Einsamer Kampf

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Lord Nelson

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Einsamer Kampf

Als erstes starb der hünenhafte Mann hinter der bröckeligen grauen Mauer. Viktor hatte den hellgrauen Bürstenschopf gleich erspäht, als er kurz über die Mauerkrone ragte, und ohne zu zögern einen sauberen Schuss gesetzt, genau zwischen die Augen. Viktor schüttelte den Kopf. Wie dämlich war das denn, sich einen gräulich gefleckten Tarnanzug anzuziehen, das auffällige helle Kopfhaar dagegen unbedeckt zu lassen! Wenn die anderen auch solche Fehler machten, konnte er von Glück reden. Der nächste Schuss galt dem Kerl auf dem verzinkten Blechdach der schäbigen schiefergrauen Fabrikhalle. Kurz zögerte Viktor, als er durch die Zieloptik das martialisch geschwärzte, jedoch blutjunge Gesicht des Burschen erkannte. Es war ein sympathisches, verschmitztes Gesicht, das ihn an seinen kleinen Bruder erinnerte. Doch dann riss er sich zusammen und tat, was notwendig war. Der Junge fiel mit ausgebreiteten Armen vom Dach und schlug auf dem dunklen Asphalt auf. Das hässliche Krachen des Aufpralls ging Viktor durch Mark und Bein. Immerhin war er sich ganz sicher, auch diesmal präzise getroffen zu haben. Schließlich war er ein ausgezeichneter Schütze, die Windverhältnisse konstant gleichbleibend, und die Entfernung von 120 Fuss - so viel sich das für einen Laien vielleicht auch anhören mochte - noch weit unterhalb seiner Fähigkeiten.

Viktor war kein brutaler Killer. Er empfand beim Töten nicht die geringste Befriedigung. Ihm blieb schlicht keine Wahl. Er wusste, dass seine einzige Chance darin bestand, mit heiler Haut zum Hinterausgang dieser Fabrikhalle zu gelangen. Deshalb musste er töten. Es hieß er oder die. So einfach war das. Seine Strategie war klar. Mit dem Gewehr würde er die Zahl der Feinde zunächst aus sicherer Entfernung so weit wie nur möglich dezimieren. Danach würde er improvisieren müssen, was unweigerlich auf Nahkämpfe hinauslief. Dieses Wissen erfüllte ihn mit banger Anspannung. Wenigstens konnte er vorher noch einige weitere Kämpfer eliminieren. Zuletzt diesen Kerl, von dem er nicht mehr als einen Schemen hinter dem Fenster wahrnahm. Peng. Klirren von Glas, ein dumpfer Aufprall. Getroffen.

Er wartete eine Weile ab, doch es rührte sich nichts mehr. Als er sicher war, dass niemand die Strecke von der Lagerhalle hin zu seinem Garagendach überblickte, sprintete er los. Das schwere Gewehr hatte er zurückgelassen und stattdessen sein Messer zur Hand genommen. In dem unübersichtlichen Gebäude befand sich eine unbekannten Zahl von Feinden. Er musste absolut lautlos töten, wenn er da heil herauskommen wollte. Ihm war klar, dass es nun vor allem auf Schnelligkeit ankam. Obwohl die Riemen des Tornisters tief in seine Schultern schnitten, lief er leichtfüßig wie eine Katze und erreichte unbehelligt die Halle, in der er sich sofort hinter einen zementfarbenen Mauervorsprung rollte. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Ein Schatten wuchs ihm auf dem verdreckten Estrichboden entgegen. Viktor schmiegte sich ganz eng in seine staubige Wandnische. Er hielt das Messer fest umklammert, bereit zum Angriff. Viktor wusste, dass die Klinge des titangrauen Hightech-Messers unglaublich scharf war. Als der Mann an ihm vorbeischlich, holte er aus und stieß ihm das Messer mit einem gezielten Stoß ins Herz. Der Mann sackte zusammen, gurgelte leise, spuckte ein wenig Blut und hauchte in Viktors Armen sein Leben aus. Viktor ließ ihn leise zu Boden gleiten und vermied es, das Gesicht mit den blicklosen grauen Augen genauer anzusehen. Er kam gar nicht dazu, auf das Rasen seines Herzens zu achten, denn jetzt vernahm er das leise Rumpeln des Lastenaufzugs. Er musste direkt vor der rostigen Eisentüre bereit stehen, noch bevor sie sich öffnete. Mit mehreren großen Sätzen schaffte er es in letzter Sekunde dorthin. Ehe der überrumpelte Feind an Gegenwehr auch nur denken konnte, hatte Viktor ihn mit dem linken Arm umfangen und ihm mit einem ruhigen, konzentrierten Schnitt mit der rechten Hand die Kehle aufgeschlitzt. Es ging ganz leicht. Der Kopf des muskulösen Mannes klappte ein wenig nach hinten. Erschreckt ließ Viktor den noch zuckenden Körper fallen. Der Mann war längst tot, doch sein Blut strömte in breiter Bahn unaufhörlich weiter aus der klaffenden Wunde und verwandelte den grau melierten PVC-Boden im Inneren des Lifts rasend schnell in ein tiefrotes Rechteck. Viktor schaffte es nur mit Mühe, seinen Blick von der grauenhaften Szene abzuwenden. Diese Faszination erstaunte ihn selbst. Müsste ihn dieser schlaffe Leichnam nicht abstoßen, und all das glitschige Blut, das inzwischen auch an ihm klebte? Was spürte er, Blutrausch? Nein, das war es nicht. Eher das erhebende Gefühl, unbesiegbar zu sein. Sekundenlang genoss er das Bewusstsein der eigenen Stärke und Überlegenheit, besann sich dann jedoch und spähte wachsam umher. Weit und breit war in dem unübersichtlichen Halbdunkel keine Spur eines Feindes zu sehen. Konnte er es wagen, jetzt zu dem Hinterausgang der Halle zu rennen, der so verlockend nahe schien?

Plötzlich vernahm er ein Geräusch von hinten. Er wirbelte herum. Zwei hell lackierte Türen schoben sich zur Seite. Dahinter sah Viktor im ersten Moment nichts als glühendes Orange. Dann erkannte er eine langgestreckte, hell ausgeleuchtete Halle. Die grelle Wirkung der orangen Verkleidungen an den Wänden und der Gewölbedecke wurde durch das matte Schwarz von mächtigen Säulen mit breit ovalen Grundrissen noch gesteigert. Ströme vielfarbig gekleideter Zivilisten eilten, ihn überhaupt nicht beachtetend, in großer Zielstrebigkeit ihres Weges. Viktor hatte das Gefühl, sich im falschen Film zu befinden. Von allen Seiten strömten nun Frauen wie Männer direkt auf die Türöffnung und damit auf Viktor zu. Wie bunt sie waren! Jetzt fielen ihm auch die Spiegelflächen an den Breitseiten der schwarzen Säulen ins Auge. Viktor starrte sekundenlang, ehe er die Umgebung wiedererkannte. Helle Panik bemächtigte sich seiner. Er musste augenblicklich da raus! Unter rücksichtslosem Einsatz seiner Ellenbogen versuchte er, sich gegen den Strom der Menschen einen Weg zur Tür zu bahnen.

Da vernahm er eine barsche Stimme dicht an seinem Ohr. “Bass doch auf mit dei’m Rucksack, du Krischperl.(*)” Jemand hatte seinen Rucksack am Henkel ergriffen und den völlig perplexen Viktor einfach zur Seite gedreht. Dank einer fiesen Hebelwirkung war Viktor den Zug- und Drehkräften hilflos ausgeliefert. Im Augenwinkel erspähte er seinen Widersacher, einen behäbigen Herrn in mittleren Jahren, der einen lodengrünen Trachtenjanker und einen dazu passenden Hut trug. Glühender Hass flutete Viktors Gehirn, dann ein einziger Gedanke: “mach ihn kalt”. Seine Finger zuckten gewohnheitsmäßig zum Messer. Dabei entfiel ihm das Smartphone und landete scheppernd auf dem Boden. Auf dem nach oben zeigenden Display leuchteten blutrote Schlieren, die sich rasch über die gesamte Fläche ausbreiteten. Darüber blinkte höhnisch in zackigen Buchstaben ein Text. “Game over”. Oh verdammt. Viktor stöhnte laut auf. Nicht schon wieder! Er war so knapp davor gewesen! Doch was half es. Er sank auf die Knie. Zwischen hektisch trappelnden Füßen gelang es ihm, sein Handy vom Boden aufzuklauben und buchstäblich in letzter Sekunde durch die sich bereits schließende Tür zu hechten.

Ächzend ließ er sich auf eine der silbrig schimmernden Metallbänke unterhalb der Spiegelflächen fallen und scheuerte mit der Hand hektisch über die Bügelfalten seiner Hose, die an den Knien leicht verschmutzt war. Der Chef seiner Filiale legte ebenso viel Wert auf ein tadellos gepflegtes Äußeres wie auf Pünktlichkeit. Wieder einmal würde er es in letzter Sekunde gerade so hinter seinen Schalter schaffen - am Marienplatz morgens aus der U-Bahn zu kommen, war doch immer der reinste Kampf.


(*) bayerischer Ausdruck für eine schmächtige Person, hier in etwa synonym zu “Suppenkasper”
 

Blumenberg

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Hallo Lord Nelson,

jetzt finde ich einmal Zeit mich etwas näher mit einem deiner Texte zu befassen. Du verschränkst in deiner Geschichte zwei Wirklichkeitsebenen (eine virtuelle und eine reale) miteinander und führst den Leser im ersten Teil deiner Geschichte auf eine falsche Fährte, indem du ihn zunächst das virtuelle Geschehen als Wirklichkeit empfinden lässt. Dieser Teil ist dir finde ich gut gelungen, da du die Brutalität dieses Kriegsszenarios einfängst. Trotzdem eine kleine Anmerkungen:

Schließlich war er ein ausgezeichneter Schütze, die Windverhältnisse konstant gleichbleibend, und die Entfernung von 120 Fuss- so viel sich das für einen Laien vielleicht auch anhören mochte - noch weit unterhalb seiner Fähigkeiten.
Auch als Laie erscheinen mir 36 Meter keine Distanz, bei der ein Schütze mit einem Gewehr über besonderes Talent verfügen muss. Ich würde hier die Distanz noch einmal merklich vergrößern.

Der Übergang zum zweiten Teil und der zweite Teil selbst, den du als plötzliches Hereinbrechen einer weiteren Wirklichkeitsebene aufbaust, ist für meinen Geschmack noch etwas unrund, da du die Atmosphäre in diesem Teil nicht mehr so gut eingefangen bekommst.

Viktor hatte das Gefühl, sich im falschen Film zu befinden.
Die Sprache in diesem Satz scheint mir hier nicht so recht zu passen, ist es doch eine reflexive Feststellung, die über das plötzliche Erleben bereits hinausgeht und damit die Überraschung des Protagonisten nicht so recht einzufangen vermag, abseits davon, dass es sich um einen sehr phrasenhaften Satz handelt.

Ein Vorschlag:
Die grelle Wirkung der orangen Verkleidungen an den Wänden und der Gewölbedecke wurde durch das matte Schwarz von mächtigen Säulen mit breit ovalen Grundrissen noch gesteigert. Ströme von Zivilisten eilten, ihn überhaupt nicht beachtetend, in großer Zielstrebigkeit ihres Weges, von allen Seiten liefen sie direkt auf die Türöffnung und damit auf Viktor zu. Wie bunt sie waren! Jetzt fielen ihm [red]au ch[/red] die Spiegelflächen an den Breitseiten der schwarzen Säulen ins Auge. Viktor starrte sekundenlang, ehe er die Umgebung wiedererkannte. Helle Panik bemächtigte sich seiner. Er musste augenblicklich raus! Unter rücksichtslosem Einsatz seiner Ellenbogen versuchte er, sich gegen den Strom der Menschen einen Weg zur Tür zu bahnen.

Dank einer fiesen Hebelwirkung…
Ich würde fies streichen und einen bestimmten Artikel verwenden, außerdem scheint mir Dank in diesem Kontext nicht das richtige Wort zu sein.

Dabei entfiel ihm das Smartphone und landete scheppernd auf dem Boden.
Ich würde statt entfiel einen plastischeren Ausdruck, wie etwa glitt im durch die Finger, verwenden, um ein direkteres Erleben zu schildern.

Er sank auf die Knie. Zwischen hektisch trappelnden Füßen gelang es ihm [red]gerade noch[/red], sein Handy vom Boden aufzuklauben und buchstäblich in letzter Sekunde durch die sich bereits schließende Tür zu hechten.

Wieder einmal würde er es in letzter Sekunde gerade so hinter seinen Schalter schaffen - am Marienplatz morgens aus der U-Bahn zu kommen, war doch immer der reinste Kampf.
Ich finde hier könntest du den letzten Teilsatz streichen, da mir der zu sehr wie ein überflüssiges Fazit vorkommt. Dass eine Analogie zwischen Arbeitsweg und Kampf besteht, sollte der Leser aus dem Text schließen können, ohne dass du ihm das noch nennen müsstest.

Vielleicht helfen dir meine Anmerkungen ja ein wenig weiter.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Lord Nelson

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Hallo Blumenberg,

freudig überrascht (wenn auch ziemlich spät) bemerke ich, dass diese Kurzgeschichte doch noch mit einem Kommentar beehrt wurde.

Deine hervorragenden Anmerkungen und Vorschläge finden meine uneingeschränkte Zustimmung (die 120 Fuß kamen nachträglich ins Spiel, damit der Bursche nicht so weit rennen muss, aber ein bisserl mehr dürfte es ruhig sein) - Überarbeitung folgt noch.

Vielen lieben Dank
Lord Nelson
 



 
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