Familienbande

Koyuko

Mitglied
Als Mike Harris an diesem kalten Wintermorgen seinen Volvo vor der Dorfbibliothek des kleinen englischen Dorfes Blakesfield abstellte, ahnte er noch nicht, dass an diesem Tag sein Bild der Welt komplett auf den Kopf gestellt werden würde. Seit einem Jahr arbeitete er schon für die Zeitung „Today“ als Journalist und hatte sich vor allem auf politische Reportagen spezialisiert. Gestern hatte ihm allerdings sein Chef den Auftrag erteilt, einen Bericht über die Grafenfamilie Howard der Ortschaft Blakesfield zu schreiben. Eher widerstrebend hatte er angenommen, weil ihm solche Arbeit nicht gerade lag.
Er stieg aus seinem Auto, schlug den Mantelkragen hoch, um sich vor dem beissenden Wind zu schützen, und ging um das Gebäude zum Eingang. In der Bibliothek war es glücklicherweise recht warm, so dass er seinen Mantel bereitwillig am Eingang aufhängte.
Kaum trat er durch die zweite Tür, lächelte ihn Susan, die Bibliothekarin schon von der Theke an und sagte: „Guten Morgen Mike. Was kann ich denn heute für dich tun?“
„Hi Susan. Gut siehst du heute wieder aus,“ antwortete Mike lächelnd. „Ich suche nach Informationen über die Familie Howard.“
„Du bist immer noch ein richtiger Charmeur,“ kicherte sie. „Wie du weißt, haben wir alle Zeitungen und Dokumente, die älter als ein Jahr sind, im Computer gespeichert. Geh ans Terminal zwei und lass es mich wissen, wenn du noch etwas brauchst.“ Sie warf ihn einen bedeutungsvollen Blick aus ihren wunderbaren, blauen Augen zu.
Er schenkte ihr sein schönstes Lächeln, bedankte sich und durchquerte dann die Halle zu den Computern, die in der hintersten Ecke standen. Nun würde eine mühselige Sucherei beginnen, wie er genau wusste.
Dank dem Computer würde dies allerdings bedeutend weniger mühsam sein als noch vor kurzem, als noch sämtliche Dokumente auf Mikrofilmen gespeichert waren. Schon nach kurzer Zeit hatte er viele ältere Zeitungsberichte und offizielle Dokumente über die Familie Howard gefunden und begann, alles durchzulesen.
Die Grafschaft war schon ziemlich alt, erst vor relativ kurzer Zeit hatte die Familie begonnen, Land zu verkaufen. Doch noch immer gehörte ein grosser Teil der umliegenden Felder und Wälder dem Grafen. Amtierender Graf war James Howard, der verheiratet war und einen Sohn hatte. Die Familie schien im allgemeinen nie besonders kinderreich gewesen zu sein. Neben dem Land besass der Graf zahllose Aktien der verschiedensten Firmen und hatte sich so zweifellos einen ziemlichen Reichtum angeschafft.
Als Mike danach die Geburtsscheine durchging, geriet er ins Stocken. Von einigen der alten Grafen fehlten sowohl die Geburts- als auch die Todessscheine. „Das kann doch nicht sein,“ murmelte er.
Rasch änderte er die Suchbefehle und liess den Computer noch einmal alles durchwühlen. Doch das Ergebnis blieb dasselbe. Sowohl vom letzten Grafen von Blakesfield, Harold Howard, als auch vom aktuellen, James, und auch von dessen Sohn Henry fehlten die Geburtsscheine. Das konnte doch nicht sein. Oder etwa doch? Ein drittes Mal liess Mike den Computer suchen, wieder mit negativem Ergebnis.
Er beschloss, den Grafen persönlich darauf anzusprechen. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es fast 11 Uhr war. Er würde sich so viele Notizen wie möglich von hier machen, dann eine Kleinigkeit Essen und danach den Grafen aufzusuchen.
Rasch füllte sich sein Notizblock mit Informationen über die Familie Howard. Einige Dokumente liess er sich von Susan ausdrucken, da das Abschreiben zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Er merkte kaum, wie die Zeit verging. Als er wieder auf die Uhr sah, war es bereits Viertel vor Eins. Das Mittagessen würde heute wieder mal ausfallen. Er hatte sowieso keinen Hunger. Nun müsste er aber gehen, er konnte den Grafen doch nicht warten lassen. Beim hinausgehen zwinkerte er Susan zu und sagte, dass er später nochmals kommen würde. Sie lächelte ihm zu und nickte wortlos.
Zum Glück war die Villa des Grafen nicht allzu weit vom Dorf entfernt, um fünf vor Eins sass er in seinem Auto vor dem Haus und stellte den leise schnurrenden Motor ab. Er stieg aus und betrachtete das Herrenhaus. Das Wort Villa war fast schon eine Untertreibung, das Gebäude war ein richtiges kleines Schloss. Teilweise von Bäumen verdeckt stand es in einem kleinen Waldstück. Was er von hier nicht sehen konnte, waren die alten Pferdeställe und die Unterkünfte der Bediensteten, die sich hinter dem eigentlichen Schloss befanden. Das grosse Hauptgebäude war vierstöckig und in einem hervorragenden Zustand. Mike erinnerte sich, dass das Haus vor kurzem komplett renoviert worden war. Die Fassade war frisch und wirkte einladend. Obwohl es grösstenteils im Schatten der grossen Bäume lag, wirkte es eher wie ein Märchenschloss. Die kleinen Ecktürme und die grossen Fenster trugen ihr übriges dazu bei. Es wunderte ihn aber, dass die meisten Vorhänge zugezogen waren.
Er ging auf die grosse hölzerne Eingangstüre zu, die ebenfalls ziemlich neu war. Das Holz war hell und noch ohne Witterungseinflüsse. Der moderne Drücker der Türklingel wirkte wie ein Anachronismus zu dem alten Haus. Eine sanfte Melodie erklang im innern, als Mike den Taster betätigte. Schon nach kurzer Zeit hörte er Schritte hinter der massiven Tür, die gleich danach aufschwang.
Ein älterer Mann mit schütterem grauen Haar und einem freundlichen Lächeln stand in der Tür, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Ah, Sie müssen Mike Harris sein. Ich bin James Howard.“
Mike nahm seine Hand und erwiderte den Druck. „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Howard. Mike Harris von der Zeitung Today.“
Der Graf führte ihn in das grosse, recht altmodisch eingerichtete Wohnzimmer. Es war recht hell, dank dem grossen Fenster, und wirkte irgendwie wie aus einem alten Film. Die alten, massiv wirkenden Möbel, der grosse Steinkamin und die mit Bildern und diversen alten Gegenständen geschmückten Wände verliehen dem Raum ein fast mittelalterliches Flair. Das grosse Sofa wirkte hingegen recht neu, auch wenn es auf alt getrimmt worden war. Mike vermutete, dass es ein ziemlich teures Designermodell war.
Der Graf setzte sich in den grossen Lehnsessel und wies auf das Sofa. „Bitte, setzen Sie sich doch.“
Nachdem Mike es sich auf dem bequemen Sofa gemütlich gemacht hatte, begann er mit dem Interview. Der Graf erzählte bereitwillig die Geschichte der Grafschaft von Blakesfield, jedoch nichts, was Mike nicht schon wusste. Auch über die aktuelle Situation und die Geschäfte berichtete der Graf, gab Auskunft über seine Familie und die Ländereien, die noch immer im Besitz der Grafschaft waren.
„Etwas würde mich zum Schluss noch interessieren. Ich habe leider in den offiziellen Dokumenten Ihre Geburtsurkunde nicht gefunden. Wann wurden Sie geboren?“ fragte Mike schliesslich.
„Meine Geburtsurkunde? Da muss jemandem ein Fehler unterlaufen sein. Ich wurde am 12. September 1931 geboren,“ antwortete der Graf.
Mike rechnete im Kopf kurz nach. „Das würde ja dann heissen, dass Sie bereits mit 13 zum Grafen ernannt wurden.“
Der Graf schien nun etwas nervös zu werden. „Naja, mein Vater starb früh, jemand musste die Nachfolge übernehmen und da ich der einzige Sohn war, fiel es eben auf mich.“
„Sagten Sie nicht, dass Ihr Vater 1952 gestorben war?“ hakte Mike nach.
„Er war zu diesem Zeitpunkt total senil, darum konnte er die Grafschaft nicht mehr führen.“ Der Graf sah auf die Uhr. „Es ist schon spät und ich habe noch viel zu tun. Ich hoffe, ich konnte alle Ihre Fragen beantworten,“ sagte er hastig.
Mike stand auf und lächelte. „Ich danke Ihnen für das Interview, es war sehr aufschlussreich. Eine letzte Frage hätte ich aber noch. Sie sahen Ihrem Vater anscheinend sehr ähnlich, dem Foto von ihm zufolge. Und Ihr Vater glich seinem Vater auch ziemlich. Das ist eher ungewöhnlich.“
„Ja, das stimmt. Das ist wohl einfach ein Zufall,“ antwortete er hastig. Howard schien es plötzlich sehr eilig zu haben, den Reporter los zu werden. Er wurde fast schon aus dem Haus geworfen. Mike kam das sehr merkwürdig vor. Was hatte der Graf zu verbergen, dachte er sich. Er beschloss, sich auf dem Anwesen etwas genauer umzusehen, sobald es dunkel geworden war.
Er fuhr zurück ins Dorf, nahm in einem Restaurant ein verspätetes Mittagessen zu sich und ordnete seine Notizen, um die Zeit verstreichen zu lassen. Als es schliesslich 22 Uhr geworden war, fuhr er nochmals zurück zur Villa. Er stellte das Auto ein Stück davon entfernt ab und ging zu Fuss wieder auf das Grundstück. Vom Grafen hatte er erfahren, dass die Toten der Familie hinter dem Haus in einer Familiengruft beigesetzt wurden. Dort würde er sich zuerst umsehen.
Im Haus war bereits alles dunkel, die Familie war anscheinend früh zu Bett gegangen. Trotzdem war Mike sehr vorsichtig, als er sich durch den Wald bewegte. Der nicht ganz volle Mond spendete ziemlich viel Licht, aber trotzdem war es stockfinster. Doch Mike schaffte es, hinter das Haus zu kommen, ohne zu stolpern oder irgendwo gegen zu laufen. Schliesslich sah er im halbdunkeln die alten Pferdeställe, das offenbar unbenutzte Gebäude der Bediensteten und etwas weiter hinten die Gruft.
Als er sich der Gruft näherte, bemerkte er, dass sie in einem erstaunlich guten Zustand war. Anscheinend wurde sie gut gepflegt und in gutem Zustand gehalten. Die schwere Holztür stand weit offen. Er zog eine kleine Stablampe aus der Jackentasche und leuchtete in den Eingang. Eine schmale Steintreppe führte ein Stück in den Boden hinein, etwa drei Meter weiter unten sah er den Boden der Gruft. Vorsichtig stieg er hinab und leuchtete den Raum aus.
Der Raum war ziemlich gross, etwa 20 Meter lang und fast ebenso breit. Ein gutes Dutzend steinerne Sarkophage standen darin, alle nach Norden ausgerichtet, wie er bemerkte. Er untersuchte den nächststehenden, um herauszufinden, wer darin lag. Zu seinem grossen Erstaunen war allerdings nicht angeschrieben, wer darin ruhte. Langsam wurde ihm unheimlich zumute. Was ging hier nur vor?
„Ich dachte mir schon, dass Sie herkommen würden, Mike,“ erklang plötzlich eine Stimme vom Eingang.
Mike zuckte zusammen und drehte sich ruckartig um. Der Graf stand am Fuss der Treppe und sah ihn an.
„Sie sind mir zu neugierig und stecken Ihre Nase in Dinge, die Sie nichts angehen und von denen Sie nichts verstehen,“ fuhr er fort.
„Mr. Howard, ich versichere Ihnen...“, begann Mike, wurde aber von einer harschen Handbewegung unterbrochen. Der Graf wirkte irgendwie grösser als am Nachmittag, oder schien das nur so?
„Versichern Sie, was Sie wollen, Mike. Sie haben jetzt schon zuviel gesehen.“ Langsam trat der Graf auf ihn zu. Er lächelte, aber es wirkte nicht freundlich. Seine Zähne schienen viel zu weiss zu sein, viel zu unnatürlich.
Mike wich zurück. „Mr. Howard, was geht hier vor?“
„Typisch Reporter, neugierig bis zuletzt. Ich werde Sie leider zum Schweigen bringen müssen.“ Die Augen des Grafen begannen in einem unheimlichen roten Licht zu glühen. Mit grossen Schritten bewegte er sich auf Mike zu, sein Gesicht zur Fratze eines hungrigen Raubtieres verzogen. Seine Zunge fuhr über die Eckzähne, die nun wesentlich länger und spitzer zu sein schienen.
Einen erstickten Schrei ausstossend rannte Mike um den Sarkophag und versuchte so zur Tür zu gelangen. Mit grossen Schritten stürmte er die Treppe hinauf und stolperte beinahe über die Türschwelle. Rasch fing er sich wieder und rannte so schnell er nur konnte am Haus vorbei und zurück zum Auto.
Es war totenstill, ausser seinen Schritten und dem keuchenden Atem war überhaupt nichts zu hören. Mike war in Panik. Als er zur Einfahrt des Grundstücks hinaus wollte, sah er den Grafen am Torpfosten lehnen. Rasch schlug Mike einen Haken und sprang über das halboffene Tor.
Als er an seinem Auto ankam und die Tür aufriss, hörte er den Grafen vom Tor her rufen: „Ja, rennen Sie nur, Mr. Harris! Sie können rennen, aber Sie können sich nicht verstecken! Wir sind viele und wir sind gut organisiert!“
Das hämische Lachen, das folgte, sollte Mike noch lange verfolgen. Als er mit hoher Geschwindigkeit aus dem Dorf fuhr, sah er den Grafen am Ortsrand stehen und ihm grinsend zuwinken. Mike holte das letzte aus seinem Volvo heraus und raste viel zu schnell über die Landstrasse. Er hatte keine Ahnung, wohin er nun gehen sollte. Sein Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, was sein Unterbewusstsein ununterbrochen in seine Gedanken hämmerte: Das Wort Vampir.


Wird eventuell mal fortgesetzt. ;)
 

Paulin

Mitglied
Hallo Koyiko!
Ich habe eben Deine Geschichte gelesen und hoffte auf etwas Blut... leider hast Du "nur" die üblichen Ideen verwendet,finde ich . Das ist schade. Gefallen hat mir der Reporter ,hoffentlich läßt Du ihn nicht so schnell sterben ... ich könnte mir vorstellen ,daß Du seine Konfrontation mit dem Unvorstellbaren mehr aufbaust und ihr mehr Platz gibst.Grüße Paulin
 

Koyuko

Mitglied
Hoi Paulin!
Naja, bis hierhin ist die Story schon nich grad Nobelpreisträchtig, aber ich musste sie auch ziemlich zusammenschnipseln. Ursprünglich war sie für einen Kurzgeschichtenwettbewerb und die Buchstabenlimite war streng.
Aber wenn ich die Zeit finde, werd ich sie ausbauen, das Storydesign ist jedenfalls schon fast fertig.
 



 
Oben Unten