Einsam leben - jung sterben

KalterKaffee

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Eisam Leben - Jung Sterben

Mit einem Ruck schreckte er auf. Ein flüchtiger Blick auf sein Handy bestätigte seine Befürchtung. Befürchtung würde voraussetzen, dass er aktiv Angst vor etwas hatte, von daher wäre Vorahnung wohl besser gewählt. Was ihn früher stresste, nahm er jetzt als resignierende Tatsache hin. Er hatte nie Probleme mit Pünktlichkeit gehabt, war immer verantwortungsvoll gewesen und wenn man seine negativen Eigenschaften finden wollte, musste man sich auf eine lange Suche begeben – das war früher. Jetzt war alles anders.

Er schlief zu lange, vernachlässigte die Schule und traf sich mit Leuten, die seine Eltern wohl als schlechten Umgang bezeichnet hätten. Eltern… Ein Wort, dass ihm schwer auf der Zunge lag und einen bitteren Nachgeschmack hinterließ. Ein Begriff, der für ihn die Bedeutung verloren hatte und dennoch nicht verschwinden wollte. Vielmehr schwebte er wie das blasse Spiegelbild eines Alptraums in der Mitte seines Zimmers und beobachtete ihn Tag und Nacht mit leeren Augen.
Vor wenigen Wochen noch war er Teil einer perfekte Familie gewesen; die Eltern eine Selbstverständlichkeit, an die er keinen zweiten Gedanken verschwendet hatte.
Wenn er sich in Momenten wie diesem zurückerinnerte, schien es ihm, als liege all das schon Jahre zurück. Er hatte in einer perfekten Illusion gelebt, bis innerhalb weniger Tage alles anders gekommen war. Seine Welt, die aus der Fantasie eines Jugendlichen, Schule und seiner Familie bestanden hatte, war entzwei gerissen worden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht sie wieder zusammenzunähen.

Kurzum, sein Leben ähnelte einen irreversiblen Totalschaden.

Ein Ende, dass schon lange vor dem endgültigen Eintritt unabwendbar bestimmt gewesen war. Wie Rost, der sich langsam durch Metall frisst. Anfangs nicht bemerkbar infiltriert er das harte Material und macht es fragil und gebrechlich. Dringt in immer tiefere Schichten vor, bis es den Kern erreicht hat. Das alles geschieht unter der Oberfläche. Nicht einsehbar von außen, bis es eines Tages zu viel ist. Bis das Metall aufgibt – den Kampf gegen den Rost verliert und bricht. Mit einem Mal wird alles sichtbar, doch es ist zu spät für jegliche Form des Wiederstands. Die Zeit der Heilungsmöglichkeiten ist längst vergangen und alles was bleibt sind die zerbrochenen Teile von dem was einmal war.

Sobald er den Teufelskreis einmal miterlebt hatte, war es als hätte er zum ersten Mal richtig die Augen geöffnet. Rausgerissen aus seiner Scheinwelt, sah er plötzlich klar und deutlich und das, was er sah, ließ seinen Atem stocken. Rost - überall. Egal wo er hinblickte. Unter jedem Lächeln, hinter jedem Kuss konnte er die Risse erkennen, wie sie sich klein, aber deutlich abzeichneten.
Die immer wiederkehrenden Fragen, ob er den Zusammenbruch hätte verhindern können, wenn er die Risse in seiner eigenen Welt früher erkannt hätte? Ob er die Kraft besessen hätte, das was er geschätzt und geliebt hatte zu bewahren, wenn er nur seine Augen richtig geöffnet hätte. Wenn er einen einzigen klaren Blick hinter die Fassade geworfen hätte? Nicht enden wollende Konjunktive.
Sie plagten ihn mittlerweile jede Sekunde seines Lebens und waren zu seinen ständigen Begleitern geworden. Die einzigen, die er hatte. Alle anderen hatten ihn verlassen.

Ein Stoß, der ihn gegen die Scheibe presste zog ihn aus seinen Gedanken zurück in die Gegenwart. Er machte sich nicht einmal die Mühe der verantwortlichen Person einen genervten Blick zuzuwerfen. Der Bus war bis zum Anschlag mit Menschen gefüllt und keiner schien wirklich Platz zu haben. Eine Mischung aus Stimmen, Gerüchen und Körperkontakt, die ihn zu überwältigen drohte. Er presste seine Stirn gegen die kalte Scheibe. Er konnte spüren, wie die Regentropfen von außen gegen das Glas hämmerten und in Strömen an ihm herabliefen. Die Kälte streckte ihre Fühler nach ihm aus und umschloss seinen Kopf in einer eisigen Umarmung. Mit jedem Moment schien sie mehr Gedanken zu betäuben - einzufrieren. Ein Moment Ruhe von sich selbst und das Gefühl in die Stille einzutauchen. Er genoss es. Die Menschen um ihn herum, wie sie hektisch auf ihre Smartphones und Blackberrys einschlugen, schienen bedeutungslos zu werden und verschwammen kontrastlos mit der Umgebung. Es gab nur ihn und die Kälte, denn zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich frei. Alles was zählte, war den Moment auszukosten und so lange wie möglich zu erhalten.
Einige Sekunden gelang ihm das, dann wurde er mit erdrückender Kraft von der Scheibe weggerissen. Und während er sich noch fragte, ob erneut ein ungeduldiger Fahrgast der Auslöser war merkte er, dass seine Füße die Bodenhaftung verloren hatten.
Er schwebte.
Schweben mag das falsche Wort sein, aber in eben diesem Moment war es das einzige, was ihm durch den Kopf ging. Der Moment zog sich in die Länge. Er nahm weder die Schreie der anderen Fahrgäste wahr, noch verfiel er in den selben Panikzustand. Er blieb völlig ruhig und blickte der Wiedervereinigung mit den verloren geglaubten entgegen.
Als seine Überlegungen abrupt endeten und sein Kopf mit der Windschutzscheibe des Busses in Kontakt kam, hing eine letzte melancholische Frage in seinem Kopf:
War das der Zeitgeist seiner Generation - einsam leben und jung sterben?
 



 
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