Flucht vor dem Schrei

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Düsternis senkt sich über das Land herab. Die verbliebenen Strahlen der in der Ferne untergehenden Sonne dringen nicht bis zu ihr durch, denn uralte Bergmassive verwehren ihr die Sicht auf diesen letzten Hoffnungsschimmer. Wie grausame Wächter, die sie einkreisen, mit vorwurfvollen Blicken bedenken und in einer bedrohlichen Kälte zurück lassen. Doch still ist es und die einzigen Vorwürfe sind jene, die Tiara sich selbst unentwegt macht, laufend in ihren Gedanken wiederholt, wie ein Sprechgesang, jedoch voll stummen Leides.
Früher war es anders, da kamen ihr die Berge wie Beschützer vor, so unverrückbar und mächtig, dass sie bei ihrem Anblick von einem wärmenden Gefühl der Geborgenheit erfasst wurde. Kummer und Sorgen waren schnell vergessen, denn hier konnte sie Ruhe finden, in ihr innerstes Selbst blicken und neue Kraft aus der Natur schöpfen. So war es auch, als Ben sie verlassen hatte. Ihre damalige große Liebe beim Fremdgehen zu erwischen war an sich schon schlimm genug. Daraufhin von Ben an den Kopf geworfen zu bekommen, dass er sie schon länger betrug, weil er fand, dass andere Menschen ihr immer wichtiger waren als er, und er sich auf diese Art rächen wollte, ließ sie ihren Lebensmut beinahe verlieren. Sie flüchtete in die Berge, schottete sich regelrecht ab, sperrte die Welt mit ihren grausamen Menschen aus und verbarg sich hinter einer Mauer aus innerer Abgeschiedenheit. Doch mit der Zeit verdrängten die Naturschauspiele, die trotz ihrer Schlichtheit und Vorhersehbarkeit atemberaubend waren, Hass und Wut aus Tiaras Herzen und ließen sie ihren Frieden finden.

Zehn Jahre waren seitdem vergangen und inzwischen hatte sie in ihrer Aufgabe als Kindergärtnerin ihre Berufung gefunden. Ben war schon lange vergangen. Vor drei Jahren lernte sie Demian kennen und lieben. Schnell stellte sie fest, dass sein Wesen sich grundsätzlich von Ben unterschied, denn Demian ist eine treue Seele, aufrichtig und ausgeglichen. Nie wird er grob oder wütend und vor ihrer gewaltigen Liebe zu Kindern hat er den größten Respekt.
Vor einem Jahr kauften sich die Beiden ein kleines Häuschen mit großem Garten direkt am Stadtwald und da gerade Sommer war, lud Tiara ihre Kindergartenkinder und deren Eltern zu einem Picknick ein. Sie spielten Ballspiele, Fangen und Verstecken, bis die Kinder von der frischen Luft müde wurden. Tiara nahm sich vor, auch in den folgenden Jahren solche Treffen zu veranstalten und bald plante das verliebte Paar, für den eigenen Nachwuchs zu sorgen.
Im Winter erhielt Tiara dann die beglückende Nachricht. Voller Stolz berichtete sie Demian von ihrer Schwangerschaft. Er hob sie hoch, drehte sich mit ihr im Kreis und küsste sie, bis ihr die Luft ausging. Die Zeit bis zum errechneten Geburtstermin verbrachten sie mit allerlei Planung und Gestaltung. Bei Fragen zur farblichen Ausstattung des Kinderzimmers oder der Wahl des Bettchens, waren sie sich meist auf Anhieb einig und wenn doch einmal Uneinigkeit bestand, fanden sie für gewöhnlich einen Kompromiss.
Als der Sommer vor der Tür stand, fühlte Tiara sich oft erschöpft. Die Last des zusätzlichen Gewichts machte ihr schwer zu schaffen und die heißen Temperaturen taten ihr übriges. Mittlerweile ging sie nicht mehr arbeiten und nutzte die Zeit daheim oft um auszuruhen. Demian unterstützte seine Frau nach Kräften, doch da sein Arbeitgeber in einer Krise steckte, musste er auch dort mehr Aufgaben als zuvor erledigen. Weil Tiara ihre Kindergartenkinder so sehr vermisste, wollte sie nicht darauf verzichten, ihre geplante Tradition der Picknick-Nachmittag in die Tat umzusetzen, und so lud sie die ganze Bande samt Eltern abermals zu sich ein.
Am Abend vor der Veranstaltung wollte sie den Garten nach Stolperfallen abzusuchen. Mühsam schleppte sie sich vor die Tür, ihr Bauch war mittlerweile stark gewölbt. Die frische Luft und der Schatten der Bäume taten ihr dann so gut, so dass sie beschloss, noch eine Runde durch den Wald zu gehen. Sie öffnete das kleine Tor, das den Garten vom Stadtwald trennte und ging, voller Vorfreude auf den kommenden Tag, ihre Lieblingsrunde entlang. Der Weg führte vorbei an einem großen Teich, von dem sie wusste, dass er an einigen Stellen bis zu 1,50 m tief war, da sie selber einmal im Winter dort eingebrochen war. An einem hohen Stapel Baumstämme, die gefällt und nun scheinbar hier vergessen worden waren, bog sie links ab und ging zurück in Richtung Haus. Der Rückweg dauerte länger als gedacht oder vielleicht kam sie auch nur langsamer voran, doch als sie endlich das Ende ihres Gartens erreicht hatte, sehnte sie sich nur noch nach einem ausgiebigen Bad. Vor lauter Müdigkeit vergaß sie sogar, das Tor wieder zu verschließen, doch konnte sie dies auch morgen noch nachholen.
Am nächsten Tag strahlte die Sonne von einem leuchtend blauen Himmel und Hitze flimmerte über der Straße, als nach und nach die Gäste eintrudelten. Tiara und Demian hatten wegen der tropischen Temperaturen nur wenig Schlaf gefunden, doch tat die Müdigkeit ihrer guten Laune keinen Abriss. Die Energie der Zwergerl war einfach zu ansteckend und besonders der kleine Tommy wich nicht von Tiaras Seite. Mit der Unerbittlichkeit eines Kindes erzählte er ihr, was er in der Zeit ihrer Abwesenheit erlebt hatte. Demian zündete indessen den Grill an. Ganz der Profi hantierte er emsig mit der Kohle und pfiff leise vor sich hin.
Nach dem Essen spielten sie dann Topfschlagen, doch Tommy war das Spiel zu langweilig. Er ergriff Tiaras Hand und versprach, ihr etwas Schönes zu zeigen, wenn sie mit ihm mitkam. Lächelnd mühte sie sich auf die Beine und folgte dem kleinen Tunichtgut in den hinteren Teil des Gartens. Er führte sie zwischen den Holundersträuchern hindurch und bat sie, dort zu warten. Dann verschwand er hinter einem großen Strauch und tauchte Sekunden später mit einer gelben Rose wieder auf, die er ihr, über das ganze Gesichtchen grinsend, überreichte. Tiara war sehr gerührt und schloss Tommy in ihre Arme.
„Wann kommst du denn wieder zu uns in den Kindergarten?“ Tommy sah sie mit großen Augen an.
„Ach weißt du, das dauert leider noch.“ Tiara griff sich unbewusst an den Bauch. „In ein paar Wochen bekomme ich ein eigenes Kind und muss mich erst mal darum kümmern, bevor ich wieder zurück komme.“ Noch während sie sprach sah sie, wie Tommys freudiges Gesicht in sich zusammen fiel.
„Aber warum kannst du nicht trotzdem wieder kommen?“
Schnell überlegte sie, wie sie ihn trösten könnte, doch es war bereits zu spät. Bittersüße Tränen kullerten aus seinen blauen Augen und er machte Anstalten, davon zu laufen. Tiara reagierte blitzschnell und hielt ihn am Tshirt fest. Sie wollte ihm erklären, wie wichtig er trotz allem für sie war und wie gern sie ihn hatte, doch Tommy riss sich von ihr los und rannte mitten durch die Sträucher. Tiara lief hinterher und sah gerade noch, wie er durch das Gartentor, dass sie tags zuvor offen stehen gelassen und seitdem völlig vergessen hatte, in den Wald rannte. Sie rief ihn an stehen zu bleiben, doch es nützte nichts. Ihr Instinkt sagte ihr, hinterher zu laufen, doch ihr Körper streikte. Demian und ein paar von den anderen Erwachsenen wurden aufmerksam und beeilten sich, zu ihr zu kommen. Tiara berichtete kurz und knapp, was geschehen war, dann liefen auch schon fünf oder sechs Personen, eine davon Tommys Mutter, in den Wald hinein. Tiara stand kurz vor einem Zusammenbruch. Mit Hilfe zweier Mütter schaffte sie es zurück zum Haus und legte sich auf eine Liege. Sie keuchte und die Sorge um Tommy raubte ihr zusätzlich den Atem. Minuten vergingen, erst fünf, dann fünfzehn. Eine Frau erschien am Gartenzaun und kam schnell näher. Es war die Mutter von Lea und sie war nassgeschwitzt vom Rennen. Tommy sei nicht zu finden. Für Tiara war diese Nachricht wie ein Stich ins Herz.
Nach einer weiteren halben Stunde erschienen auch die anderen zurück im Garten. Tommys Mutter weinte, ihre Schultern bebten und sie umklammerte ihren Oberkörper. Tiara setzte sich auf, doch erst als Demian kopfschüttelnd und mit schreckensstarren Augen auf sie zukam, realisierte sie das volle Ausmaß der grausamen Situation. Er nahm sie kurz in die Arme, vergewisserte sich das es ihr gutging und lief dann ins Haus, um die Polizei zu rufen, die zur Erleichterung aller schnell vor Ort war. Abermals erklärte Tiara, was vorgefallen war. Tommys Mutter wiederholte immerzu: „Warum finden wir ihn nicht? Wo kann er nur sein?“ Die Polizisten konnten zwar für nichts garantieren, doch sprachen sie ihr tröstende Worte zu. Tommy könne nicht weit weg gelaufen sein.
Was spielt das für eine Rolle, dachte Tiara, wenn er sich unterwegs verletzt hat? Mit den Nerven am Ende vermochten sie kaum stillzusitzen und liefen daher unruhig durch den Garten. Selbst Tiara hielt es nicht mehr auf ihrer Liege, sie machte sich unendliche Vorwürfe. Hätte sie doch nur vorsichtiger auf Tommys Frage reagiert!
Inzwischen ging die Sonne langsam unter. Tiara wurde wütend und fragte sich, warum die Suche nicht endlich begann. Da fuhr ein weiterer Streifenwagen vor und sie erkannte, dass sich darin ein Spürhund befand. Tommys Mutter holte ein Tshirt von ihrem Sohn hervor, damit der Hund sich den Geruch einprägen konnte. Endlich ging es los. Demian wollte seine Frau abhalten, den Suchtrupp zu begleiten, doch Tiara war nicht davon abzubringen und so ließ er es zu, behielt sie aber die ganze Zeit im Auge, um sofort helfen zu können, wenn sie zusammen brach. Taschenlampen und Suchscheinwerfer sollten ihnen die Suche in der zunehmenden Dunkelheit erleichtern.
Der Hund folgte Tommys Fährte und schnell gelangten sie zu dem Teich. Tiara war, als griffe eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen. Er war doch nicht etwa …? Aber nein, der Hund lief weiter. Die Suche im Wald kam ihr vor wie die Suche im Heuhaufen. Zum Glück war das Waldstück ebenerdig und Straßen gab es auch keine in unmittelbarer Nähe, doch wirklich beruhigend waren diese Gedanken trotzdem nicht. Wo konnte Tommy nur sein? Als sie sich der Wegbiegung näherten, an der die Baumstämme aufgestapelt lagen, schlug der Hund plötzlich an. Er sprang an den Stämmen auf und ab, schnüffelte mit seiner Nase zwischen ihnen herum und lief schlussendlich um den riesigen Haufen herum. Dann bellte er laut und im nächsten Moment zerrte er mit seiner Schnauze an einem Stück Stoff. Tommys Mutter rannte an Tiara vorbei, doch als sie ihren Sohn sah, schrie sie laut auf. Demian hielt Tiara fest, sie sollte nicht auch dieses schreckliche Bild sehen müssen.

Die Schreie von Tommys Mutter, voller Entsetzen, waren so brutal, dass Tiara sie selbst jetzt noch hört. Zwei Monate sind seit dem Unglück vergangen. Ein „Unglück“, so nennen es jedenfalls die Behörden. Tiara wurde keine Schuld zugesprochen, nicht einmal von Tommys Mutter, die seit der Beerdigung in einem Zustand trauernder Lethargie vor sich hin vegetiert. Doch Tiara weiß es besser, sie trägt die Schuld am Tod ihres Schützlings. Er war vor ihr davon gelaufen, weil sie einen Fehler gemacht hatte und dann konnte sie ihn noch nicht einmal aufhalten.
Was sich genau im Wald abgespielt hat, kann niemand wirklich sagen. Die Behörden vermuten jedoch, dass Tommy sich aus Trotz oder Wut versteckt hat und später, als keiner mehr nach ihm suchte, auf den Baumstämmen herum geklettert ist. Dabei muss er dann unglücklich gestürzt sein.
Mittlerweile ist es richtig finster geworden und Tiara, zitternd vor Kälte, steht noch immer auf dem Balkon und blickt zu den Bergen, deren Umrisse vor dem schwarzen Himmel nicht mehr zu erkennen sind. Sie verdient es nicht, in die warme Stube zu gehen, tröstende Worte von Demian zu hören und ihre kleine Tochter Klara in den Arm zu nehmen, die gerade ein paar Wochen alt ist. Sie verdient es nicht, Glück zu empfinden, wo doch so viele Menschen wegen ihr leiden müssen. Einsamkeit erfüllt ihr Herz, bis sie am ganzen Körper eine Gänsehaut hat.
Demian tritt hinter sie, auf einem Arm ihr Baby haltend, mit der freien Hand ihren Rücken tätschelnd. Vorsichtig entzieht sie sich seiner Berührung, schaut dabei in sein trauriges Gesicht. Schnell blickt sie zur Seite, auf die schlafende Klara, so lieblich wie ein Engel. Tiara spürt, dass das Herz ihrer Tochter mit Frieden erfüllt ist und sie weiß mit grausamer Sicherheit, dass weder die Berge, noch Demian oder sonst irgendetwas sie jemals wieder mit Frieden erfüllen können.
 



 
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