Fantasie kann nicht alles

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Garde

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„Das darf ich auf keinen Fall vergessen.“ Ungeachtet dessen, das er mit hundert Stundenkilometer über die Landstraße fährt, zieht Johannes an seinem Jackett, damit er über den Sicherheitsgurt in die Seitentasche greifen kann.
„ Mist, wo ist mein Diktiergerät?“ Er hebt die Klappe zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, wühlt in dem Fach, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet.
„Aha, ein Kugelschreiber. Und hier, das könnte ein Notizblock sein.“ Er nimmt das Teil heraus, hält es sich vor die Augen. „In der Ruhe liegt die Kraft“, liest er. „Wie sinnig. Irgendwo muss doch ein Stück Papier sein, verdammt.“ Er geht vom Gas, sucht den Fahrbahnrand nach einer Haltemöglichkeit ab, keine Chance.
Ihm fällt ein, dass er kürzlich einen Brief der Krankenkasse ins Handschuhfach gelegt hat und beugt sich über den Beifahrersitz, immer bemüht die Straße im Auge zu behalten. Er öffnet die Lade, „Super“, und greift nach dem weißen Blatt. Fast im gleichen Moment kracht es, knirscht, scheppert und klirrt. Johannes wird aus dem Sitz gedrückt, touchiert mit dem Kopf die Windschutzscheibe und fällt zurück.
„Scheiße“, sagt er laut.
„So ein Mist“, sagt er eine Stunde später. „Ich hatte eine tolle Idee für eine Geschichte, die wollte ich unbedingt aufschreiben. Dabei habe ich vielleicht eine Sekunde nicht aufgepasst. Und die Idee ist auch weg.“
„Das nächste Mal fahren Sie vorher rechts ran. Und nun sollten Sie froh sein, dass Ihnen nichts passiert ist.“ Der Polizist räumt seine Messutensilien zusammen.
Johannes sieht dem Abschleppwagen hinter her. Er wartet auf Biggi, die ihn aufsammeln muss. Es geht gleich zur Sache.
„Das ist der zweite Unfall aus dem gleichen Grund in diesem Jahr. Wirst du niemals schlau? Fahr rechts ran, soviel Zeit ist immer.“
In der Nacht träumt er, er habe die zündende Idee. Er träumt auch welche Idee, aber am Morgen erinnert er sich nicht. Er weiß nur noch, dass er wochenlang ununterbrochen schrieb, dass die Zeichenanzahl ins Unendliche wuchs und dass der Verleger ihm die Seiten aus dem Drucker riss. Er hielt Lesungen, gemeinsam mit allen Größen der Literatur, wurde von Fernsehanstalt zu Fernsehanstalt gereicht. Er wacht glücklich auf, aber die Idee ist weg.
Biggi fährt ihn, nachdem sie gemeinsam die Kinder zur Schule gebracht haben, ohne Murren zum Flughafen. „Es bringt ja nichts“, hat sie am Abend zu ihrer Mutter am Telefon gesagt. „Er ist Künstler und Künstler sind eben so.“
Als sie davonfährt, hat er noch eine Stunde Zeit. In der Abflughalle sucht er sich einen ruhigen Platz, kramt das Diktiergerät hervor. Die Kinder haben ihm ein paar Anregungen für eine Fortsetzungsgeschichte geliefert.
Er kommt nicht dazu, auf Band zu sprechen, neben ihm lässt sich ein Ehepaar mit einem neugierigen Dackel nieder. Der Hund weiß, wo er Streicheleinheiten einfangen kann und weicht Johannes nicht von der Pelle. Fast hätte der die Durchsage für seinen Flieger überhört. Schnell rafft er seine Utensilien zusammen und mit einem bedauernden Blick eilt er zur Gangway.
Im Flugzeug sucht er sein Aufzeichnungsgerät. Er hat es in der Halle liegen lassen. Ohne zu überlegen, zwängt er sich durch den engen Gang, an der Stewardess vorbei, hastet die Gangway zurück. In der Halle wird er von dem Dackel freudig begrüßt und findet sein Gerät.
- Ja, was man nicht im Kopf hat, und Gott sei Dank, es sind so viele wichtige Informationen drauf -, so in etwa tauscht er mit dem Ehepaar ein paar Worte und macht sich auf den Weg zurück. Die Glastür zur Gangway ist verschlossen, kein Mensch zu sehen. Die Maschine ist weg und mir ihr sein Handgepäck.
Eine Stunde später sitzt er, auf dem gleichen Platz wie vorhin, in der Abflughalle. Nach einigem Hin und Her hat man ihm ermöglicht in zwei Stunden ohne zusätzliche Kosten den nächsten Flieger nehmen zu können. Sein Gepäck wird vor Ort ausgeladen und erwartet ihn.
Nur gut, dass er sich nach einer ähnlichen Aktion angewöhnt hat, sein Handy in die Hosentasche zu stecken. Auf einen Anruf bei Biggi verzichtet er wohlweislich, nachdem die Verlagssekretärin, deren Chef ihn erwartet, meinte, „ich habe noch nie erlebt, dass bei Ihnen etwas glatt läuft.“
Johannes hat wegen Biggi oft ein schlechtes Gewissen. Sie bringt die Kohle nach Hause, sie ernährt die Familie. Er steuert unregelmäßig manchmal mehr, manchmal weniger zum Unterhalt bei. Aber sie will nicht, dass er in die Bank zurückgeht. „Du hast ein so großes Talent, das darfst du nicht vergeuden. Irgendwann kommt der richtige Durchbruch.“
Woran denkt sie wohl beim richtigen Durchbruch? Hofft sie auf „Harry Potter“? Johannes vermutet das und sucht auch deshalb nach „Harry Potter“. Wie oft hat er schon gedacht, ihn gefunden zu haben. Aber dann …
„Sie sehen nachdenklich aus.“ Eine sanfte Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Er schaut auf und staunt. Das genaue Gegenteil von dem, was die Stimme ihn erwarten ließ, steht vor ihm. Eine große Frau, an der alles kräftig, ausladend und zudem bunt ist. Sie erinnert ihn an die farbenfroh gekleideten Frauen in weiten Teilen Südamerikas.
„Hm.“ Johannes will nichts Gescheites einfallen.
Sie setzt sich auf den Stuhl neben ihm und streckt aufatmend die Beine von sich. „Ja, manchmal gibt es Phasen, da denkt man in einem fort.“
„Ich muss immer denken.“ Johannes findet selber eigenartig, was er von sich gibt. „Ich bin Schriftsteller.“
„Ich dachte Schriftsteller schreiben.“ Sie lacht.
„Ohne zu denken kein Schreiben.“
„Was schreiben Sie?“
„Kinder- und Jugendgeschichten, den dritten Roman, Kurzprosa und Kurzgeschichten, hin und wieder Lyrik.“ Und wieder kommt sich Johannes irgendwie bescheuert vor.
„Ach ja, deshalb müssen Sie so viel denken.“ Sie lacht erneut.
„Es wäre schön, wenn einem die Geschichten einfach so zufliegen würden. Darüber habe ich vorhin auch nachgedacht.“
Sie zieht die Beine heran. „Das kann ich nicht verstehen.“ Mit einer Handbewegung umfasst sie die Halle. „Ich fühle schöne und hässliche Geschichten, spüre gute und böse Protagonisten.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen mustert sie Johannes.
Er schaut sich zweifelnd um.
„Sehen Sie ihn“, sie zeigt mit dem Finger auf einen jungen Mann, der gelangweilt in der offenen Cafeteria am Tresen steht, „ein alter Mann, seines Lebens überdrüssig, wie so viele.“ Ihr Zeigefinger wandert über einige Köpfe hinweg zu einer ärmlich wirkenden Frau in mittleren Jahren, „Sie wird alle Menschen aufhorchen lassen, wird Berge versetzen, damit es weitergeht. Und sie“, der Finger folgt der attraktiven rothaarigen Frau, die auf High Heels, nahe an der eben genannten, vorbei stöckelt, „sie ist ihre Schwester und beide wissen es nicht.“
Johannes sieht zwischen seiner Nachbarin und den genannten Personen hin und her. „Ich habe ja schon viel Fantasie, aber woher…“
„Papperlapapp“, unterbricht sie ihn. „Fantasie! Fantasie kann nicht alles. Man braucht noch etwas anderes. Drehen Sie sich um, vielleicht verstehen Sie dann, was ich meine.“
Gehorsam schaut Johannes hinter sich, sieht über einige Sitzreihen hinweg, durch Panoramascheiben auf den Flugplatz. Einige Flugzeuge stehen dort, womöglich gerade gelandet oder bereit zum Abfliegen. Personal wuselt hin und her, Kofferwagen rollen zu oder von den Maschinen. Für ihn ganz normale Bilder ohne Aufreger.
„Ich sehe nichts, was…..“ Er stockt, sieht sich erstaunt um. Seine Nachbarin ist verschwunden. „Na so was!“ Mit großen Augen steht Johannes auf, reckt den Hals, sucht die Halle ab. Nichts.
Er verharrt unbeweglich und versteht. Nur ein paar Sekunden und er zieht sein Diktiergerät aus der Tasche. Er spricht erst bedächtig, dann immer schneller, unentwegt, geht an den Panoramascheiben entlang, die Halle rauf, die Halle runter.
Nach einer halben Stunde lässt sich Johannes strahlend auf einen Stuhl fallen. Er atmet tief durch, steckt das Diktiergerät in seine Jackentasche, zieht das Handy hervor und drückt eine Kurzwahl.
„Biggi, mir ist etwas Unglaubliches passiert. …… Ja, ich bin noch hier, mein Flieger geht in einer viertel Stunde. …. Erzähle ich dir morgen. …… Nein, ich verpasse ihn schon nicht. Hör doch mal zu, ich habe die Idee. …... Ja, das wonach ich immer schon gesucht habe. …. Ja, Ja ist schon gut. Ich gebe acht. Ja, ich liebe dich auch. Tschüss.“
 



 
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