen kleinen, blauen Augen halb amüsiert, halb misstrauisch an. Als sein Blick auf Penelope fällt, leuchtet sein Gesicht auf. „Schönes Schiff. Aber ob es auch schwimmt?“ Mit gelblich verfärbten, dicken Fingern streichelt er über Penelopes schneeweißen Rumpf. „Ich glaube nicht. Die Fugen sind zu schlecht verdichtet. Da wird schneller Wasser reinlaufen, als du Piep sagen kannst.“ „Hmm.“ sage ich. „Ich kann es ja trotzdem mal ausprobieren.“

Marie steht in ihrem weißen Bikini im Wasser. Ich sehe ihre Brüste, ich sehe ihren anmutig geschwungenen Hals auch von Weitem sehr deutlich. Marie winkt und lacht. Auch ihren roten Mund kann ich sehen.
Komm an Bord, Marie! Komm mit auf mein Schiff!
Marie winkt mit ihren muskulösen Armen.
Marie lacht und wirft sich dann betont gefühlvoll in die Wellen. Mit kräftigen Armbewegungen krault sie in Richtung meines Schiffes.
Doch sie kommt nicht näher. Der Abstand zwischen uns bleibt immer gleich. Bewegt sich mein Schiff ebenso schnell wie Marie schwimmt? Treibe ich von ihr weg, ohne es zu wollen? Aufs offene Meer zu?
Ich kann mein Schiff nicht anhalten. Ich kann nichts dagegen tun. Da ist eine Strömung im Wasser, gegen die ich nicht ankomme. Ich sehe Marie auf mich zuschwimmen, aber sie erreicht mich nicht.Immer wieder taucht ihr nackter Arm auf, durchpflügt das Wasser. Immer wieder winkt sie mir. Ich komme! Ich will zu dir kommen!
Ich stehe an Bord des Schiffes und beobachte Maries Kampf gegen die Wellen. Marie hat so viel Kraft in den Armen. Sie macht regelmäßig Sport, geht dreimal in der Woche zum Schwimmen. Ich bemerke, wie die Abstände länger werden, in denen der Arm die Wasseroberfläche berührt. Irgendwann sehe ich keinen Arm mehr. Nur noch Wasser.

Vorsichtig lasse ich Penelope in den Tümpel. Der alte Mann runzelt skeptisch die Stirn. So etwas Ähnliches wie ein Grunzen kommt aus seiner Kehle. Unermüdlich donnert Heinos Stimme dazu in Endlosschleife: „O La Paloma, Schön wie die weisse Taube. Du bleibst mein Schiff, weil ich an deine Schönheit glaube. “
Penelope tänzelt auf den nicht vorhandenen Wellen. Das Wasser ist moosgrün. Ein muffiger, modriger Geruch steigt vom Grund auf. Man möchte nicht wissen, was dort unten liegt und lauert. Penelope schwebt über allem. Sie ist einfach zu schön. Nichts kann ihr etwas anhaben.
Minuten vergehen. Minuten, die wie eingefroren wirken. Ich starre auf Penelope, der alte Mann starrt auf Penelope.
„Ha! Sie schwimmt doch!“

Ich sehe Marie. Marie, in ihrem weißen Bikini, das schwarze Haar vom Salzwasser verkrustet, Seetang hat sich darin verfangen, bildet einen bizarren Schmuck.
Maries Füße. Die lackierten Nägel schimmern korallenrot.
Maries glatte, kräftige Beine sind mit feinem Sand bestäubt, der in der Sonne trocknet. Er bildet einen deutlichen Kontrast zu ihrer gebräunten Haut.
Maries Gesicht ist nicht mehr sonnengebräunt. Es ist sehr blass. Und ihr roter Mund – ihr Mund ist nicht mehr rot. Er ist bleich, schrecklich bleich.

„La Paloma ohe, ich will dir immer treu sein. Eines Tag's schlägt für dich auch die Stunde
und du kehrst nie zurück.“ Ich würde Heino gerne eins auf die Fresse hauen.
Penelope tänzelt und schaukelt nicht mehr. Ihr Inneres ist schon ganz voll Wasser gelaufen.
„Ich habs dir doch gesagt, Junge.“ schnurrt der alte Mann zufrieden. Ich antworte ihm nicht. Ich starre auf Maries Schiff. Wie es schließlich umkippt. Und mit einem leisen, aber deutlich hörbaren Schmatzen langsam im Tümpel versinkt. Hellgrün leuchtet das Modellschiff unter Wasser auf, die weißen Segel saugen sich voll, werden schwer. Eine große Blase steigt auf und wirft kleine Wellen. Wellen, die man sonst nie sieht, hier im Karpfenteich.
Das Piratenschiff, robust und wetterfest, schaukelt. „La Paloma ohe, ich will dir immer treu sein. Eines Tages schlägt für dich auch die Stunde und du kehrst nie zurück. La Paloma ohe dann wird alles vorbei sein, übrig bleibt nur allein die Erinnerung, des alten Seemann's Glück.“
Die Wellen haben sich gelegt. Die See ist wieder ganz ruhig. Entenkacke schwimmt vorbei. Es ist, als habe es Penelope nie gegeben. Ich starre mit verschleiertem Blick auf die Stelle, wo ich sie zuletzt gesehen habe.
„Hast du mal Feuer?“ fragt der alte Mann, eine Zigarette im Mund. Mechanisch greife ich in meine Hosentasche, wühle darin herum und halte plötzlich etwas Kühles, Hartes in der Hand. Ich ziehe die Hand heraus und darin liegt: Maries Golfball!
Ich lache und weine.
Hallo Marie!
 

Vera S

Mitglied
Liebe Katharina,
mir gefallen die Traumsequenzen, die sich mit Realem vermischen, sich überschneiden. Ich will gar nicht mehr wissen, genieße den Raum, den der Text mir lässt. Die sehr lange Beschreibung Maries, die ich in einer anderen Geschichte als zu idealisierend empfunden hätte, rechtfertigt sich durch den Verlauf der Handlung - und wird gelegentlich angenehm gebrochen: der grimmige Blick, später das Schnarchen.
An einer Stelle scheint mir der Anschluss ungenau:
"...folge ihrem Atem und [blue]wage es selbst nicht, Luft zu holen.
Mein eigener Atem geht schnell [/blue]und stoßwei[blue]s[/blue]e."

Ich habe die Geschichte gern gelesen!
Liebe Grüße
Vera
 

nachts

Mitglied
Die Geschichte selbst find ich klasse
Für mich tummeln sich da etwas zu viele Adjektive - vor allem abgegriffene - keine besonderen - das zerstört ein wenig den Eindruck der Einzigartigkeit der Marie für den Protagonisten, finde ich.
LG Nachts
 



 
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