Eitelkeit

Eitelkeit
(März 2002)

Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Mein Leben hat also erst angefangen und ist noch lange nicht zu Ende. Fünfzig Jahre warten noch darauf, sinnvoll verbracht zu werden. Stimmt das wirklich: „Alles wird gut.“? So viel steht fest: Ich muss mein Leben verbringen, ob ich will oder nicht. Aber wird es gut sein? Ich habe da so meine Zweifel. Wie ich eben gerade vor dem Computer sitze und diese Worte einhämmere! Völlig emotionslos, ohne jegliche innere Beteiligung. Mein Denken und mein Sein haben mittlerweile nicht mehr viel miteinander zu tun. Alle Welt redet von Allerrettung, Himmel und ewige Glückseligkeit, aber was soll das schon sein?

Die Zeit vergeht. Nichts passiert. Was soll ich dazu sagen? Alles, was das Leben ausmacht, langweilt mich. Musik, reden, essen, trinken, Sex. Nein, es langweilt mich nicht, aber es erscheint mir relativ belanglos. Irgendwie verstreicht der Tag immer. Ehe ich mich versehe, ist es Abend geworden. Was soll ich dazu sagen? Ich finde das ja nicht wirklich beunruhigend. Ich betrachte alles gelassen. Alles wird anders. Ich bin nicht mehr derselbe. Mit jedem Tag werde ich anders. Alles verändert sich. Verändert sich alles zum Besseren? Panik kenne ich zumindest nicht. Ein gewisses Unwohlsein ist alles. Wird alles tatsächlich besser? Ich bin im Laufe der Jahre anspruchsloser geworden. Muss denn alles anders werden? Ich lebe doch. Reicht das nicht aus?

Ein Satz aus Gustave Flauberts „Versuchung des Antonius“: „Ich habe soviel gedacht, dass ich nichts mehr zu sagen habe.“ – So geht es mir. Warum sollte ich Tagebuch führen? Was könnte ich denn über mich schreiben, das ich noch nicht geschrieben habe, das ich noch nicht gedacht habe? Die Gedanken kehren wieder wie Sonne, Mond und Sterne. Es sind immer dieselben Strukturen ähnlich den Sternbildern. Ich könnte jahrelang dahocken und einfach gar nichts tun und gar nichts wollen. Es bleibt gelegentliches Essen und Scheißen und ähnliche Dinge. Dennoch empfinde ich diesen Zustand nicht erbärmlich. Ich könnte jeden Tag so verbringen.

Wer hat Zeit zu lesen, was ich zu sagen habe? Besser ist es, wenn ich schweige. Noch nie wurde so viel geschrieben wie heute. Ist es bedeutsam, was ich zu sagen habe? Ist es heilig? Wohnt eine Kraft in meinen Worten? –Keineswegs! Ich benutze Worte, die mir nicht gehören. Andere Menschen vor mir haben dieselben Worte benutzt. Die Topoi, über die ich rede, wurden schon von anderen besprochen, vielleicht in Griechisch, vielleicht vor zweitausend Jahren.
Auch dieser Gedanke, dass es nichts Neues gibt und alles sich nur wiederholt, stammt nicht von mir. Lesen wir doch in dem Prediger, einem spätjüdischen Weisheitsbuch: „Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: »Sieh, das ist neu«? Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.“ Hat nicht Pythagoras gesagt, dass die Zeit kommen wird, da er wiederum mit seinem Stock vor den Leuten stehen wird und diese wiederum mit denselben Worten belehren wird?

Gott kann nur etwas hören, was es gibt. Und was es zu hören gibt, hört er gerne. Und was noch nicht so gut klingt, dem hilft er, dass es besser klingt. Aber mich kann Gott nicht hören, weil es mich gar nicht gibt. Meine Gebete kann er nicht hören, weil er von ihnen gar nichts weiß. Jedes Gebet hört er an. Er ist nämlich nicht so, dass er keine Gebete anhört. Denn er ist ein gütiger Gott. Mich hingegen gibt es nicht, weil in mir nichts Gutes ist. In mir wohnt der Heilige Geist nicht. Und weil er nicht in mir wohnt, gibt es mich nicht. Denn alles ist zu ihm geschaffen, alles von ihm und alles durch ihn. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen. Nichts ist nicht geschaffen. Und da ich nichts bin, gibt es mich nicht.
Wo ist Nietzsche? Dort, wo er hingehört: im Himmel. Denn es hat ihn gegeben. Und Gott errettet alles. Auch das Etwas Nietzsche. Ich hingegen... hier sehen wir einen Text. Er hat nichts mit mir zu tun. Ich bin nicht der Text. Der Text ist. Ich nicht. „Ich“ ist ein Wort. „Alexander Rahm“ auch. Es sind auf dem Bildschirm gewisse Transistoren, durch die eine gewisse Stromspannung fließt und solche Muster erzeugen, die Buchstaben genannt werden. Später ist es Druckerschwärze auf einstmaligen Bäumen. Der Körper wird errettet. Aber ich bin nicht der Körper. Die Gedanken werden errettet. Aber ich bin nicht die Gedanken. Ich bin nichts. Und das weiß niemand.
 



 
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