Festhalten

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Tehdry

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Der Sammler​

Sein Hemd bläht sich leicht im Wind, während er in einem kleinen Bogen den Abhang herunterpisst. Das Erste, was er macht, wenn er hierher kommt, und es bereitet ihm jedes Mal eine kindliche Freude. Doch selbst in dieser Abgeschiedenheit, weit und breit keine Menschenseele zu sehen, dreht er sich vorher nochmals verstohlen um, ein Impuls, dem er sich nie widersetzen kann.

Der Sammler steht alleine an der Kante einer schroffen Steilküste. Sie thront über einem breiten, felsigen Ufer, zu dem ein schmaler Kletterpfad herunterführt. Vor ihm breitet sich unter einem sonnensatten Herbsthimmel die Weite des Meeres aus. Den Kopf leicht in den Nacken gelegt saugt er genießerisch die würzige Luft ein, die Augen hinter der Hornbrille geschlossen und lauscht lächelnd dem rhythmischen Rauschen der Wellen, das so ganz anders klingt als das dumpfe Rauschen der Stadt. Der steinenübersäte Strand mit seinen wenigen versprenkelten Sandflächen sieht so gar nicht einladend aus, für ihn hingegen ist es ein kleines Paradies. Hier liegen Zeugnisse der Vergangenheit verborgen, Steine und kleine Fossilien in den skurrilsten Form, Fundstücke, die er für seinen Skulpturen-Garten sammelt. Ihre beharrliche Unerschütterlichkeit hat für ihn etwas ungemein Tröstliches. Die stummen Zeugen des Vergänglichen sind seine Fluchtpunkte, holen ihn raus aus dem Trott gleichgültiger Tage, die sich aneinanderreihen ohne Erinnerungen zu hinterlassen, Tage eingepfercht zwischen Wohnen und Arbeiten, in zwei Jahren nicht mal mehr das.

Er steigt den Pfad hinab, der einzige Zugang weit und breit, und der auffrischende Wind wirbelt die Spitzen seiner grauen Haaren hoch. Auf der Wasseroberfläche liegt inzwischen ein Schatten, das Grau-Blau trotz Sonnenschein um Nuancen dunkler, die Schaumkronen übermütig am Tanzen, das Branden der Wellen gleicht einem satten Wirbel von dumpfen Beckenschlägen. Am Horizont sammeln sich über dem offenen Meer Wolken, viel zu weit entfernt, um für irgendetwas Vorbote zu sein.
Mit leicht vorgebeugten Oberkörper schreitet der Sammler langsam voran, den Kopf nach unten gerichtet, seine Augen tasten systematisch den Boden ab, wandern umher, bleiben für Momente irgendwo haften, überfliegen nochmals den gerade passierten Abschnitt und wenden sich dann erneut dem vor ihm liegenden Bereich zu. Immer wieder bückt er sich ganz runter oder hockt sich hin, nimmt Steine in die Hände, betrachtet sie eingehend, und der eine und andere wandert in seinen Rucksack. Begonnen hatte alles vor Jahren mit einer versteinerten Muschel. Es faszinierte ihn, auf dieses reliefartige Muster einer längst vergangenen Zeit zu blicken, es erfüllte ihn mit einer unerwartet sanften Freude. Damals fing er mit dem Sammeln an.

Der Wind nimmt beharrlich zu, und in immer kürzeren Abständen schieben sich schwärzliche Wolkenfetzen vor das fahler werdende Licht der Sonne. Die Böen beginnen wie ein bockiges Kind an seiner Kleidung zu zerren, und das Meer gebärdet sich immer ungehaltener. Der Küstenstreifen schrumpft immer mehr unter den heranrollenden Wellen zusammen und erfüllen ihn mit wachsender Unruhe. Kurzentschlossen tritt der Sammler seinen Rückweg an. Er wendet sich nahe dem Steilufer zu und stemmt sich entschlossen gegen den stürmischen Wind. Sein Blick huscht ständig über die grollenden Wassermassen, den Boden vor seinen Füßen mustert er nur noch flüchtig. Es braucht einen Moment, er ist schon ein paar Schritte weiter, bis sich das Bild in seinem Kopf herausschält. Eine Reihe von Einkerbungen an einem sandfarbenen Gebilde, das unter einer Steinplatte hervorragt. Aufgeregt geht er das kleine Stück zurück, seine Augen irren sekundenlang rastlos herum, bis sie finden, wonach sie suchen. Als er den Stein herausholt, kommt der fossile Abdruck eines länglichen Schneckengehäuses zum Vorschein, eine versteinerte Schönheit. Der Sammler sinkt auf die Knie, behutsam, betrachtet seinen Fund geradezu liebevoll, während der Sturm seine Regenjacke surrend flattern lässt. Er küsst den Stein, sieht ihn schon vor sich in seinem Skulpturen-Garten. Vorsichtig verstaut er ihn im Rucksack und geht weiter, den Blick jetzt nur noch nach vorne gerichtet.

Das Meer streckt sich inzwischen mit aller Macht der Steilküste entgegen, eine geschlossene Front, die unbeirrbar vorrückt. Nur noch ein letzter schmaler Streifen ist übrig, und er spürt eine wachsende, einsame Verzweiflung mit jeder Faser seines Körpers. Bleib ruhig, er wiederholt es gebetsmühlenartig, bleib ruhig. An der abweisend wirkenden Steilküste gibt es keinen Felsvorsprung, keine höher gelegene Höhle, in der er Schutz suchen könnte, abwarten bis sich der Sturm wieder beruhigt, wie es schließlich jeder Sturm irgendwann tut, das bekäme er hin. Natur liegt ihm normalerweise.

Er versucht, schneller zu gehen, doch die orkanartigen Böen zwingen ihn immer wieder in den Stillstand, während ihm Regen und Meer peitschend regelrechte Wasserfontänen entgegenschleudern. Der Sammler ahnt mehr die Stelle, wo der Steig den Hang hochführt, als das er sie sieht in diesem eisgrauen Schmutz. In der Luft liegt ein infernalisches Gebrüll, jeder Meter wird mehr und mehr zu einem zähen, zermürbenden Kampf, er nass bis auf die Knochen und durchdrungen von klauenhafter Angst. Immer noch trennen ihn viel zu viele Meter von der Stelle, wo der Steig beginnt, den er aber noch gar nicht sehen kann inmitten dieser wutentbrannten Natur. Das Wasser reicht ihm jetzt schon teilweise bis zu den Unterschenkeln, seine Hände finden kaum Halt am Steilufer, seine Finger krallen sich mühsam in das raue Gestein, während er mit dem Gang eines Betrunkenen vorwärts taumelt. Seine Kräfte schwinden in dieser Verlorenheit, das Gewicht der Steine hängt wie Blei an ihm, als müsste er sämtliche Lasten seines Lebens tragen so wie der heilige Christopherus das Jesuskind, das schwerer und schwerer wurde. Doch den Rucksack den Wassermassen opfern, das kommt trotzdem nicht in Frage, egal wie ausgepumpt er sich fühlt.

Im ersten Moment traut der Sammler seinen Augen nicht, als scheinbar aus dem Nichts der Kletterpfad Konturen annimmt, sich herausschält aus dem schmutzigen Zwielicht der dahin fegenden Regenschleier, ein Anblick, der ihn vor Hoffnung zittern lässt. Plötzlich schreit er los, ein Schrei, der unhörbar davon fliegt, und er rudert heftig mit seinen Armen, oben am Pfad erkennt er eine gelbe Gestalt, und er sieht, wie sie die Arme hebt, und er möchte heulen vor Glück, weil auf einmal Hilfe naht. Die überschäumende Gischt bedrängt ihn unermüdlich weiter, teilweise steht er bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Vielleicht weil er so euphorisiert ist und mit neu entfachten Kräften losstürzen will gerät sein Körper plötzlich in eine Schieflage, der eine Riemen rutscht ihm über die Schulter, sofort packt der Sturm zu und reißt den Rucksack nach hinten. Nur ein kurzer Moment, in dem er sein Gleichgewicht verliert, seinen Halt, und dann schlägt auch schon das Wasser über seinem Kopf zusammen. Er fängt panisch an zu strampeln, Kleidung und Rucksack scheinen in Sekunden Tonnen zu wiegen, oben und unten lösen sich auf. Kopflos nestelt er an seinem Rucksack, verheddert sich ständig und seine Lunge giert nach Atemluft. Mit einem Mal ragt wieder sein Kopf aus dem Wasser, japsend saugt er nach Luft, bevor es ihn erneut unter die Wasseroberfläche zieht. Er tritt wild mit den Füßen um sich, versucht es zumindest, denn seine Bewegungen erlahmen schnell, ihm ist unsagbar kalt, und dann dieser Salzgeschmack, als er Wasser schluckt.
 

Happy End

Mitglied
Hallo Tehdry,
heute Morgen habe ich diese Geschichte gelesen und später erst verstanden.
Und wer von beiden hat wohl recht - der Sammmler, der eitel bewahren, oder die Natur, die neu entstehen zu lassen bestrebt ist?
Aber es wäre doch schade, wenn diese Geschichte ganz unbeachtet in den Wellen der LL hinweggespült werden würde!

Grüße,

XX
 



 
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