Eine Fiktion: Das Attentat auf John Lennon

Fencheltee

Mitglied
15. Strophe
David

Gegen Ende des Jahres 1980 erschien ein Protagonist auf der Bildfläche, mit dem zuvor keiner gerechnet hatte. Es war jemand, der das Leben von John für immer verändern, zumindest aber Narben an ihm zurück lassen sollte. Der 25-jährige gebürtige Texaner Mark David Chapman kam ohne Rückflugticket aus Hawaii nach New York geflogen, mit dem Plan, John Lennon zu ermorden. Es ist prekär, über diesen Menschen zu schreiben. Vielleicht sogar schon allein nur seinen Namen zu nennen, kann Unverständnis und wütende Reaktionen hervorrufen. Das liegt daran, dass er, wie er später angab, dadurch bekannt werden wollte, dass er eine Berühmtheit umbrachte. „Ich war ein Niemand, bis ich auf den größten Jemand schoss“ war seine Aussage. Der Wunsch, bekannt zu werden, kann es aber nicht allein gewesen sein, denn hinter dem Attentat steht eine Geschichte, die in der frühen Jugend des Subjekts, wie Yoko diesen Mann nach dem Attentat betitelte, ihren Anfang hat. In Anbetracht der von ihm gemachten Aussage war er es in ihren Augen nicht wert, dass sein Name genannt wurde. Während der Beatlemania wurde er im zarten Alter von 10 Jahren zu einem enthusiastischen Fan der fabelhaften Vier. Er war wie besessen und erlag wie fast alle Jugendlichen dieser Zeit dem verzaubernden Charisma der Beatles. Nur dass es bei ihm nicht genau so war wie bei allen anderen. David bemerkte etwas, was ihn zweifeln ließ. Er war ein begeisterter und treuer Fan, bis in ihm plötzlich die Ahnung keimte, dass etwas nicht stimmte, weil es nicht richtig ins Gesamtbild passte. Obwohl er noch sehr jung war bemerkte er etwas, was vielen anderen verschlossen bleibt, die einem charismatischen Idol nacheifern. Der Junge David stellte fest, dass John, den er fast wie einen besseren Vater verehrte, ihn in Wirklichkeit niemals tatsächlich wahrnehmen würde. John wurde in seinen Gedanken zu einem Blender, jemand, der die Menschen, die er mit seiner Musik begeistert, um ihre Energie der Hingabe betrügt. Der kleine David hatte zwar richtigerweise durchschaut, dass der Superstar John sich nicht um jeden einzelnen Fan kümmern kann, aber er begann deswegen die Ausstrahlung, die John Lennon auf die Menschenmassen und auch auf ihn gehabt hatte, zu verurteilen. Ganz wesentlich war dabei die Tatsache, dass er meinte zu erkennen, dass John einem nur das Gefühl gibt, ein echter Freund zu sein, aber in Wirklichkeit gar kein Freund ist. Auch wenn John noch so innig singt, dass er immer und zu jeder Tageszeit für dich bereit ist und du nur anzurufen brauchst, damit er vorbeikommt, ist das in der realen Welt für einen wie David nicht der Fall. John ist niemals zu ihm gekommen, wenn David ihn gerufen hat. Als John dann auch noch davon sprach, dass die Beatles populärer als Jesus seien, da begann sich die Bewunderung Davids endgültig in das Gegenteil umzukehren. Der Hass auf John glomm in David von diesem Zeitpunkt an, und er brannte immer unausstehlicher bis zu dem Tag, an dem er sich entschloss, nach New York zu fliegen. Es war fast so, als ob John gleichzeitig mit dieser Aussage den Geist erschuf, der ihn viele Jahre später heimsuchen sollte. Es war sein Handeln und sein Tun, das in diesem Moment schicksalshaft dafür sorgte, dass David eines Tages zu Johns Tür pilgern würde, mit der Absicht, ihn zu töten.
[ 4]David war paranoid und wurde schon früh in seinem Leben psychotherapeutisch behandelt. Im Jahr 1971 trat er im Alter von 16 Jahren der christlichen Gemeinde der Erweckungsbewegung bei, die der Bekehrung einen hohen Stellenwert beimaß und die praktische christliche Lebensweise propagierte. Dieser Einfluss verstärkte die Abneigung gegen Johns Äußerungen von 1966 und das gerade herausgekommene imagine nahm er als zynische Belustigung Johns über die Religionen wahr.
[ 4]Schon fast sein ganzes Leben lang war David fasziniert von der Geschichte des Fängers im Roggen von Jerome David Salinger, in dem es, basierend auf einem Kinderlied, sinnbildlich darum geht, dass umherirrende Individuen, die sich ahnungslos in einem Roggenfeld bewegen, davor bewahrt werden müssen, in einen imaginären Abgrund am Rande des Feldes zu fallen, von dem sie keine Kenntnis haben. Erzählt wird die sozialkritische Geschichte mit Holden Caulfield als Hauptfigur, die drei Tage auf der Suche nach Selbsterkenntnis durch das New York der fünfziger Jahre irrt und sich vor den erwachsenen Heuchlern in Acht nehmen muss. In Analogie zu dieser Erzählung kann David nichts anderes glauben, als dass er selbst derjenige sein soll, der die ahnungslose umherirrende Menge schützen muss, um nicht dem betrügerischen, von John dargestellten Vorbild zu verfallen und in einen Abgrund der Hingabe zu stürzen. Vor diesem Hintergrund war David überrascht, als John ihm wenige Stunden vor dem Attentat seine Schallplatte signierte und ihn fragte, ob er noch irgendetwas für ihn tun könne. Das entsprach nicht seiner zerstörten Vorstellung von dem gehassten Idol, das nichts von dem, was es sagte, ernst meinte. John war echt nett zu David und er sprach ihn direkt an, genauso wie in seinen Liedern. David musste sein Vorhaben verschieben. Er schaffte es in diesem Moment nicht, den Revolver aus der Tasche zu ziehen und abzudrücken. Sein Weltbild war für einen kurzen Augenblick verschoben worden. Sollte er gehen, nach Hause zurückkehren? Nein, er tat es nicht, und er wartete, bis John später in der Nacht wieder nach Hause kam. Er schoss fünfmal auf John, nachdem dieser im Eingang des Dakota an dem Torbogen vorbeigegangen war, in dessen Schatten David auf ihn wartete, und er traf ihn viermal in den Rücken. Zwei Treffer in die Lunge, eine Kugel ins Schulterblatt und ein Geschoss, das knapp die Arteria subclavia verfehlte. Er benutzte, wie er später aussagte, Hohlspitzgeschosse, weil diese Art Patronen tödlicher waren, da sie beim Aufprall aufpilzen und dadurch mehr Energie auf das Zielmedium übertragen. Nachdem er seine Tat vollbracht hatte, setzte er sich auf den Bürgersteig und begann friedlich in seinem mitgebrachten Buch Der Fänger im Roggen zu lesen. Er wartete ab, bis die Polizei erschienen war, und ließ sich, während eine weitere Streife den schwer verwundeten John ins Roosevelt Krankenhaus brachte, ohne Widerstand festnehmen.
[ 4]Ist es nicht genau das, was alle eint, die über John reden oder schreiben? Sie wollen alle ein Stück von seinem Ruhm und Erfolg abhaben. Jeder, der das Thema John benutzt, zielt damit auch auf eine Teilhabe an dem, wer und was John ist. Und das geschieht natürlich auch zurecht, denn John hat sich für das, was er aus seinem Leben gemacht hat, selbst entschieden. Er wollte den Erfolg und er hat ihn bekommen, und zwar von seinen Fans, den einfachen Leuten. Es ist nur gerecht, dass die von ihm Beeinflussten etwas davon zurückbekommen. Einige sind allein damit zufrieden, sich Johns Musik anzuhören. Andere verspüren den Drang, mehr zu tun und gute oder aber auch schlechte Geschichten über ihn zu schreiben, Filme zu machen oder eine Schule nach ihm zu benennen. Das hat John in uns allen ausgelöst, denn hätte es John nicht gegeben, dann wäre es niemals dazu gekommen. Auch David wurde von John und seiner selbst gewählten Rolle in der Geschichte beeinflusst. Was David tat, war mit Sicherheit das Verwerflichste und Abscheulichste, was ein Mensch tun oder beabsichtigen kann, aber auch hier gilt, dass es ohne den Weg, den John für sich selbst gewählt hat, ohne seine Aussagen und ohne die Lieder, die er geschrieben hat, nicht dazu gekommen wäre, dass sich jemand auf den Weg macht, ihn umzubringen, um dadurch ebenfalls berühmt zu werden. Man mag den Namen dieses Unmenschen oder Subjekts nicht aussprechen wollen, ihn verleugnen, damit er das Ziel, das er mit seiner Tat erreichen wollte, nicht für sich beanspruchen kann, aber es ist unausweichlich und unwiderlegbar so, dass David zu Johns Geschichte dazugehört.
[ 4]Ein versuchtes Verbrechen ist ein Verbrechen, das mit einer bestimmten Absicht bereits begonnen wurde, welches aber nicht in der vorgesehenen Weise und mit der beabsichtigten Zielstellung vollendet werden konnte. Das Strafgesetz des US-Bundesstaates New York klassifiziert die in ihm definierten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten und weist den jeweiligen Klassen ein Strafmaß zu. Das von David versuchte Verbrechen war bei vorausgesetztem Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ein Mord zweiten Grades. Um einen Mord ersten Grades hätte es sich dann gehandelt, wenn er die Absicht gehabt hätte, einen Polizisten oder einen Feuerwehrmann bei der Ausübung seiner beruflichen Pflichten zu töten. Im Gegensatz zum Mord ersten Grades wird die in beiden Fällen zugewiesene höchste existierende Straftatklasse A-I bei Mord zweiten Grads auf die zweithöchste Klasse B reduziert, wenn es ein versuchtes Verbrechen war, was anstelle von einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe mit maximal 25 Jahren Haft belegt wird. Für den versuchten Mord an John fand genau dieses Strafmaß für David Anwendung. Weitere 25 Jahre bekam er wegen Körperverletzung ersten Grades, weil er sich bei seiner Tat einer tödlichen Waffe bediente, was ebenfalls mit der Straftatklasse B belegt ist. So kam es, dass David aufgrund des additiven Systems in der US-Rechtsprechung zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, obwohl mehrere Gutachten Zweifel an seiner geistigen Verfassung zum Ausdruck brachten. Er selbst plädierte auf schuldig und wurde nach der Gerichtsverhandlung in das New-Yorker Staatsgefängnis in Attica eingewiesen, eben jenes Gefängnis, in dem 1971 nach einem Aufstand 43 Insassen und Angestellte von Staatsbeamten erschossen wurden, was der Anlass für den Protestsong attica state von John war, den er im Dezember 1971 während einer Protestkundgebung für John Sinclair in Michigan erstmals öffentlich aufführte.
[ 4]Von der Gerichtsverhandlung und der Inhaftierung von David bekam John nichts mit. Die Strafmaßanhörung, die bei einem Gerichtsverfahren in den USA einer Urteilsverkündung am nächsten kommt fand im August 1981 statt. John lag, nachdem er wegen seiner sehr schweren Verletzungen viel Blut verloren hatte und mehrfach wiederbelebt werden musste, für mehrere Monate im Koma und es war unklar, ob er die folgende Zeit überleben würde. Nachdem er langsam aus diesem Zustand erwachte und sich dem Leben wieder entgegen kämpfte, schottete Yoko ihn von allem Weltlichen ab. Yoko war tief getroffen von den Ereignissen, die am 08. Dezember 1980 stattgefunden hatten. John wurde von der Polizei ins Krankenhaus gebracht und war bei seiner Einlieferung eigentlich bereits tot, und es ist nur dem unnachgiebigen Geschick des Ärzteteams um Dr. Stephan Lynn zu verdanken, dass John diesen Abend, zwar nicht ohne vorerst weiterhin in Lebensgefahr zu schweben, aber immerhin erst einmal überlebte. Die Reaktionen auf das Attentat waren herzzerreißend. Am Folgetag versammelten sich Tausende von Fans vor dem Dakota und sangen spontan Johns Lieder. Moderatoren und Moderatorinnen von Fernsehsendungen konnten die Tränen nicht zurückhalten, nachdem die Nachrichten über den aktuellen kritischen Zustand Johns berichtet worden waren. Sein Attentäter musste derweil von der psychiatrischen Station des Bellevue Krankenhauses, in das er nach der Tat verbracht worden war, in ein sicheres Gefängnis überstellt werden, weil die diensthabenden Polizisten fürchteten, dass wütende Fans das Krankenhaus stürmen könnten. Sämtliche aktuellen Veröffentlichungen von John kletterten auf die oberen Plätze in den Charts. Das half in diesem Moment Niemandem, aber es scheint eine allgemeine Affekthandlung zu sein, dass man sich in unsicheren Zeiten mit den Dingen versorgt, die einem vermeintlich näher an den Zustand eines vermissten Gefühls bringen. Dem kaufmännischen Denken der Plattenverkäufer mag dieses Verhalten nur recht gewesen sein. Johns geschundenem Körper konnte das nichts von den Leiden nehmen, welche die Auswirkungen der Tat an ihm zurückgelassen hatten. Er musste mehrmals operiert werden, um alle Kugeln aus seinem Brustkorb zu entfernen. Der gefährlichste Eingriff war die Kugel, die direkt an der Unterschlüsselbeinarterie lag und diese fast berührte. Eine falsche Bewegung hätte dazu führen können, dass die Arterie perforiert worden wäre, was unweigerlich dazu geführt hätte, dass John innerhalb kürzester Zeit, ohne dass weitere medizinische Hilfe möglich gewesen wäre, innerlich verblutet wäre. Nachdem die komplizierten Operationen erfolgreich abgeschlossen werden konnten, schlief John mehrere Monate lang und erwachte erst wieder im März 1981. Unter Schmerzen, die in den folgenden Monaten palliativ behandelt werden mussten, soll er sich als erstes nach Sean erkundigt haben. Für Sean war das, was passiert war, ebenfalls ein traumatisches Erlebnis gewesen, aber er war, genauso wie Yoko, überglücklich, dass John wieder wach war und dass er noch lebte. Sie zogen sich für die folgenden eineinhalb Jahre noch weiter aus der Öffentlichkeit zurück, als es die fünf Jahre vor seinem Comeback der Fall gewesen war. Diese Zeit war für John mit mehr Leid und physischen Schmerzen verbunden, als es bei jedem bisherigen noch so brutal empfundenen Drogenentzug vorgekommen war. Insgesamt sechs Monate brauchte John für die körperliche Rehabilitation. Er nutze sie aber für eine geistige Konfrontation mit sich selbst, die nicht unbedingt weniger schmerzhaft war als die körperliche. Er tat etwas, was er in dieser Intensität niemals zuvor getan hatte. Er dachte über den Tod nach, und eine der Folgen der Zeit, die er damit verbrachte, war, dass es schien, als wäre er an dem Tag, als das Attentat auf ihn verübt wurde, wirklich gestorben und danach als ein neuer Mensch wiedergeboren worden.
[ 4]Bis auf die Nachricht, dass es John mittlerweile besser ging, wurde nichts an die Außenwelt weitergegeben. Und auch in der anderen Richtung wurde der Informationsfluss auf ein Minimum reduziert. Yoko ließ es nicht zu, dass John wieder in die Öffentlichkeit trat, bevor sein Widersacher hinter Schloss und Riegel war, und obwohl sie hoffte, dass er das Gefängnis nie wieder als freier Mensch verlassen würde, schwang die latente Angst der Ungewissheit über eine mögliche Entlassung in 50 Jahren bereits gegenwärtig mit.
[ 4]John war ein sehr sozialer Mensch. Das war nicht von Anfang an so extrem ausgeprägt, aber verschiedene Beispiele aus seiner Vergangenheit belegen sehr gut, dass er auch Unbekannten gegenüber ein offenes Herz haben konnte. Als er 1971 auf seinem Anwesen Tittenhurst Park einmal unangemeldeten Besuch von einem nach Antworten suchenden Verehrer bekam, der sich allein auf den Weg zu John gemacht hatte und ohne zu klingeln plötzlich vor seinem Haus auftauchte, sagte John ganz offen zu ihm, dass viele seiner Lieder nicht unbedingt etwas mit der Realität zu tun hätten, sondern allein seiner Phantasie entspringen würden und deswegen eigentlich kaum etwas hinein interpretierbar wäre. Nachdem John die Fragen des Fans beantwortet hatte, stellte er fest, dass dieser hungrig sein musste und lud ihm zum Essen in seine Küche ein. Und so saßen sie kurz darauf gemeinsam am Tisch und brachen ihr Brot miteinander. Ein weiterer Beleg für Johns ausgeprägtes Sozialverhalten ist die Art und Weise, wie er mit seinem Vater Alfred Lennon, auch Freddy genannt, umging, als dieser Mitte bis Ende der 60er Jahre plötzlich erneut in Johns Leben trat, nachdem John nichts mehr von ihm gehört hatte, seit er 15 Jahre alt gewesen war. Zuerst war er allerdings etwas verärgert, weil Freddy sich ohne nachzufragen seines berühmten Sohnes bediente, seine eigene Geschichte an ein Zeitungsmagazin verkaufte und sogar eine Schallplatte aufnahm. Dennoch entwickelte sich ein zuerst zögerlicher Briefkontakt, der schlussendlich dazu führte, dass sie sich trafen und miteinander aussprachen. Freddy wohnte danach zusammen mit seiner Freundin eine Zeit lang bei John zu Hause und sie genossen währenddessen Johns Gastfreundschaft. Wenige Monate später zogen die beiden wieder ihrer Wege. John und Freddy schrieben sich danach gelegentlich Postkarten, und wann immer John seinem Vater unter die Arme greifen konnte, veranlasste er, dass sich jemand darum kümmerte.
[ 4]Selbst in der jetzigen Phase, in der er sich vor Schmerzen wand, nachdem er seine Schmerzmittel eingenommen hatte und in der Zeit, bis die Wirkung einsetzte, nicht wusste, in welcher Stellung er sich positionieren sollte, damit ihn der Schmerz nicht umbrachte, dachte er darüber nach, warum dieser Mark David Chapman ausgerechnet an diesem Abend zu ihm gekommen war und das getan hatte, was geschehen war. Was war der Auslöser dafür gewesen, dass er sich auf Hawaii ein Flugticket gekauft und sich auf den Weg nach New York gemacht hatte? Johns Meinung nach war das nicht einfach nur so an diesem Tag passiert. Er glaubte, dass es einen Auslöser gegeben haben musste, einen Zünder, ein initialisierendes Aktionspotential, das nicht ohne tieferen Beweggrund zustande gekommen sein konnte. Was er zu diesem Thema gehört und gelesen hatte, befriedigte seine Neugier nicht. Es war zwar völlig klar, dass Chapman die Züge eines Wahnsinnigen aufwies, aber warum handelte er genau zu diesem Zeitpunkt? Warum nicht eine Woche früher oder drei Monate später? Alle diese Fragen quälten John, und er merkte, zuerst nur ein wenig und dann immer stärker, dass in ihm der Wunsch aufkam, seinen Peiniger kennen zu lernen und ihn danach zu fragen. Er wusste genau, dass Yoko damit nicht einverstanden sein würde, und sein Wunsch war zu diesem Zeitpunkt noch nicht stark genug, dass er auf die Idee kam, mit ihr darüber zu sprechen. Es sollte insgesamt 15 Jahre dauern, bis das Verlangen, das in diesem Moment in ihm zu wachsen begann, soweit herangereift war, dass er seinen Plan in die Tat umsetzte. Er musste einfach herausfinden, warum ein Mensch zu so etwas in der Lage war. Immer wenn irgendwelche Informationen in Zeitungsartikeln oder Berichten über Chapman verbreitet wurden, sog er sie begierig auf. Aber nicht eine einzige dieser stets die gleiche Geschichte erzählenden Erläuterungen gab ihm einen Hinweis oder Anhaltspunkt, der zur Befriedigung seiner Neugier führte. Wenn er ganz ehrlich mit sich war, musste er manchmal zugeben, dass er Mitleid mit David hatte. Und er hatte Mitleid mit sich selbst. Aber er kam auch zu der Einsicht, dass der Preis, noch am Leben zu sein, seine manchmal unerträglichen Schmerzen aufwog. Wenn er darüber nachdachte, wie es Yoko und Sean gegangen wäre, wenn er an diesem Abend nicht überlebt hätte, dann schmerzte ihn das mehr als die Wunden in seinem Rücken. Er konnte sich nicht vorstellen, ohne seine Lieben zu sein oder umgekehrt, seine Lieben ohne sich zu sehen. Dieser Gedanke tat ihm so sehr weh, dass er nicht einmal mehr schreien konnte, sondern seinem geöffneten Mund nur ein stummes kehliges Röcheln entfuhr. Er hatte sich niemals vorstellen können, dass man eine so intensive Emotion überhaupt empfinden kann, die einem die Kehle zuschnürt und den größten Schmerz hervorruft, der in den verborgensten Winkeln der Seele versteckt liegt und darauf hofft niemals zu Tage treten zu müssen. Eine ganze Weile wusste John nicht, wie er diesen Zustand überwinden sollte. Diese überdimensionale Angst davor, gestorben und tot gewesen sein zu können. Er hatte beinahe den Eindruck, er würde wahnsinnig werden, weil er das alles nicht in Einklang miteinander bringen konnte. Die Frage nach dem Warum, nach dem Zeitpunkt, dem Auslöser. Seine Angst davor, Yoko zu verlieren oder sie ihn. Sein Mitleid mit demjenigen, der ihm all das angetan hatte und die Unfähigkeit, über die Situation Herr zu werden. Einer der wenigen Menschen außerhalb seiner Familie, dem er sich neben Yoko anvertrauen konnte, war Andy Warhol, der 1968 selbst ein Attentat nur mit viel Glück überlebt hatte. Eine radikale Frauenrechtlerin schoss mehrmals auf ihn und verwüstete dabei sein Atelier. Andy, der selbst sein Leben lang unter den Folgen des, an ihm verübten Attentats litt, konnte John zwar nicht von seinen Sorgen und Ängsten befreien, aber es tat gut, mit jemanden zu sprechen, der sich in der gleichen Situation befunden hatte und wusste, wovon man spricht, wenn man versucht, sein Leid in Worte zu fassen. Dann ganz plötzlich, ohne dass es sich ankündigte, oder dass er hätte sagen können, woher die Idee gekommen war, fiel John ein, dass er diese Dinge verarbeiten musste. Er musste es aufschreiben. Er musste Töne daraus formen und Melodien machen, Akkorde, Rhythmen, Musik. Es war genau das, was John immer tat oder tun musste, um sich von etwas zu befreien. Er begann, Stücke zu schreiben, und es ging ihm dabei zunehmend besser. Er produzierte sein erstes Album nach dem Attentat, das den Titel my deadly cuts tragen sollte. Es blieb der aufmerksamen Öffentlichkeit nicht verborgen, dass die Initialen dieses Titels die gleichen des vollen Namens seines Attentäters waren. Auf dem Cover des Albums sah man den nackten John in zusammengekrümmter Haltung auf dem Boden liegend, so dass man eigentlich nur seinen Rücken erkennen konnte, auf dem deutlich die vier verheilten Schusswunden zu sehen waren. Dieses Album war sein Befreiungsschlag aus der Krise, die das Attentat bei ihm ausgelöst hatte, Er verdankte es wieder einmal seiner künstlerischen Natur, die es ihm ermöglichte, Ereignisse mit Musik zu bewältigen. Das Album war grandios, denn es zeigte den wieder- und neugeborenen John. Er trat erneut in die Weltöffentlichkeit und sagte damit, dass er noch lebte, dass er wieder gesund geworden war und dass er wieder auf Tour gehen wollte.

Mehr dazu gibt es in meinem biographischen Roman (https://www.neobooks.com/ebooks/rob...schrieben-ebook-neobooks-AV0i5O8hEmIqAD8jNmuL)

viele liebe Grüße

Fencheltee
 



 
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