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Lio

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Das alte Amtsgericht war abgerissen worden. Vor Frau Peters lag eine riesige Baugrube, zwei gigantische Krähne, ein Bagger, aber es arbeitete niemand, obwohl es viertel Elf war. Immer noch auf den Rollator gestützt, sah sie sich nach Hilfe um. Eine junge Frau in einem Damenanzug eilte hinter ihr am Gehsteig vorbei. Mit dünner, kaum den Verkehrslärm der Bundesstraße überbietender Stimme, rief Frau Peters „Entschuldigung“. Die Frau blieb nicht stehen, warf ihr im Vorübergehen aber einen überraschten Blick zu. Nach ein paar Metern drehte sie sich um, ging rückwärts weiter: „Das Gericht ist jetzt in der Hohenstraße 61 untergebracht“, rief sie. „Das ist am Cernyring.“
Frau Peters Herz begann schneller zu schlagen. Sie würde sich verspäten, bis zum Cernyring war es ein gutes Stück. Sofort machte sie sich auf den Weg, lief, links den Bauzaun, rechts die Bundesstraße, eine ganze Weile den Gehweg entlang, kam dann zum Reichanauplatz, überquerte ihn, atmete schwerer, lies sich bei einer roten Ampel für eine Minute auf der Sitzfläche ihres Rollators nieder, stob bei grün dann wieder in die Höhe und stand schließlich vor einem vielstöckigem Glasbau am Cernyring. „ Amtsgericht“ stand auf einem weißen DIN-A4 Blatt, das mit Tesastreifen an der Glasschiebetür befestigt worden war.
Frau Peters trat ein und blickte sich suchend um. Alle paar Meter ragte eine baumdicke, verspiegelte Säule in die Höhe, Grüppchen von Herren in Anzügen standen zusammen und unterhielten sich. Von der Decke rieselte amerikanischer Pop herab. „Bäh“, sagte sie und begann, auf den Rollator gestützt, loszulaufen. Als erstes ging sie gerade aus, dann sah sie die gelben Orientierungspfeile auf den Spiegelsäulen. Sie folgte dem Pfeil „Rezeption“ und gelangte nach langer Wanderung zu einer kleinen Holztheke hinter der ein in sich zusammengesunkener Herr mit schwarzer Sonnenbrille saß.
„Ich bin vorgeladen“, sagte sie zu ihm.
„Ave“, antwortete der Herr und richtete sich ein wenig auf, „Name?“
„Ingmar Peters“.
Ohne den Kopf zu senken, fuhr er mit dem Zeigefinger auf einem Papier entlang, dann sagte er: „Zimmer 213. 2. Stock. Sie müssen die Treppen nehmen, der Aufzug ist kaputt“.
Frau Peters bedankte sich und ging an dem Holzverschlag vorbei zum Treppenhaus. Nach kurzer Überlegung ließ sie den Rollator im Erdgeschoss stehen und stieg dann, Stufe für Stufe, hinauf.
Oben angekommen, ging sie nah an der Gangwand entlang, damit sie sich bei zu großer Schwäche festhalten konnte. Niemand kam ihr entgegen, es war still und roch beißend nach Zitrone, dabei waren die Wände, die Türen, ja sogar der Linoleumboden weiß, weiß, weiß. Eine Zimmernummer 213 gab es nicht. Das letzte Zimmer im Gang hatte die Nummer 211. Frau Peters blieb keuchend stehen, sah auf ihre Uhr. Sie hatte bereits dreißig Minuten Verspätung.
„Hallooo?“, rief sie, um jemanden um Hilfe zu bitten. Aber ihr Ruf verhallte im Gang.
Sie entschloss sich umzukehren, ging den Gang langsam und schwer atmend zurück, stieg die Treppe hinab, fand unten wieder ihren Rollator. Vorsichtig hockte sie sich auf die Sitzfläche und ruhte aus.

„Das andere Treppenhaus. Sie müssen das andere Treppenhaus nehmen“, erklärte ihr der sonnenbebrillte Rezeptionist, als sie wieder vor ihm stand.
„Eia!“. Er tastete nach rechts, ergriff einen Blindenstock und stand auf. Er schlug die gleiche Richtung ein, die auch Frau Peters gegangen war, wendete sich dann aber nach links, öffnete eine Glastür und hielt sie ihr lächelnd auf. Wieder musste Frau Peters eine Treppe hinaufsteigen, wieder ließ sie den Rollator stehen, wieder roch es oben beißend nach Zitrone und wieder gab es weiße Wände, weiße Türen, einen weißen Linoleumfussboden. Als sie vor der Zimmertür 213 standen, war sie verschlossen und auch nach mehrmaligem Klopfen tat sich nichts.
„Mimus vitae“, sagte der Rezeptionist. Er ging den Gang weiter und begann, zwei Türen bevor er endete, mit einem großen Schlüssel eine nur halbhohe, schmale Tür aufzuschließen.
„Wo gehen Sie denn jetzt hin?“, rief Frau Peters aufgeregt. Der Rezeptionist drehte sich halb zu ihr um, sagte aber nichts, bückte sich und war in der Tür verschwunden.
Frau Peters ging ihm, sich an die Wand stützend, langsam hinterher. Ihre Beine waren ihr sehr schwer geworden. Hinter der Tür war eine Baustelle. Zur linken erblickte Frau Peters ein Betonmischgerät, dahinter einen großen Berg Sand. Rechts lagen Betonsäcke, zwei lange Leitern, überall flog Werkzeug herum. Trotz des niedrigen Türrahmens, musste Frau Peters beim Eintreten nur den Kopf senken. Sie ging ein paar Schritte in die Baustelle hinein. „Hallo“, rief sie. Als sie hinter den Berg Sand war, tat sich vor ihr eine ähnliche Säulenhalle auf wie sie die Lobby darstellte. Allerdings waren die Säulen nicht verspiegelt, sondern bestanden aus weißem Rigips. Auch der Boden – grauer Estrich - war noch nicht mit Teppich verlegt. Zudem fiel die Halle stark ab. Der Rezeptionist war schon weit entfernt, er steuerte in einem erstaunlichen Tempo bergab, auf eine ebenfalls halbhohe Tür zu, die am Fuße der Halle lag. Frau Peters folgte ihm, lief aber im Zickzack von Säule zu Säule, um bei dem Abstieg nicht zu schnell zu werden und vor allem, um auszuruhen. Sie kam sehr langsam voran, weil sie immer längere Pausen machen musste. Das einzige was sie während des gesamten Abstiegs hörte, war ihr eigener keuchender Atem, der immer lauter und rasselnder von der riesigen Säulenhaale verschluckt wurde.
Es dauerte lange bis sie unten bei der Tür ankam. Nachdem sie sie geöffnet und hindurch gegangen war, stand sie wieder in der Lobby. Keine zwanzig Meter entfernt, auf der linken Seite, war die Rezeption. Der sonnenbebrillte Rezeptionist hatte wieder Platz genommen und telefonierte.
„Ihr Kläger hat die Anklage zurückgezogen“, teilte er ihr mit, als sie vor ihm stand. „Ich habe gerade mit der Richterin telefoniert.“
„Ja, wie denn das?“, sagte Frau Peters.
„Er hat die Originale ihrer Handyverträge verlegt.“
„Verlegt?“, entrüstete sich Frau Peters, „ich habe doch niemals irgendetwas unterschrieben. Ich wurde angerufen, dass ich zwei Handys gewonnen hätte, aber ich habe doch niemals etwas unterschrieben.“
„Quoquo modo se res habet“, antwortete der sonnenbebrillte Rezeptionist.
„Ja und warum teilt man mir das nicht mit, dass die Klage zurückgezogen wurde?“, ereiferte sich Frau Peters, „jetzt habe ich den langen Weg umsonst gemacht!“.
Der Rezeptionist antwortete ihr nicht mehr. Er saß aufrecht vor ihr und schwieg.
Frau Peters sah den Rezeptionisten verständnislos an. Dann zuckte sie die Achseln und sagte: „Also dann, Auf Wiedersehen“.
„Salve!“, verabschiedete sich der Rezeptionist und sank etwas in sich zusammen.
Frau Peters holte den Rollator aus dem Treppenhaus und durchfuhr sehr müde, aber auf eine merkwürdige Weise beschwingt, den verspiegelten Säulenwald bis zur Schiebetür. Draußen seufzte sie aus vollem Herzen. Endlich, nach über zwei Jahren, war alles vorbei.
 



 
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