Es spießt sich oft so schön

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hwg

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Bei Otto steht zu Hause ein Aquarium mit Zierfischen, auf der Fensterbank fristen Kakteen ihr Dasein. Vor der Haustür zieht Otto die Schuhe aus. Wenn er fernsieht, knabbert er unentwegt diese dünnen Salzstangen. In gewisser Weise und in gewissen Augen ist Otto ein Spießer. Jedenfalls hat er kein gesteigertes Interesse daran, hip zu sein. Das käme ihm körperlich und geistig auch viel zu anstrengend vor. Stattdessen hat er ein Interesse daran, zu tun, was ihm Spaß macht.
Otto legt einen gewissen Wert auf das Äußere, kleidet sich wahrscheinlich eine Spur zu jugendlich, fährt einen coolen Kleinwagen. Das ergibt, wenn man es mit dem Schrebergarten und den Gartenzwergen zusammenrechnet, keinen in sich geschlossenen, klar definierbaren Lebensstil, sondern ein Lifestyle-Patchwork. Allerdings macht sich Otto wie jeder, außerdem den Autisten vielleicht, Gedanken über seine Wirkung auf andere. Er möchte zum Beispiel nicht lächerlich erscheinen. Die Leute, mit denen er zu tun hat, sollten ihn schon ein bisschen respektieren.
Falls sein Gehirn ihm morgen zuflüstern sollte, dass es Spaß macht, einen rot gefärbten Irokesenhaarschnitt zu tragen, wird Otto seinem Gehirn den Mund verbieten. Er hat mir unlängst bei einem Glas Wein erklärt: „Der Lebensstil, den jemand pflegt, ist immer ein Kompromiss zwischen dem, was er naiver Weise für seine Individualität hält und den Erwartungen, die man glaubt, erfüllen zu müssen. Der Vorwurf, dass jemand ein Spießer sei, enthält zwei Untervorwürfe. Erstens: Diese Person lebt falsch. Sie pflegt einen Lebensstil, der, aus welchen Gründen auch immer, abzulehnen ist. Zweitens: Diese Person besitzt die Kühnheit, ihren – falschen – Lebensstil auch noch offensiv zu vertreten.“
Der Spießervorwurf enthält laut Otto also einen Zirkelschluss. Derjenige, der ihn äußert, behauptet nicht nur, das richtige Leben, die richtige Kleidung, die richtigen Moralvorstellungen und so weiter zu kennen, nein, der Ankläger des Spießertums vertritt diese Vorstellung vom richtigen Leben auch noch aggressiv. Aus dem Gespräch mit Otto lässt sich somit die Erkenntnis ableiten: Wer anderen Spießertum vorwirft, verhält sich selber extrem spießig. „Du brauchst nur einfach ruhig am Ufer des Lebens sitzen bleiben. Alles, was du tust, treibt irgendwann als Trend erneut an dir vorüber“, meint Otto. Ist doch irgendwie schön und beruhigend, nicht wahr?
 

hwg

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Guten Abend Marius!

Mit der "richtigen" Einordnung meiner Beiträge habe ich manchmal Schwierigkeiten. Unlängst ist der Text in einer Satire-Zeitschrift ebenso abgedruckt worden wie in einem Lifestyle-Magazin. Deshalb bin ich bei der Humor- und Satire- Zuordnung geblieben.

Gruß aus der Steiermark!
 



 
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