Familienausflug

Anonym

Gast
Meine Mutter wäre sicherlich verrückt geworden, wenn sie mit mir und meinem Vater zusammen gewohnt hätte. Also mit mir als Erwachsenem, ich bin schon seit 20 Jahren zu Hause ausgezogen, so weit ist das ganz normal bei uns. Aber letztens hat sie mir erzählt – als wir in Baden-Baden durch den Jugendstilgarten zum Kloster Lichtenthal gewandert sind – dass mein Vater sie rasend macht. Allumfassend und rundum. Der lief zu dieser Zeit auf dem linken Weg zum Kloster und wir auf dem rechten. Dauernd hat sie sich umgeschaut, dass er nicht herüber kommt, weil sie natürlich nicht wollte, dass er das hört.
Wieso macht er dich denn rasend, habe ich gefragt.
Er liegt den ganzen Tag im Bett, war die Antwort.
Das war jetzt nun dumm, weil ich auch den ganzen Tag im Bett liege. Es gibt keinen schöneren, gemütlicheren Platz, ehrlich gesagt, und wenn ich nichts Konkretes vorhabe, stehe ich auch nicht auf.
Meine Mutter schildert also den Konflikt und ich stelle fest, ich bin ich noch schlimmer, mit mir wäre sie noch schlechter dran. Mein Vater, regt sie sich auf, steht um halb Eins auf und dann kocht er. Das ist doch gar nicht so übel, denke ich, immerhin. Allerdings macht er´s, weil er das Essen von meiner Mutter nicht verträgt, das relativiert es in ihren Augen.
Er verträgt überhaupt kein fremdes Essen, auch nicht im Restaurant. In Baden-Baden sind wir in ein Regionalrestaurant gegangen und haben uns Käsespätzle bestellt, mein Vater und ich (wir wollten Regionalrestaurant etwas Regionales haben; meine Mutter juckt so was nicht). Unsere Idee war gut, aber das Essen schlecht. Die Röstzwiebeln kamen getrocknet aus der Dose und da flippt mein Vater gleich aus. Das kann er nicht haben. Er hat die Kellnerin zur Rede gestellt – was meiner Mutter furchtbar peinlich ist, deswegen geht sie nicht gern mit ihm ins Restaurant - wie traurig das ist auf frische Käsespätzle gefriergetrocknete Röstzwiebeln zu häufen: kein angemessenes Preis-Leistungsverhältnis. Die Kellnerin behauptete, dass die Röstzwiebeln frisch wären, was in dem Moment nicht hilfreich war.
Weiter. Mein Vater steht also mittags auf und kocht. Dann geht er zurück ins Bett und meine Mutter macht die Küche.
Wie sie mir das so erzählt, denke ich, zu der Zeit mache ich wohl meine zweite Kanne Kaffee. Aber ich sage nichts; erstens hätte es keinen Sinn gehabt und zweitens wäre eine Solidarisierung mit meinem Vater nicht opportun gewesen. Meine Mutter wollte nichts von der gegnerischen Perspektive hören, sondern in ihrer Sicht der Dinge bestätigt werden.
Hinzu kommt, dass mein Vater, sobald er aufwacht, Musik hört. Ohne Musik kann er nicht leben, sagt er und deswegen dröhnt sie den ganzen Tag durchs Haus. Er muss seine Umgebung gleich mit beschallen, weil er selbstverständlich davon ausgeht, dass alle die Musik – Jazz aus der Zeit als er jung war, also Frank Sinatra und Benny Goodman – genauso lieben wie er. Das ist natürlich unrealistisch. Meine Mutter hört nur Klassik, sie kann Jazz nicht vertragen. Es macht sie nervös.
Nun hat ja jeder seine Macken, das ist nichts Besonderes. Ich liege wie gesagt den ganzen Tag im Bett (wenn mich keiner nervt), und als Pluspunkt für mich sollte man in die Waagschale werfen, dass ich dabei keine laute Musik höre. Ich lese oder gucke raus. Musik ist mir nicht egal, aber da bin ich wieder mehr wie meine Mutter, die Musik soll wie ein Sahnehäubchen auf einem Capuccino sein und nicht eine Dauerberieselung in einem amerikanischen Supermarkt.
Aber das gehört jetzt nicht hierhin, ich bin ja immer mit meiner Mutter auf dem Weg zum Kloster Lichtenthal und in der Zwischenzeit ist sie den Tränen nahe und mir wird langsam mulmig.
Der Unterschied zwischen den Macken meines Vaters und denen meiner Mutter ist, dass seine übergriffig sind und ihre nicht. Stichwort laute Musik. Oder: Nur er kocht noch. Oder: Nur er fährt noch Auto. Undsoweiter. Die Macken meiner Mutter sind nicht aufdringlich. Klar kann einen ihre Nervosität wahnsinnig machen, sie kann nicht still sitzen. Im Restaurant zum Beispiel, auch in dem in Baden-Baden muss sie von einer auf die andere Sekunde gehen, ohne jede Vorbereitungsphase. Sie faltet ihre Serviette zusammen und sagt: „Gehen wir!“ Da ist das Weinglas von meinem Vater noch dreiviertel voll und mein Kaffee erst unterwegs. Natürlich maulen wir beide, mein Vater und ich, was die kritische Phase bei meiner Mutter ein bisschen verlängert, aber eben nur um die fünf Minuten, die sie aufs Klo geht. Dann kommt sie zurück und fängt an, sich anzuziehen. Das hält kein Mensch aus und ich stürze meinen Kaffee kochend heiß runter.
Wo war ich stehen geblieben?
Ach so, also mein Vater liegt den ganzen Tag im Bett. Das ist natürlich dem Lebensstil meiner Mutter diametral entgegen gesetzt, oder sagen wir moderner: ihrem Biorhythmus. Sie steht um sieben auf und geht schwimmen, im Sommer wie im Winter. Das finde ich gut. Ich wünschte, das könnte ich auch. Sie ist viel fitter ist als ich, obwohl sie 65 ist und ich entsprechend jünger. Um neun kommt sie nach Hause und fängt an, im Garten herum zu graben und zu buddeln und umzusetzen. Mein Vater gibt zwar die Parole raus, dass er ihr bei schweren Sachen hilft, das ist aber mehr rhetorisch gemeint. Er kann von seinem Bett aus sehr gut sehen, dass sie dauernd etwas Schweres von A nach B schleppt, aber der bewegt sich nicht, sondern dreht höchstens die CD lauter, für den Fall, dass sie ihn nicht hören kann.
Nach dem Essen geht meine Mutter spazieren oder zieht mit ihrer Wandergruppe los. Oder sie geht ins Städtchen. Jedenfalls immer in Aktion, immer was zu tun.
Mein Vater hat nichts zu tun.
Nicht, dass er sich langweilen würde, er hat wie gesagt die Musik oder liest Zeitung oder guckt Fernsehen. Mehr aber der passive Typ. Er will nicht selbst gestalten, sondern den anderen beim Gestalten zusehen und es kritisieren.
Sie hält es nicht mehr aus, sagt meine Mutter, und wir sind jetzt so gut wie beim Kloster Lichtenthal angekommen und sie heult hinter ihrer Sonnenbrille. Mein Vater schließt langsam zu uns auf, weil er immer als erster durch das Tor einer Sehenswürdigkeit gehen muss, damit er uns da empfangen und uns den Weg weisen kann (wie ein Verkehrspolizist).
Ich überlege fieberhaft, wie ich meiner Mutter helfen kann, weil das letzte, was ich will, ist dass sie unglücklich ist.
Also schlage ich ihr vor, dass mein Vater nach unten ins Erdgeschoss ziehen soll, da gibt es zwei Zimmer, eine eigene Dusche, perfekt!
Nein, das würde er nie machen, schon aus Gewohnheit nicht.
In Ordnung, sage ich, dann zieh du nach unten. Zwei Zimmer, eine eigene Dusche, perfekt!
Aber mein Zimmer oben ist doch so schön. Und ich bin ja auch dran gewöhnt.
Okay. Ratlosigkeit. Und jetzt?
Ich weiß nicht.
Mein Vater ist schon knapp hinter uns und meine Mutter wird immer nervöser.
Ich habe eine Idee: Warum mietest du dir nicht irgendwo ein Zimmer? Mit Dusche und Kochnische und perfekt! Schön allein!
Entsetzter Blick: Ich will doch nicht von zu Hause weg!
Augenrollend sage ich Nur über´s Wochenende oder so.
Mein Vater überholt uns und steuert auf das Klostertor zu.
Ich fixiere sie. „Dann richtest du dir alles nach deinen Vorstellungen ein und hast immer Ruhe!“
Die Idee ist in ihrer Einfachheit genial, finde ich.
Aber was soll mit den Katzen geschehen?, wendet sie ein.
Die habe ich leider vergessen. Es sind ihre Katzen. Mein Vater hasst Tiere.
Und so ist jetzt leider Stand der Dinge. Wir konnten nicht weiterreden, weil mein Vater uns ins Kloster gewunken und seinen kulturgeschichtlichen Abriss angefangen hat.
Ich liege jetzt also im Bett und denke, dass es nicht ewig mit meinen Eltern so weitergehen wird.
Dass es auf der Kippe steht. Und dass meine Mutter, wenn sie wütend wird - was alle paar Jahre passiert - unberechenbar wütend wird.
 



 
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