Endlosschleife

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andymacht

Mitglied
Der spärlich beleuchtete Flur bot ein Bild des Abschieds, das nicht besser zu dieser Nacht hätte passen können.
Ein schlampig abgestelltes Fahrrad und ein Kinderwagen, in dem hoffentlich nie ein Kind liegen musste, standen zwischen mir und der alten schwarzen Haustür.

„Willst du wirklich nicht zum Frühstück bleiben?“, rief es hinter mir aus der kleinen gemütlichen Altbauwohnung.
Mit einem Knall schlug die Tür hinter mir zu und teilte dem halb nackten Mädchen so meine Antwort mit.

Natürlich hätte ich auch zum Frühstück bleiben können, natürlich hätte ich bei ihr im Arm liegen können und natürlich wäre es schön, mal wieder neben einem Mädchen aufzuwachen.
Aber der Preis dafür war mir einfach zu hoch. Nähe aufbauen heißt auch immer
wieder loslassen zu müssen.

Für diese Nacht hatte ich genug menschliche Nähe und ging entspannt, und ich glaube auch etwas zerzaust, durch den langsam nahenden Sonnenaufgang nach Hause.

Als ich meine Wohnungstür aufschob, wurden im Innern ein paar leere Flaschen und
etwas Pappe beiseite geschoben. Ein weiterer Grund, warum ich grundsätzlich zu den Frauen gehe. Wichtiger jedoch ist es Anonymität zu bewahren.

Nachdem ich meinen Kapuzenpulli in die Ecke geschmissen, meine Schuhe von den Füßen getreten und meine Hose herunter geschält hatte, ging ich an meinem
großen, mit grünen Blättern geschmückten Staubfänger, auch Yucca-Palme genannt, vorbei, fiel erschöpft in mein Bett und starrte zur Decke.

Irgendetwas fehlte dort oben, nur was?
In diesen Gedanken versunken überkam mich der Schlaf.
Wie immer an der besten Stelle des Traumes klingelte mein Handy und teilte mir mit, dass es Zeit zum Aufstehen sei.

Etwas Gutes hatte das abrupte Aufschlagen meiner Augen aber doch. Ich nahm einen Edding von der Fensterbank, stellte mich auf das Bett und begann sofort an einer noch leeren Stelle meiner Decke zu schreiben:

Glück?
Du schaust mich an und weinst,
so frage ich dich, wieso liebst du mich?
Glücklich werd' ich nicht, so glaube mir!
Mit mir wärst du es ebenfalls nicht!

Der Weg zum Glück ist steinig,
eine Zweigung fordert eine Entscheidung.
Kopf und Herz sind sich dabei nie einig.

Nun mache einen Schritt voran,
lasse dabei ein Stück von dir zurück.
Deine Vergangenheit erinnert dich daran,
dies ist nicht der Weg zum Glück!

Das Gedicht immer wieder lesend und auch später auf dem Weg zur Uni wunderte ich mich noch immer über die Verse an meiner Decke, deren Bedeutung sich mir zu diesem Zeitpunkt nicht erschließen wollte.

Die Vorlesung war langweilig. Statistische und stochastische Testverfahren, Verteilungen und jede Menge Variablen, Wahrscheinlichkeiten und Varianzen.
Eine zwanzig Seiten lange Formelsammlung soll uns diese Welt erklären.
Doch welche Formelsammlung benutze ich für meine Welt?
Gibt es eine Formel, die mir das Gefühl erklärt, wie es ist, eine liebende Mutter zu haben?

Aufgewachsen bin ich seit meinem dritten Lebensjahr bei meiner Oma. Eine gütige Frau, doch der Altersunterschied war einfach zu groß und als die Pubertät kam, wurde ich etwas schwierig, wie sie es ausgedrückt hatte.
Ab meinem 12. Lebensjahr übernahm ein Heim und damit hauptsächlich die Straße meine
Erziehung. Das Leben lehrte mich einiges über zwischenmenschliche Beziehungen.
Betrogen, verraten, bestohlen, belogen, verlassen und enttäuscht werden wollte ich niemals mehr und beschloss daher, niemandem mehr diese Macht über mich zu geben.
Den Rest der Vorlesung beschäftigte ich mich damit, meine Gedanken in meinem Notizblock zu skizzieren, um meiner Zimmerdecke ein weiteres Gedicht hinzufügen zu können.

Leben nach Maß
Wozu das ständige Lachen
und das ständige Reden.
Wieso kann man nicht einfach sehen,
dass ich allein sein will,
weil ich alleine glücklich bin.

Was bringt es mir so zu sein wie ihr?
Immer nach dem Normmaß leben,
bloß nicht zu viel von sich geben.
Abstand bringt Sicherheit. Doch
ist dies der Weg zur Einsamkeit.

Struktur im Leben,
wie im klassischen Gedicht?
Das kann ich euch nicht geben.
Nein, das will ich nicht!

Im Anschluss an die Vorlesung fand mein wöchentlicher Männerabend mit meinem besten Kumpel Mike statt.
„Schreibst du zur Zeit an einer interessanten Geschichte?“, fragte mich Mike in unserer Stammkneipe.
„Mir fehlt zurzeit die Inspiration.“
„Ich fand deine letzte Story ziemlich spannend.“, versuchte er das Gespräch weiterzuführen; schaute mich dann aber an und fügte stirnrunzelnd hinzu; „ Es scheint mir, als ob du etwas auf dem Herzen hast. Also lass hören!“
„Warum ist das Leben eine einzige Grauzone?“ fragte ich ihn, nachdenklich am Tresen sitzend.
„Ist es das? Ich empfinde es eher als Achterbahnfahrt! Aber es wundert mich nicht, dass es für dich nur grau aussieht!“, antwortete er mir und leerte sein Bier.

Überrascht setzte ich meine Flasche ab.
„Wieso wundert es dich nicht?“
„Weißt du“, begann er, “du siehst alles grau, weil du dem Schwarzen aus dem Weg gehst. Du lässt seit ich dich kenne keinen Menschen wirklich nah an dich heran um nicht verletzt zu werden. Um nicht zu scheitern studierst du etwas, das dich nicht erfüllt, statt deinem Traum zu folgen!“
Nachdenklich setzte ich mein Bier ab.


Er schaute in sein leeres Glas und erzählte weiter. „Es gibt ein schönes Zitat, das ich ganz passend finde: „Es gibt Risiken, die einzugehen man sich nicht leisten kann; aber auch solche, bei denen man es sich nicht leisten kann, sie nicht einzugehen.“
„Ein weiser Satz“, pflichtete ich ihm bei.

„Es kommt noch besser. Er stammt von Peter Ferdinand Drucker, einem Ökonom.“
Mit seiner einzigartigen Fähigkeiten, immer zur richtigen Zeit die passenden Zitate und Sprüche aus seinem Archiv zu kramen, überraschte und begeisterte Mike mich jedes Mal aufs Neue.

„Es fällt mir halt schwer mich zu öffnen.“, entgegnete ich ihm und fügte noch hinzu, froh zu sein, wenigstens mit ihm über solche Dinge reden zu können.
Nachdem ich noch etwas geflirtet hatte, verließ ich den Ort doch alleine, da ich nicht in Stimmung war.
Etwas in Gedanken ging ich an diesem kalten Winterabend durch die verlassenen Straßen.

Plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören an meine Vergangenheit zu denken. Meine Mutter wurde von einem betrunkenen Alkoholiker in einer siffigen Bar niedergestochen, als ich gerade drei Jahre alt war.
Trotzdem trinke ich und treibe mich in siffigen Bars herum, was einerseits kein Problem
darstellt, aber auf der anderen ein Konflikt ist, den ich weder zu definieren noch zu lösen vermag.

Manchmal komm ich mir vor wie ein Raucher, dessen rauchender Vater an Lungenkrebs gestorben ist und der auf seiner Beerdigung auf seinen Sarg ascht.
Im Augenwinkel nahm ich jetzt eine junge attraktive Frau wahr, die mir entgegen kam und an mir vorbei ging.
Als ich diesen kurzen Moment der Begegnung schon wieder vergessen wollte, kam ich zu einer roten Fußgängerampel. Die Straßen waren alle schon längst verlassen und leer.
Als ich gerade hinübergehen wollte, fiel mir die junge Blondine von vorhin wieder auf. Sie stand diesmal direkt neben mir und lächelte mich an. Ihr Lächeln fror meine Bewegung ein, so dass ich mit dem rechten Bein auf der Straße und mit dem linken noch auf dem Bürgersteig verweilte. Ich lächelte zurück.

Sie passte sich meiner wahrscheinlich etwas seltsam wirkenden Position an, indem sie ihr rechtes Bein ebenfalls auf die Straße stellte und mich fragte, ob wir es wagen sollten über die rote Ampel zu gehen.

„Wir wagen es“, antwortete ich und löste mich aus meiner Starre.
Unsere Wege verliefen lang genug parallel, um ihren Vornamen, ihren Beruf und ihre restabendlichen Aktivitäten herauszufinden.
Dass sie nur umgedreht war, um mich kennen zu lernen, erfuhr ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
An einer Kreuzung trennten sich unsere Wege und ich lud sie zu einem Kaffee ein.
„Ich kann dir auch genau einen guten Grund nennen, warum du nicht ablehnen solltest“, versuchte ich ihr meine Einladung noch schmackhafter zu machen.
„Da bin ich aber mal gespannt!“ Sie schaute mich mit ihren großen blauen Augen erwartungsvoll an.
„Weil es ein witziger und origineller Anfang einer sehr guten Geschichte wäre.“
Am nächsten Abend saß ich wieder am Tresen und schilderte mein Erlebnis.

„Und, hat sie zugesagt?“, fragte mich Mike nachdem er die erste Runde bestellt hatte.
„Ja, sie hat zugesagt. Ich werde mich morgen Abend mit ihr im Café Cult treffen“ , antwortete ich.
„Den Spruch werde ich mir merken.“ Wir stießen an und er fügte die Frage hinzu, ob ich diesmal bei ihr zum Frühstück bleiben würde.

„Ich will dich nicht schockieren, aber dieses Mal werde ich es anders machen und sie erst kennen lernen.“
„Du willst also sagen, dass unser letzter Dialog über grau und schwarz dir gezeigt hat, dass es auch Vorteile haben kann, einen Menschen näher, als nur körperlich, kennen zu lernen?“ Einen gewissen sarkastischen Ton konnte Mike sich bei dieser Aussage nicht verkneifen.
„Vielleicht...“
„Hört, hört! Hast du dir denn schon Gedanken gemacht, wie euer erstes Date nach der Tasse Kaffee weiter geht?“
„Nein, aber das ist in Ordnung. Ich bin der Meinung, dass man nicht soviel planen sollte, da sich schöne Momente am Besten ohne Rahmen entfalten können.“

Später am Abend kam ich in meine Wohnung. Nachdem ich richtig aufgeräumt und geputzt hatte, setzte ich auf mein Sofa und schaute mich um. Mir fiel die goldene Figur des Feuervogels Phoenix auf, die mir Mike zum Geburtstag geschenkt hatte. Er verglich mich, aufgrund meiner Vergangenheit, immer wieder gerne mit dem Phoenix aus der Asche und als er sie bei Ebay fand, musste er sie mir kaufen.
Mit warmem Wasser säuberte ich die Figur und dekorierte anschließend eine leere Stelle auf meinem Badezimmerregal damit.

„Schön hier“, sprach ich, als ich mein Zimmer wieder betrat in den leeren Raum und mein Blick fiel auf meine große Yucca-Palme.
„Durch dich wird mein Zimmer zum Ort der Ruhe und Entspannung“ sprach ich, säuberte mit einem nassen Lappen ihre Blätter und goss sie anschließend.

„Wie war dein Date letzte Woche?“ Mit dieser Frage wurde unser wöchentliches Treffen in unserer Stammkneipe von Mike eröffnet.
„Welches meinst du?“, entgegnete ich trocken.
„Wie viel hattest du denn letzte Woche?“
„Vier.“
„Ich dachte du wolltest dich ändern. Also braucht man sich den Namen Jenny nicht zu merken?“
„Doch natürlich. Wir haben uns letzte Woche viermal gesehen.“ Zufrieden lächelte ich ihn an.
„Glückwunsch! Wird es ein fünftes geben? Ich meine mehr als vier sind ja bei dir sonst nicht drin gewesen.“

„Morgen Abend koche ich für sie bei mir!“
„Bei dir? Ich dachte du nimmst nie eine Frau mit zu dir. Hat es dich endlich erwischt?“
Obwohl ich diese Frage mit einem Achselzucken abtat, brachte mich diese trotzdem zum nachdenken. Hatte es mich erwischt?

Am nächsten Abend klingelte es pünktlich an meiner Tür und etwas nervös öffnete ich.
„Was gibt es denn leckeres zu Essen?“, fragte mich Jenny und betrat meine Wohnung.
„Laut Google das beste Date-Menü. Salat als Vorspeise, Pasta als Hauptgericht und Schokoladeneis als Nachtisch.“
„Klingt als ob du dir wirklich Gedanken gemacht hast.“

Der Abend verlief harmonisch und romantisch. Nach dem Essen saßen wir noch lange auf dem Sofa und es kam auch zum ersten Kuss.
„Ich denke, ich werde mich langsam auf dem Heimweg machen. Es ist schon spät geworden.“
„Ich mache nicht nur ein gutes Abendessen, sondern auch ein sehr gutes Frühstück“, flüsterte ich ihr ins Ohr und küsste ihren Hals.

„Wenn das so ist, werde ich diese wilde Behauptung doch einmal auf ihren Wahrheitsgehalt
überprüfen müssen“, scherzte sie.

Die nächsten Wochen waren einfach traumhaft. Wir sahen uns regelmäßig und waren beide der Meinung, dass dies der Beginn von etwas Großem war.
„Weißt du“, fing sie an, als sie in meinem Arm lag, „ich lese gerne deine Gedichte an deiner
Zimmerdecke. Ich finde es sehr schön, dass du schreibst, aber dort steht kein einziges positives Gedicht. Auch kein Liebesgedicht. Hast du nie schöne Momente gehabt, worüber es sich zu schreiben lohnt?“
Mir lief es kalt den Rücken herunter. Dem Thema Vergangenheit konnte ich bis jetzt immer gut aus dem Weg gehen. Sie sprach selbst nicht viel von ihrem Elternhaus und wir trafen uns
grundsätzlich nie bei ihr. Um keine Gegenfragen zu riskieren, sprach ich dieses Thema
selbst nicht an.

„Kannst du mir einen Gefallen tun und in meinem Notizblock auf der letzten beschriebenen Seite nachsehen? Dort steht ein Gedicht, dass du mir bitte vorlesen sollst“, sprach ich, nahm den Edding und stellte mich auf das Bett.

Ferdinand und Luise

Die aufgehende Sonne,
das Licht von mir nicht erkannt.
Schleich ich durchs Dunkel,
und reiche dir meine Hand.

Ein Schritt ins Leere,
und der Schmerz wär’ groß.
Angst begleitet mich,
doch ich lasse dich nicht los.

Naiv ist die liebende Seele,
doch nur diese in der Lage,
auch größte Gefahren zu überwinden,
um zu dir zu finden.

„Das finde ich schön. Wieso hast du es denn Ferdinand und Luise genannt?“, fragte sie mich. Froh darüber, das Thema von meiner Vergangenheit auf Lyrik gelenkt zu haben, antwortete ich:
„Es ist eine Hommage an Schillers Kabale und Liebe. Die Protagonisten heißen dort so.“

„Ihr wart schon wieder bei dir in der Wohnung? Wie lange seid ihr nun schon zusammen? Fünf Monate?“, fragte mich mein bester Freund.
„Es hat sich noch nicht wirklich ergeben. Tatsächlich habe ich sie auch letztens darauf
angesprochen. Sie meinte, bei mir wäre es leichter, da sie noch bei ihrem Vater wohnt und er es nicht gerne sieht, dass fremde Männer bei ihm im Haus übernachten.“
„Gut, mag sein, aber warst du denn überhaupt schon bei ihr? Ich meine auch mal tagsüber?“
„Nein, nicht drin. Wieso ist das denn so wichtig?“
„Es wird dir nicht gefallen. Aber meiner Meinung nach ist die Vergangenheit eines Menschen ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Du weißt ja nichts von ihr. Wie war ihre Kindheit? Wie sieht ihr Zimmer aus? Ein Buch kaufst du auch nicht, ohne wenigstens den Klappentext gelesen zu haben.“
„So bleibt es spannend.“, erwiderte ich kurz und knapp.

„Offenheit ist der Weg zum Glück. Öffne dich ihr und teile deine Vergangenheit mit ihr. Erzähl’ ihr deine Gefühle, dann wird sie sich auch öffnen. Wie viel hast du ihr denn von dir erzählt?“
Mein Schweigen zeigte ihm die Antwort und dass eine weitere Diskussion über dieses Thema nicht in meinem Sinne war.
Eines Abends lag ich mit Jenny in meinem Bett und scherzte herum. Schon ein halbes Jahr lang hatte sie mir nun mein Leben verschönert und es war der richtige Moment um ihr das auch zu sagen.

„Weißt du“, begann ich „seit einem halben Jahr hast du mein Leben bereichert. Meine Gefühlen für dich könnte ich in drei einfache Worte fassen, doch diese werden in dieser Welt so oft zum falschen Zeitpunkt und von den falschen Personen gesagt, dass sie dem was ich empfinde nicht wirklich gerecht werden.
So habe ich versucht meine Gefühle für dich in vier Verse zu fassen.“
Zu ihr runtergebeugt flüsterte ich ihr ins Ohr:

Ich schaute ihr in ihre nassen Augen, nahm ihre Hand und sprach weiter:
„Liebe ist Vertrauen.“
Mit ihrer Hand auf meiner Brust erzählte ich ihr von meiner Vergangenheit und dem frühen Verlust meiner Mutter durch einen Betrunkenen. Ich erzählte ihr von den Jahren bei meiner Oma und auf der Straße. Vom Gefühl wie es ist, keinen Vater zu haben, weil dieser mich aus religiösen Gründen verstoßen hatte und vieles, vieles mehr.
Es war eine wunderbare Nacht und so nah wie ihr fühlte ich mich noch keinem anderen Menschen.

Am nächsten Abend fand wieder unser kleiner Stammtisch statt.
„Der Verlust meiner Mutter durch einen Betrunkenen schien ihr sehr nah zu gehen“, erklärte ich Mike am gewohnten Ort.
„Natürlich, die Frau ist eben sehr empathisch. Ich finde es klasse, dass du diesen Weg gegangen bist.
Willkommen in der weißen Lebenszone.“
Wir stießen an.
„Schade ist, dass sie mir so wenig von sich erzählt hat. Über ihren Vater zum Beispiel, bei dem sie lebt, hat sie gar nicht gesprochen. Und bei ihr war ich immer noch nicht.“
„Hat sie es dir denn verboten?“, wollte Mike wissen.
„Nein, das nicht. Wir meiden das Thema bloß“, entgegnete ich ihm.
„Kauf ihr einen Blumenstrauß und überrasch’ sie. Klingel einfach an ihrer Tür und sag ihr, dass du Sehnsucht hattest.“
„Weißt du was, das mache ich vielleicht sogar“, antwortete ich und ignorierte, wie immer, die anderen hübschen Mädchen im Raum.
Ich befolgte seinen Rat und einige Tage später stand ich abends mit einem Blumenstrauß vor Jennys Haustür und klingelte.
Erstaunt schaute sie mich an, war aber erfreut und nach einer sinnlichen Begrüßung schauten wir in ihrem Zimmer einen Film.
„Wieso hattest du immer etwas dagegen, dass wir hier Zeit miteinander verbringen?“, fragte ich sie.
Sie schien etwas verunsichert und antwortete: „In Ordnung Marc, ich wollte es dir nicht sagen, aber mein Vater hat Probleme und ich bin das Einzige, was er noch hat.“
Auf einmal riss ein wütender Mann mittleren Alters die Zimmertür auf und schaute mich aus seinen roten, hasserfüllten Augen an.
Wer ist denn dieser Bastard?“, schrie er in unsere Richtung und schlug die Zimmertür wieder zu.
„Jennifer, bewege gefälligst deinen Hurenkörper in den Flur, ich muss mit dir reden“, schrie es von draußen.

„Was ist denn hier los?“, flüsterte ich und war völlig geschockt.
„Ich habe dir doch gesagt, dass mein Vater keinen Männerbesuch duldet. Außerdem ist er ein starker Trinker. Er hat halt Probleme.“
„Sofort!“, donnerte es erneut aus dem Flur.

Sie stand auf und meine Versuche sie davon abzuhalten, waren genauso zwecklos, wie der Versuch einer rasenden Wildschweinmutter zu erklären, dass man ihren Ferkeln nichts tun würde.

Wie ein Film liefen Bilder vor meinem inneren Auge ab. Meine Mutter blutüberströmt in einer
siffigen Bar. Die Jahre auf der Straße und die wohlhabenden, nach Alkohol stinkenden Männer, die ich dort kennen lernte.
Es war ein grausames Geschrei und als Jenny schrie und der Knall einer Backpfeife oder etwas Schlimmeren noch in dem Flur verhallte, riss ich die Tür auf und sah sie, sich vor Schmerzen windend, auf dem Boden liegen.

Ihr Erzeuger schüttelte sich die rechte Hand und blickte mit leeren, vom flüssigen Teufel rot gefärbten, Augen in mein wahrscheinlich zuerst geschocktes, dann von vor Wut verzerrtes Gesicht.
Dem unkontrollierten „Herumgefuchtel“ des Betrunkenen ausweichend, streckte ich ihn mit einem Schlag nieder. Ich trat ihm noch zweimal in die Seite und als ich sicher war, dass er erstmal nicht mehr aufstehen würde, drehte ich mich zu meiner Freundin um.

Sie stand wieder und schaute an mir vor bei auf den langsam atmenden Männerkörper.
„Papa!“, schrie sie und kniete sich neben den Mann, der sie ein paar Minuten zuvor noch als
Schlampe beschimpft und geschlagen hatte. „Was hast du getan Marc? Wieso bist du überhaupt hierher gekommen?“, schrie sie mich an.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass ihr Vater nicht ernsthaft verletzt worden war, schmiss sie mich mit den Worten "ich sei der schlimmste Fehler, den sie je begangen habe, und dass sie mich nie wieder sehen wolle" aus ihrem Haus.

Alle Erklärungsversuche und Liebesschwüre zerschmetterten an der kalten Mauer die zwischen uns hochgezogen wurde.
Mein Kummer führte mich in einen Spirituosengeschäft und anschließend in meine Wohnung.
Ein junger Mann, der mir fremd zu sein schien, mit roten Augen und zerzausten Haaren schaute mir aus dem Badezimmerspiegel entgegen.

„Ich schaudere nicht, den kalten schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll!“, sprach es aus dem Spiegel.

„Was willst du mir sagen?“, fragte ich. Doch ich wusste schon worauf er hinaus wollte. Das Werk aus dem diese Worte stammten war mir mehr als nur bekannt und es lag aufgeschlagen auf meinem Schreibtisch.

„Du reichtest ihn mir und ich zage nicht. All!all! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines
Lebens erfüllt! So kalt, so starr an der Pforte des Todes anzuklopfen“, zitierte mein Spiegelbild weiter aus „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfang von Goethe

„Daß ich des Glückes hätte teilhaftig werden können, für Dich zu sterben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben. Wenn ich dir die Ruhe, die Wonne Deines Lebens wieder schaffen könne“, zitierte ich weiter, etwas nuschelnd, durch die halbe Flasche russischen Trosts.

Mein Blick fiel auf den Fön, die Steckdose und die Badewanne. Wird es nun so enden?

„Aber ach! Das ward nur wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die...“, sprach der Mann aus dem Spiegel weiter und verstummte plötzlich mitten im Satz.
Der Feuervogel Phoenix, vom Badezimmerregal, kam mir gerade recht, um die dunklen Gedanken in tausend Teile zu zerschlagen.
„Sieben Jahre Pech sind mir lieber, als das Ende von Werther zu teilen“, sprach ich, ging in mein Zimmer, schmiss meine Yucca-Palme um, schnappte mir den Edding und schrieb an meine Wand:

Himmel und Hölle
Schön war die Zeit, der Himmel nah
Heute, groß das Leid!
Langsam wird mir klar,
es wird niemals mehr so sein,
wie es einmal war!

Ich sehe dich,
du siehst mich nich'!
Der Himmel ist fern.
Gute Erfahrungen wünsche ich mir,
doch nur aus den schlechten kann man lernen.

Wo ist die Liebe, die uns verband?
Ich erreiche des Wahnsinns Rand!
Die Hölle bricht ein!
Doch ich spüre, ohne das Schwarze,
wäre das Weiße nicht so rein

Weitere Versuche den Kontakt zu Jenny wieder aufzunehmen waren erfolglos und ich lernte mit der Zeit, damit umzugehen. Ich treffe mich nun auch wieder mit Mike. Zuerst hatte ich ihm die Schuld für all das, was passiert war, gegeben. Aber mir wurde klar, dass seine Ratschläge nur die Ratschläge eines Freundes waren und am Abend sahen wir uns wie gewohnt an unserem „Erholungsort“.

„Du hast dich weiterentwickelt und sie war noch nicht so weit. Das Wichtigste ist nun, bloß nicht wieder in dein altes Muster zurück zu fallen“, betonte er.
Zustimmend nickend, schaute ich hinüber zu einem sehr hübschen Mädchen am anderen Ende des Tresens.

Der gut beleuchtete Hausflur bot ein Bild des Abschieds, das nicht besser zu dieser Nacht hätte passen können.
Die Mülltonnen waren schlampig abgestellt und versperrten etwas den Weg nach draußen.
„Wieso gehst du denn? Ich dachte du wolltest mit mir frühstücken?“, sprach das Mädchen vom Tresenende.
„Wir sind fast Nachbarn und ich frühstücke grundsätzlich allein“, antwortete ich.
„Echt? Wo wohnst du denn?“
Der Knall der zufallenden Tür teilte ihr meine Antwort mit, nur diesmal konnte ich mir, als ich
entspannt und ich glaube auch etwas zerzaust durch den Sonnenaufgang nach Hause ging, ein Lächeln nicht verkneifen.
 

andymacht

Mitglied
Der spärlich beleuchtete Flur bot ein Bild des Abschieds, das nicht besser zu dieser Nacht hätte passen können.
Ein schlampig abgestelltes Fahrrad und ein Kinderwagen, in dem hoffentlich nie ein Kind würde liegen müssen, standen nur noch zwischen mir und der alten, schwarzen Haustür.
„Willst du wirklich nicht zum Frühstück bleiben?“, rief es/sie hinter mir aus der kleinen, gemütlichen Altbauwohnung.
Mit einem Knall schlug die Tür hinter mir zu und teilte dem halb nackten Mädchen meine Antwort mit.
Natürlich hätte ich auch zum Frühstück bleiben können, natürlich hätte ich bei ihr im Arm liegen können, und natürlich wäre es schön, mal wieder neben einem Mädchen aufzuwachen.
Aber der Preis dafür war mir einfach zu hoch. Nähe aufbauen heißt, auch immer wieder los lassen zu müssen.
Für diese Nacht hatte ich genug menschliche Nähe und ging entspannt - und ich glaube, auch etwas zerzaust - durch den langsam nahenden Sonnenaufgang nach Hause.
Während ich meine Wohnungstür aufschob, wurden im Innern dadurch ein paar leere Flaschen und etwas Pappe beiseite geschoben. Ein weiterer Grund, warum ich grundsätzlich zu den Frauen ging.
Wichtiger jedoch ist es, die Anonymität zu bewahren. Nachdem ich meinen Kaputzenpulli in die Ecke geschmissen, meine Schuhe von den Füßen getreten und meine Hose herunter geschält hatte, ging ich an meinem großen, mit grünen hängenden Blättern behafteten Staubfänger, auch Yucca-Palme genannt, vorbei und fiel erschöpft in mein Bett und starrte zur Decke.
Irgendetwas fehlte dort oben …. nur was?
In diesen Gedanken versunken überkam mich der Schlaf.
Wie immer an der besten Stelle des Traumes klingelte mein Handy und teilte mir mit, dass es Zeit zum Aufstehen sei.
Ein Gutes hatte das abrupte Aufschlagen meiner Augen jedoch. Ich nahm den Edding von der Fensterbank, stellte mich auf das Bett und begann sofort, an einer noch leeren Stelle meiner Decke zu schreiben.

Glück?
Du schaust mich an und weinst,
so frage ich dich, wieso liebst du mich?
Glücklich werd ich nicht, so glaube mir!
Mit mir wärst du es ebenfalls nicht!

Der Weg zum Glück ist steinig,
eine Zweigung fordert eine Entscheidung.
Kopf und Herz sind sich dabei nie einig

Nun mache einen Schritt voran,
lasse dabei ein Stück von dir zurück.
Deine Vergangenheit erinnert dich daran,
dies ist nicht der Weg zum Glück!

Das Gedicht immer wieder lesend wunderte ich mich auch auf dem Weg zur Uni immer noch über diese Worte, deren Bedeutung sich mir zu diesem Zeitpunkt nicht erschließen wollte.
Die Vorlesung war langweilig. Die Statistik und Stochastik. Testverfahren, Verteilung und jede Menge Variablen, Wahrscheinlichkeiten und Varianzen.
Eine 20-seitige Formelsammlung soll uns diese Welt erklären.
Welche Formelsammlung benutze ich für meine Welt?
Gibt es eine Formel, die mir das Gefühl erklärt, wie es ist, eine liebende Mutter zu haben? Aufgewachsen bin ich seit meinem dritten Lebensjahr bei meiner Oma. Eine gütige Frau, doch der Altersunterschied war einfach zu groß und als die Pubertät kam, wurde ich etwas “schwierig”, wie sie es ausgedrückt hatte. Von da an übernahm ein Heim und dadurch hauptsächlich die Straße meine Erziehung. Das Leben lehrte mich einiges über zwischenmenschliche Beziehungen.
Betrogen, verraten, bestohlen, belogen, verlassen und enttäuscht werden wollte ich niemals mehr und beschloss daher, niemanden mehr diese Macht über mich zu geben.
Den Rest der Vorlesung beschäftigte ich mich damit, meine Gedanken in meinem Notizblock zu skizzieren, um ein weiteres Gedicht meiner Zimmerdecke hinzufügen zu können.
Leben nach Maß
Wozu das ständige Lachen
und das ständige Reden?
Wieso kann man nicht einfach sehen,
dass ich allein sein will,
weil ich alleine glücklich bin.

Was bringt es mir, so zu sein wie ihr?
Immer nach dem Normmaß leben,
bloß nicht zu viel von sich geben.
Abstand bringt Sicherheit. Doch
ist dies der Weg zur Einsamkeit?

Struktur im Leben,
wie im klassischen Gedicht?
Das kann ich euch nicht geben.
Nein, das will ich nicht!

Anschließend, nach der Vorlesung, war mein wöchentlicher Männerabend mit meinem besten Kumpel.
„Schreibst du zur Zeit an einer interessanten Geschichte?“, fragte mich Mike in unserer Stammkneipe.
„Mir fehlt zur Zeit die Inspiration.“
„Ich fand deine letzte Story ziemlich spannend.“, versuchte er das Gespräch weiterzuführen, schaute mich aber dann an und fügte besorgt hinzu, „ Es scheint mir, als ob du etwas auf den Herzen hast. Also lass hören.“
„Warum ist das Leben eine einzige Grauzone?“, fragte ich ihn, nachdenklich am Tresen sitzend.
„Ist es das? Ich empfinde es eher als Achterbahnfahrt! Aber es wundert mich nicht, dass es für dich nur grau aussieht.!“, antwortete er mir und leerte sein Glas.
Überrascht setzte ich meine Flasche ab.
„Wieso wundert es dich nicht?“
„Weißt du“; begann er ,“ du siehst alles grau, weil du dem Schwarzen aus dem Weg gehst. Du lässt, seit ich dich kenne, keinen Menschen wirklich nah an dich heran, um nicht verletzt zu werden. Nur um nicht zu scheitern, studierst du etwas, dass dich nicht ausfüllt, anstatt deinem Traum zu folgen.“
Er schaute in sein leeres Glas und erzählte weiter.
„Es gibt ein schönes Zitat, das finde ich ganz passend: Es gibt Risiken, die einzugehen man sich nicht leisten kann- aber auch solche, bei denen man es sich nicht leisten kann, sie nicht einzugehen.“
„Ein weiser Satz“, pflichtete ich ihm bei.
„Es kommt noch besser. Er stammt von Peter Ferdinand Drucker, einem Ökonom.“
Mit seiner einzigartigen Fähigkeit, immer zur richtigen Zeit die passenden Zitate und Sprüche aus seinem Archiv zu kramen, überraschte und begeisterte mich Mike jedes Mal aufs Neue.
„Es fällt mir halt schwer mich zu öffnen.“, entgegnete ich ihm und fügte noch hinzu, dass ich froh war, wenigstens mit ihm über solche Dinge reden zu können.
Nachdem ich noch etwas geflirtet hatte, verließ ich den Ort doch alleine, da ich nicht in Stimmung war.
Etwas in Gedanken ging in ich an diesem kalten Winterabend durch die verlassenen Straßen. Plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören, an meine Vergangenheit zu denken. Meine Mutter wurde von einem betrunkenen Alkoholiker in einer zwielichtigen Bar niedergestochen, da war ich gerade drei Jahre alt. Trotzdem trinke ich und treibe mich ebenso in diesen Bars herum, was einerseits kein Problem darstellt. Auf der anderen Seite ist es ein Konflikt, den zu lösen ich nicht in Stande bin, geschweige denn ihn zu definieren.
Manchmal komme ich mir vor wie ein Raucher, dessen rauchender Vater an Lungenkrebs gestorben ist und auf seiner Beerdigung auf seinen Sarg ascht.
Im Augenwinkel nahm ich eine junge attraktive Frau wahr, die mir entgegen kam, dann an mir vorbei ging. Als ich diesen kurzen Moment der Begegnung schon fast wieder vergessen hatte, kam ich zu einer roten Fußgängerampel. Die Straßen waren alle schon längst verlassen und leer.
Als ich gerade hinübergehen wollte, fiel mir die junge Blondine von vorhin wieder auf. Sie stand diesmal direkt neben mir und lächelte mich an. Ihr Lächeln fror meine Bewegungen ein, so dass ich mit dem rechten Bein auf der Straße und mit dem linken noch auf dem Bürgersteig verweilte/stand, und ich lächelte zurück.
Sie passte sich meiner wahrscheinlich etwas seltsam wirkenden Postion an, in dem sie ihr rechtes Bein ebenfalls auf Straße stellte und mich fragte, ob wir es wagen sollten, über die rote Ampel zu gehen.
„Wir wagen es.“ , antwortete ich und löste mich aus meiner Nagetierstarre.
Unsere Wege verliefen lang genug parallel, um ihren Vornamen, ihren Beruf und ihre restabendliche Aktivitäten herauszufinden.
Dass sie nur umgekehrt war, um mich kennen zu lernen, erfuhr ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
An einer Kreuzung trennten sich unsere Wege, und ich lud sie auf einen Kaffee ein.
„Ich kann dir auch genau einen guten Grund nennen, warum du nicht ablehnen solltest.“,versuchte ich, ihr meine Einladung noch schmackhafter zu machen.
„Da bin ich aber mal gespannt...“, meinte sie und schaute mich mit ihren großen blauen Augen erwartungsvoll an.
„Weil es ein witziger und origineller Anfang einer sehr guten Geschichte wäre..“
Am nächsten Abend saß ich wieder am Tresen und schilderte mein Erlebnis.
„Und, hat sie ja gesagt?“, fragte mich Mike, nachdem er die erste Runde bestellt hatte.
„Ja, sie hat ja gesagt. Ich werde mich morgen Abend mit ihr im Café Cult treffen!“, antwortete ich.
„Den Spruch werde ich mir merken...“, wir stießen an, und er fügte die Frage hinzu, ob ich diesmal bei ihr zum Frühstück bleiben würde.
„Ich will dich nicht schockieren, aber diesmal werde ich es anders machen und sie erst kennen lernen.“
„Du willst also sagen, dass unser letzter Dialog über grau und schwarz dir gezeigt hat, dass es auch Vorteile haben kann, einen Menschen näher als nur körperlich kennen zu lernen?“ Einen gewissen sarkastischen Ton konnte Mike sich bei dieser Aussage nicht verkneifen.
„Vielleicht...“
„Hört, hört! Hast du dir denn schon Gedanken gemacht, wie euer erstes Date nach der Tasse Kaffee weiter geht?“
„Nein, aber das ist in Ordnung. Ich bin der Meinung, dass man nicht soviel planen sollte, da sich schöne Momente am besten ohne Rahmen entfalten können.”
Später am Abend kam ich in meine Wohnung. Nachdem ich richtig aufgeräumt und geputzt hatte, setzte ich mich auf mein Sofa und schaute mich um. Mir fiel die goldene Figur des Feuervogels Phoenix auf, die mir Mike zum Geburtstag geschenkt hatte. Er verglich mich gerne immer wieder aufgrund meiner Vergangenheit mit Phoenix aus der Asche, und als er sie bei Ebay fand, musste er sie mir kaufen. Mit warmen Wasser säuberte ich sie und dekorierte anschließend mit ihr eine leere Stelle auf meinem Badezimmerregal.
„Schön hier.“, sprach ich, als ich mein Zimmer wieder betrat, in den leeren Raum, und mein Blick fiel auf meine große Yucca-Palme.
„Durch dich wird mein Zimmer zum Ort der Ruhe und Entspannung“,sagte ich, säuberte mit einem nassen Lappen ihre Blätter und goss sie anschließend.
„Wie war dein Date letzte Woche?“, mit dieser Frage wurde unser wöchentliches Treffen in unserer Stammkneipe von Mike eröffnet.
„Welches meinst du?“, entgegnete ich trocken.
„Wieviel hattest du denn letzte Woche?“
„Vier.“
„Ich dachte, du wolltest dich ändern. Also braucht man sich den Namen Jenny nicht zu merken?“
„Doch natürlich. Wir haben uns letzte Woche viermal gesehen....“ Zufrieden lächelte ich ihn an.
„Glückwunsch! Wird es ein fünftes geben? Ich meine, mehr als vier sind bei dir ja sonst nicht drin gewesen.“
„Morgen Abend koche ich für sie bei mir...“
„Bei dir? Ich dachte du nimmst nie eine Frau mit zu dir. Hat es dich endlich erwischt?“
Schnell mit einem Achselzucken beantwortet brachte mich diese Frage trotzdem zum Nachdenken.
Hatte es mich erwischt?
Am nächsten Abend klingelte es pünktlich an meiner Tür, und etwas nervös öffnete ich.
„Was gibt es denn Leckeres zu Essen?“, fragte mich Jenny und betrat meine Wohnung.
„Laut “Google” das beste Date-Menü. Salat als Vorspeise, Pasta als Hauptgericht und Schockladeneis zum Nachtisch.“
„Klingt, als hättest du dir wirklich Gedanken gemacht ..“
Der Abend verlief harmonisch und romantisch. Nach dem Essen saßen wir noch lange auf dem Sofa, und es kam auch zum dem ersten Kuss.
„Ich denke, ich werde mich langsam auf dem Heimweg machen, es ist schon spät geworden.“
„Ich mache nicht nur ein gutes Abendessen, sondern auch ein sehr gutes Frühstück“, flüsterte ich ihr ins Ohr und küsste ihren Hals.
„Wenn das so ist, werde ich diese wilde Behauptung doch einmal auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen müssen.“
Die nächsten Wochen waren einfach traumhaft. Wir sahen uns regelmäßig und waren beide der Meinung, dass dies der Beginn von etwas Großem war.
„Weißt du“, fing sie an, als sie in meinem Arm lag, „ ich lese gerne deine Gedichte an deiner Zimmerdecke. Ich finde es sehr schön, dass du schreibst, aber dort steht kein einziges positives Gedicht. Auch kein Liebesgedicht. Hast du nie schöne Momente gehabt, worüber es sich zu schreiben lohnt?“
Mir lief es kalt den Rücken herunter. Dem Thema Vergangenheit konnte ich bis jetzt ja immer gut aus dem Weg gehen. Sie sprach selbst nicht viel von ihrem Elternhaus und wir trafen uns grundsätz nie bei ihr. Um keine Gegenfragen zu riskieren, sprach ich dieses Thema selbst nicht an.
„Kannst du mir einen Gefallen tun und in meinem Notizblock auf der letzten beschriebenen Seite nachsehen? Dort steht ein Gedicht, das du mir bitte vorliest..“, sprach ich, nahm den Edding und stellte mich auf das Bett.
Ferdinand und Luise
Die aufgehende Sonne,
das Licht von mir nicht erkannt.
Schleich ich durchs Dunkel,
und reiche dir meine Hand.

Ein Schritt ins Leere,
und der Schmerz wär’ groß.
Angst begleitet mich,
doch ich lasse dich nicht los:

Naiv ist die liebende Seele,
doch nur diese ist in der Lage,
auch größte Gefahren zu überwinden,
um zu dir zu finden.
„Das finde ich schön. Wieso hast du es denn Ferdinand und Luise genannt?“, fragte sie mich und, froh darüber, das Thema von meiner Vergangenheit auf Lyrik gelenkt zu haben, antwortete ich:
„Es ist eine Hommage an Schillers Kabale und Liebe. Die Protagonisten heißen halt so.“
„Sie war schon wieder bei dir? Wie lange seit ihr nun schon zusammen? Vier oder fünf Monate?“, fragte mich mein bester Freund bei unserem nächsten Treffen.
„Fünf. Es (was denn???) hat sich noch nicht wirklich ergeben, zusammenzuziehen (?). Tatsächlich habe ich sie auch neulich darauf angesprochen. Sie meinte, bei mir wäre es leichter, da sie noch bei ihrem Vater wohne und er es nicht gerne sehe, wenn fremde Männer bei ihm im Haus übernachten würden.
„Gut, mag sein, aber warst du denn schon überhaupt bei ihr? Ich meine, auch mal tagsüber?“
„Nein, nicht in der Wonung. Wieso ist das denn so wichtig?“
„Es wird dir nicht gefallen. Aber meiner Meinung nach ist die Vergangenheit eines Menschen ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Du weißt ja nichts von ihr. Wie war ihre Kindheit? Wie sieht ihr Zimmer aus? Ein Buch kaufst du auch nicht, ohne wenigstens den Klappentext gelesen zu haben.“
„So bleibt es spannend.“, erwiderte ich kurz und knapp.
„Offenheit ist der Weg zum Glück. Öffne dich ihr und teile ihr deine Vergangenheit und Gefühle mit, dann wird sie sich auch öffnen. Wie viel hast du ihr denn von dir erzählt?“
Mein Schweigen zeigte ihm meine Antwort und dass eine weitere Diskussion über dieses Thema nicht in meinem Sinne war.
Eines Abend lag ich mit Jenny im Bett und scherzte herum. Ein halbes Jahr lang hatte sie mir nun schon mein Leben veschönert, und es war jetzt der richtige Moment, ihr das auch zu sagen.
„Weißt du“, begann ich „ seit einem halben Jahr hast du mein Leben bereichert. Aus meinen Gefühlen für dich heraus könnte ich nun drei einfache Worte sagen, doch diese werden in dieser Welt so oft zum falschen Zeitpunkt und zu wenig zu den richtigen Personen gesagt, dass sie dem, was ich empfinde, nicht wirklich gerecht werden. Also habe ich versucht, meine Gefühle für dich, in vier Versen auszudrücken“
Zu ihr gebeugt flüsterte ich ihr ins Ohr: „Jede Sekunde ohne dich ist wie eine Woche ohne Sonnenschein. Jeder Atemzug ohne dich ist wie ein Monat ohne Glücklichsein. Jeder Augenblick ohne dich ist wie tausend Hiebe. Ein Leben ohne dich wäre ein Leben ohne Liebe.“
Ich schaute ihr in ihre tränennassen Augen, nahm ihre Hand und sprach weiter:
„Liebe ist Vertrauen.“
Mit ihrer Hand auf meiner Brust erzählte ich ihr von meiner Vergangenheit, dem frühen Verlust meiner Mutter durch einen Betrunkenen., die Jahre bei meiner Oma und auf der Straße. Vom Gefühl, wie es war, keinen Vater zu haben, weil dieser mich aus religiösen Gründen verstieß und vieles mehr beschrieb ich ihr.
Es war eine wunderbare Nacht, und so nah wie ihr hatte ich mich vorher noch keinem Menschen gefühlt.
Am nächsten Abend fand wieder unser kleiner Stammtisch statt.
„Der Verlust meiner Mutter durch einen Betrunkenen schien ihr sehr nah zu gehen“, erklärte ich meinem Freund am gewohnten Ort.
„Natürlich - die Frau ist eben sehr einfühlsam. Ich finde es klasse, dass du diesen Weg gegangen bist. Willkommen in der weißen Lebenszone.“, wir stießen an.
„Schade ist, dass sie mir so wenig erzählt hat. Über ihren Vater zum Beispiel, bei dem sie lebt, hat sie gar nicht gesprochen. Und bei ihr war ich immer noch nicht.“
„Hat sie es dir denn verboten?“, wollte Mike wissen.
„Nein, das nicht. Wir meiden das Thema bloß,“ entgegnete ich ihm.
„Kauf ihr einen Blumenstrauß und überrasche sie. Klingel einfach an ihrer Tür und sage ihr, dass du Sehnsucht hattest.“
„Weißt du was, dass mache ich vielleicht!“, antwortete ich und ignorierte, wie immer, die anderen hübschen Mädchen im Raum.
Tatsächlich befolgte ich seinen Rat und einige Tage später stand ich abends mit einem Blumenstrauß vor Jennys Haustür und klingelte.
Erstaunt schaute sie mich an, war aber erfreut und nach einer stürmischen Begrüßung schauten wir uns in ihrem Zimmer einen Film an.
„Wieso hattest du immer etwas dagegen, dass wir hier Zeit miteinander verbringen?“, fragte ich sie.
Sie schien etwas verunsichert und antwortete: “In Ordnung Marc, ich wollte es dir nicht sagen, aber mein Vater hat Probleme und ich bin das Einzige, was er noch hat...“
Auf einmal riss ein wütender Mann mittleren Alters die Zimmertür auf und schaute mich aus seinen roten, hasserfüllten Augen an.
„ Wer ist denn dieser Bastard?“ schrie er in unsere Richtung und schlug die Zimmertür wieder zu.
„Jennifer, bewege gefälligst deinen Hurenkörper in den Flur, ich muss mit dir reden.“, tönte es von draußen.
„Was ist denn hier los?“, flüsterte ich und war völlig geschockt.
„Ich habe dir doch gesagt, dass mein Vater keinen Männerbesuch duldet. Außerdem ist er ein starker Trinker. Er hat Probleme...“
„Sofort!“, donnerte es erneut aus dem Flur.
Sie stand auf, und meine Versuche, sie davon abzuhalten, waren genauso zwecklos, wie einer rasenden Wildschweinmutter zu erklären, dass man ihren Ferkeln nichts tun würde.
Wie paralysiert liefen Bilder vor meinem inneren Auge ab. Meine Mutter blutüberströmt in dieser Bar. Die Jahre auf der Straße und die wohlhabenden, nach Alkohol stinkenden Männer, die ich dort kennen lernte.
Es gab einen höllischen Lärm, und als Jenny schrie und der Knall einer Ohrfeige noch im Flur verhallte, riss ich die Tür auf und sah, wie sie sich auf dem Boden liegend vor Schmerzen wand.
Ihr Erzeuger schüttelte sich die rechte Hand und blickte mit leeren, vom flüssigen Teufel rot gefärbten Augen in mein wahrscheinlich zu erst geschocktes, dann von vor Wut verzerrtes Gesicht.
Dem unkontrollierten Herumgefuchtel des Betrunken ausweichend streckte ich ihn mit einem Schlag nieder. Ich trat ihm noch zwei Mal in die Seite, und als ich sicher war, dass er erst einmal nicht mehr aufstehen würde, drehte ich mich zu meiner Freundin um.
Sie stand schon wieder aufrecht und schaute an mir vorbei auf den langsam atmeten Männerkörper.
„ Papa!“, schrie sie und kniete sich neben den Mann, der sie ein paar Minuten zuvor noch als Schlampe beschimpft und geschlagen hatte.
„Was hast du getan, Marc? Warum bist du bloß hierher gekommen?“, schrie sie mich an.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass ihr Vater nicht ernsthaft verletzt war, warf sie mich mit den Worten, ich sei der schlimmste Fehler, den sie je begangen hätte und sie würde mich nie wieder sehen wollen, aus ihrem Haus.
Alle Erklärungsversuche und Liebesschwüre zerschellten an der kalten Mauer, die binnen Sekunden zwischen uns hoch gezogen worden war.
Mein Kummer führte mich schnurstracks in einen Spirituosengeschäft und anschließend in meine Wohnung.
Ein junger Mann, der mir fremd zu sein schien, schaute mir mit roten Augen und zerzausten Haaren aus dem Badezimmerspiegel entgegen.
„Ich schaudere nicht, den kalten schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll!“, sprach das fremde Spiegelbild.
„Was willst du mir sagen?“, fragte ich. Doch ich wusste schon, worauf er hinaus wollte. Das Werk, aus dem das Zitat stammte, war mir mehr als nur bekannt und es lag aufgeschlagen auf meinem Schreibtisch
„Du reichtest ihn mir und ich zage nicht. All! All! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so starr an der Pforte des Todes anzuklopfen.“, zitierte mein Spiegelbild weiter aus Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfang von Goethe
„Dass ich des Glückes hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben. Wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wieder schaffen könne.“, fuhr ich, etwas nuschelnd durch die halbe Flasche russischen Trosts, fort.
Mein Blick fiel auf den Fön, die Steckdose und die Badewanne. Sollte es nun so enden?
„Aber ach! Das ward nur wenigen Edlen gegeben, ihr Blut für die...“, sprach der Mann aus dem Spiegel weiter und verstummte plötzlich mitten im Satz. Der Feuervogel Phoenix, vom Badezimmerregal, kam mir gerade recht, um mit ihm die Gedanken in tausend Teile zu zerschlagen.
„Sieben Jahre Pech sind mir lieber, als das Ende von Werther zu teilen“, sprach ich, ging in mein Zimmer, warf meine Yucca-Palme um, schnappte mir den Edding und schrieb an meine Wand:
Himmel und Hölle
Schön war die Zeit, der Himmel nah
Heute, groß das Leid!
Langsam wird mir klar,
es wird niemals mehr so sein,
wie es einmal war!

Ich sehe dich,
du siehst mich nich'!
Der Himmel ist fern.
Gute Erfahrungen wünsche ich mir,
doch nur aus schlechten kann man lernen.

Wo ist die Liebe, die uns verband?
Ich erreiche des Wahnsinns Rand!
Die Hölle bricht ein!
Doch ich spüre, ohne das Schwarze
wäre das Weiße nicht so rein

Weitere Versuche, den Kontakt zu Jenny wieder aufzunehmen, blieben erfolglos, und ich lernte mit der Zeit, damit umzugehen. Trotzdem treffe ich mich nun auch wieder mit Mike. Nachdem ich ihm zunächst die Schuld an allem gegeben hatte, wurde mir klar, dass seine Ratschläge nur die Ratschläge eines Freundes waren, und am Abend sahen wir uns wie gewohnt an unserem Erholungsort.
„Du hast dich weiterentwickelt, und sie war noch nicht so weit. Das Wichtigste ist nun, nicht wieder in dein altes Muster zurück zu fallen.“, betonte er.
Zustimmend schaute ich hinüber zu einem sehr hübschen Mädchen am anderen Ende des Tresens.
Der gut beleuchtete Hausflur bot ein Bild des Abschieds, das nicht besser zu dieser Nacht hätte passen können.
Die Mülltonnen warenschlampig abgestellt und versperrten den Weg nach draußen.
„Warum gehst du denn? Ich dachte du wolltest mit mir frühstücken?“, sprach das Mädchen vom Tresenende. „Wir sind fast Nachbarn und ich frühstücke grundsätzlich allein“, antwortete ich. „Echt - wo wohnst du denn? Der Knall der zufallenden Tür teilte ihr meine Antwort mit, nur diesmal konnte ich mir, als ich entspannt - und ich glaube, auch etwas zerzaust - durch den Sonnenaufgang nach Hause ging, ein Lächeln nicht verkneifen.
 



 
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