Erstes Sterben

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Claustrophob

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Erstes Sterben

Heute, Samstagnachmittag, verlassen wir das Haus. Wir gehen die Bahnhofstraße hinunter, an den Hallen des Obstgroßmarkts vorbei und erreichen nach zehn Minuten den Rand des Dorfes. Hinter dem Haus des Tierarztes überqueren wir die Bahnlinie. Dort steht das winzige Bahnwärterhaus und die geteerte Straße setzt sich als Feldweg fort. Noch ein paar Schritte den Bahndamm entlang, dann biegt der Weg in die Weinberge ab.

Wir sind mit einer Familie aus dem Dorf verabredet. Mein Herz hüpft. Der Großvater von Sigrid, einer Freundin meiner Schwester, vielleicht ihre beste, hat etwas außerhalb des Dorfes inmitten der Reben, ein Paradies geschaffen – für mich das Paradies. Es ist umzäunt und hat eine Eisentür, die mit einer massiven Kette gesichert ist. Der Teufel selbst würde sich die Zähne daran ausbeißen. Kein wachender Engel mit dem Flammenschwert verteidigt den Eingang. Gott Großvater selbst schließt das schwere Vorhängeschloss auf und lässt uns ein.

Kaum habe ich die magische Pforte überquert, bin ich schon in einer anderen Welt. Im gedämpften Licht des mächtigen Dschungels von Sonnenblumen, mehr als doppelt so hoch wie der Knirps, der ich bin, stelle ich mich mit dem Stecken, meinem Schwert, den Wilden zum Kampf und erlege, nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet, den Tiger, der hungrig auf Menschenfleisch durch die grüne Hölle schleicht. Gleich neben dem Dschungel hat Gott Großvater in weiser Voraussicht ob der lauernden Gefahren einen hölzernen Aussichtsturm errichtet, auf dessen Plattform, fast in den Wolken, ich nur über die leicht zu verteidigende Leiter gelange. Von dort aus trotze ich den Stürmen um mich herum und halte in dem unübersichtlichen Gelände Ausschau nach den Feinden. Die Burg, ein verwinkeltes Wochenendhaus mit Dachterrasse. Hinter dem Gartenhaus der Ozean, ein Geviert aus Beton mit blaugrünem Wasser. Das geheime Versteck mit der Waffenkammer, ein verwunschenes Gartenhaus mit geheimnisvollen Gerätschaften. Die Plantage von Obstbäumen, Gemüsebeeten und Büschen, das Dschungellabyrinth, in dem sich die Feinde verbergen. Neben meinem Wachturm die Schaukel. Nein, nicht so eine für kleine Kinder. Diese hier ist von atemberaubender Höhe. Eine, die im ganzen Dorf, wahrscheinlich in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat. Eine für mutige Kerle. Sie verursacht wohlige Schauer von Angst und Erregung. Am höchsten Punkt, wenn sie kurz still steht, hebt es mich fast aus dem Sitz; jedes Mal stockt mir der Atem und meine Hände krallen sich wie Schraubstöcke in die eisernen Stangen, die Gott Großvater in seiner unendlichen Weisheit anstelle weicher Seile benutzt hat. Überall Aufregung und Überraschungen. Das Paradies eben. Nur über den Apfelbaum mit der Schlange bin ich bei all meinen Erkundungen nie gestolpert.

Als ich zum ersten Mal sterbe, bin ich gerade mal vier oder fünf. Ich sterbe im Paradies. Gerade noch greife ich nach meinem selbstgebauten Katamaran aus Korken, Draht und einem Stofffetzen, der auf dem kleinen Becken schaukelt und meiner Reichweite zu entschwinden droht und dann, im nächsten Moment, ohne Übergang, Stille - um mich herum absolute Stille, tiefes, dunkles, blaugrünes Nichts (Noch heute liebe ich dieses ruhige, endlos-ozeanische Blaugrün). Nur traumhaftes Schweben und maßloses Staunen. Keine Angst, keine Panik, kein Zappeln, kein Kämpfen. Wozu auch? Die Stille umarmt mich. Die Schwerelosigkeit trägt mich. Das Nichts heißt mich willkommen. Die Kälte des Wassers? Ich spüre sie nicht. Ich weiß nicht, dass ich dabei bin zu sterben.

Die freundliche Betonmauer versucht zu helfen und schiebt sich zwischen mich und die Erwachsenen, die in ihren Korbsesseln vor dem Gartenhaus am Tisch mit der weißen Tischdecke sitzen, heiter plaudernd ihren Tee trinken und mein Sterben nicht bemerken. Nein, nicht freundlich, heimtückisch und niederträchtig würden die Erwachsenen sagen. Mein Vater zieht an seiner Zigarre, bläst den Rauch nach oben, um die anderen nicht zu belästigen, und streift die hellgraue Asche am Rand des Aschenbechers ab. Aber „die mich zur Welt brachte“ folgt einem plötzlichen Gefühl der Unruhe, steht auf und schaut über die Kante der Mauer, stürzt mit einem Ausruf des Schreckens zum Rand des Schwimmbeckens, an dem ich noch kurz zuvor mit meinem Schiffchen das Weltmeer bezwungen habe, bevor ich in Seenot geriet, kniet an den Beckenrand, zieht mich, wehrlos wie ich bin, heraus - und macht alles kaputt.

Jedenfalls stehe ich plötzlich im Gartenhaus auf dem Tisch, werde ausgezogen, abgerubbelt und in eine Decke gehüllt, während meine Schwester bereits zu Fuß unterwegs ins Dorf ist, um mir von zuhause trockene Kleider zu holen. Das Glück der unendlichen Ruhe bleibt mir an diesem Tag verwehrt. Seltsamerweise schimpft auch niemand mit mir, nicht einmal „die mich zur Welt brachte“, die sonst nicht nur eine lockere Hand, sondern auch eine unerbittlich tadelnde Zunge hat.

Muss ich eben warten!
 

Claustrophob

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Am Tag, als ich zum ersten Mal sterbe, scheint die Sonne. Es ist wohl Mitte der 50er Jahre, genau weiß ich es nicht.

Heute, Samstagnachmittag, verlassen wir das Haus. Wir gehen die Bahnhofstraße hinunter, an den Hallen des Obstgroßmarkts vorbei und erreichen nach zehn Minuten den Rand des Dorfes. Hinter dem Haus des Tierarztes überqueren wir die Bahnlinie. Dort steht das winzige Bahnwärterhaus und die geteerte Straße setzt sich als Feldweg fort. Noch ein paar Schritte den Bahndamm entlang, dann biegt der Weg in die Weinberge ab.

Wir sind mit einer Familie aus dem Dorf verabredet. Mein Herz hüpft. Der Großvater von Sigrid, einer Freundin meiner Schwester, vielleicht ihre beste, hat etwas außerhalb des Dorfes inmitten der Reben, ein Paradies geschaffen – für mich das Paradies. Es ist umzäunt und hat eine Eisentür, die mit einer massiven Kette gesichert ist. Der Teufel selbst würde sich die Zähne daran ausbeißen. Kein wachender Engel mit dem Flammenschwert verteidigt den Eingang. Gott Großvater selbst schließt das schwere Vorhängeschloss auf und lässt uns ein.

Kaum habe ich die magische Pforte überquert, bin ich schon in einer anderen Welt. Im gedämpften Licht des mächtigen Dschungels von Sonnenblumen, mehr als doppelt so hoch wie der Knirps, der ich bin, stelle ich mich mit dem Stecken, meinem Schwert, den Wilden zum Kampf und erlege, nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet, den Tiger, der hungrig auf Menschenfleisch durch die grüne Hölle schleicht. Gleich neben dem Dschungel hat Gott Großvater in weiser Voraussicht ob der lauernden Gefahren einen hölzernen Aussichtsturm errichtet, auf dessen Plattform, fast in den Wolken, ich nur über die leicht zu verteidigende Leiter gelange. Von dort aus trotze ich den Stürmen um mich herum und halte in dem unübersichtlichen Gelände Ausschau nach den Feinden. Die Burg, ein verwinkeltes Wochenendhaus mit Dachterrasse. Hinter dem Gartenhaus der Ozean, ein Geviert aus Beton mit blaugrünem Wasser. Das geheime Versteck mit der Waffenkammer, ein verwunschenes Gartenhaus mit geheimnisvollen Gerätschaften. Die Plantage von Obstbäumen, Gemüsebeeten Büschen und mannshohen Sonnenblumen, das Dschungellabyrinth, in dem sich die Feinde verbergen. Neben meinem Wachturm die Schaukel. Nein, nicht so eine für kleine Kinder. Diese hier ist von atemberaubender Höhe. Eine, die im ganzen Dorf, wahrscheinlich in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat. Eine für mutige Kerle. Sie verursacht wohlige Schauer von Angst und Erregung. Am höchsten Punkt, wenn sie kurz still steht, hebt es mich fast aus dem Sitz; jedes Mal stockt mir der Atem und meine Hände krallen sich wie Schraubstöcke in die eisernen Stangen, die Gott Großvater in seiner unendlichen Weisheit anstelle weicher Seile benutzt hat. Überall Aufregung und Überraschungen. Das Paradies eben. Nur über den Apfelbaum mit der Schlange bin ich bei all meinen Erkundungen nie gestolpert.

Als ich zum ersten Mal sterbe, bin ich gerade mal vier oder fünf. Ich sterbe im Paradies. Gerade noch greife ich nach meinem selbstgebauten Katamaran aus Korken, Draht und einem Stofffetzen, der auf dem kleinen Becken schaukelt und meiner Reichweite zu entschwinden droht und dann, im nächsten Moment, ohne Übergang, Stille - um mich herum absolute Stille, tiefes, dunkles, blaugrünes Nichts (Noch heute liebe ich dieses ruhige, endlos-ozeanische Blaugrün). Nur traumhaftes Schweben und maßloses Staunen. Keine Angst, keine Panik, kein Zappeln, kein Kämpfen. Wozu auch? Die Stille umarmt mich. Die Schwerelosigkeit trägt mich. Das Nichts heißt mich willkommen. Die Kälte des Wassers? Ich spüre sie nicht. Ich weiß nicht, dass ich dabei bin zu sterben.

Die freundliche Betonmauer versucht zu helfen und schiebt sich zwischen mich und die Erwachsenen, die in ihren Korbsesseln vor dem Gartenhaus am Tisch mit der weißen Tischdecke sitzen, heiter plaudernd ihren Tee trinken und mein Sterben nicht bemerken. Nein, nicht freundlich, heimtückisch und niederträchtig würden die Erwachsenen sagen. Mein Vater zieht an seiner Zigarre, bläst den Rauch nach oben, um die anderen nicht zu belästigen, und streift die hellgraue Asche am Rand des Aschenbechers ab. Aber "die mich zur Welt brachte" folgt einem plötzlichen Gefühl der Unruhe, steht auf und schaut über die Kante der Mauer, stürzt mit einem Ausruf des Schreckens zum Rand des Schwimmbeckens, an dem ich noch kurz zuvor mit meinem Schiffchen das Weltmeer bezwungen habe, bevor ich in Seenot geriet, kniet an den Beckenrand, zieht mich, wehrlos wie ich bin, heraus - und macht alles kaputt.

Jedenfalls stehe ich plötzlich im Gartenhaus auf dem Tisch, werde ausgezogen, abgerubbelt und in eine Decke gehüllt, während meine Schwester bereits zu Fuß unterwegs ins Dorf ist, um mir von zuhause trockene Kleider zu holen. Das Glück der unendlichen Ruhe bleibt mir an diesem Tag verwehrt. Seltsamerweise schimpft auch niemand mit mir, nicht einmal "die mich zur Welt brachte", die sonst nicht nur eine lockere Hand, sondern auch eine unerbittlich tadelnde Zunge hat.

Muss ich eben warten!
 



 
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