Das erste Mal als ich an der Haltestelle stand, um auf den Frühbus zu warten, fühlte ich mich,als hätte mir ein Pferd in die Visage getreten.
Es war 4 Uhr 50 und die bleierne Stille des Herbstmorgens war Paladin der allgegenwärtigen Dunkelheit.
Die Acetylsalicylsäure der ersten Schmerztablette des Tages war gerade dabei, sich aus dem Magen-Darm-Trakt zu verabschieden und ihrer originären Aufgabe, nämlich
mir den Suff des letzen Abends aus den Knochen zu scheuchen, nachzukommen.
Ich hatte mich in das trügerische Refugium des Plexiglas-Wartehäuschens zurückgezogen, als mich ein Windhauch frösteln ließ. Ursache hierfür war nicht nur die Kälte des sich unaufhaltsam nähernden Winters, sondern auch die mit herangetragene müllige Duftwolke des einzigen weiteren Fahrgastes.
Der bucklige Typ, zwei Meter groß, wahrscheinlich 200 Kilo schwer und eingekleidet in der Caritas-Herbstkollektion, hatte die letzen Minuten in einem katatonischen Stupor
verbracht, war jedoch nun dazu übergegangen, seinen imaginären Nachbarn aufs Wüsteste zu beschimpfen. War es nicht einer von Robert Louis Stevensons Protagonisten der sagte: „Ich kann über Billy Randall nichts Nachteiliges sagen, außer dass mir von ihm speiübel wurde und die Zeit, die ich nun in seiner Gegenwart verbrachte, mir wie ein Albtraum war“? Vermutlich hatte ich soeben Bekanntschaft mit meinem persönlichen Billy Randall gemacht.
Im Nachhinein hätte ich gut und gerne darauf verzichten können.
Wo zur Hölle wollte diese Kerl bloß hin? Für das Ende der Ausgangszeit aus der psychiatrischen Klinik war es wohl ein bisschen zu früh und für seinen potenziellen Dienst-
antritt beim örtlichen Finanzamt schien es auch nicht die adäquate Zeit zu sein.
Ich erinnerte mich an einen nicht allzu erwähnenswerten Film den ich mal gesehen hatte;
er handelte von einer völlig degenerierten Familie in den USA, welche Werkzeuge, die üblicherweise nur Baumfäller benützen, zur Verstümmelung argloser Bürger gebrauchte.
Ich taufte meinen Selbstgespräche führenden „Mitwarter“ kurzerhand „Kettensägenmassaker“ und grinste in mich hinein.
Um diese Uhrzeit schien einfach alles möglich zu sein.
Bevor ich mich jedoch weiter mit Kettensägenmassakers Absichten beschäftigen konnte, vernahm ich das sonore Dröhnen des nahenden Omnibusses. Gedanklich malte ich mir
schon aus, wie mich die flauschige Wärme im Inneren umarmen und mich zu einem kleinen Nickerchen einladen würde.
Der Bus hielt und öffnete zischend die Türen. Das OP-Licht und die klamme Luft, die mir entgegen schlugen ließen jedoch augenblicklich jeden Gedanken an Schlaf zu einer vollkommenen Absurdität mutieren. Wie ein Leichnam ließ ich mich in eine leere Zweiersitzbank mit akkurat im Stile der 70er Jahre karierten Polstern fallen, schloss die Augen und atmete tief durch.
Langsam, fast schon mythisch, wurden die Schiebetüren geschlossen und die geistig gesunde Welt hatte sich von mir verabschiedet.
Der erste morgendliche Vertreter des öffentlichen Personennahverkehrs setzte sich wieder in Bewegung und ich blickte starr aus dem Fenster, aus dem mich mein krank wirkendes Spiegelbild ansah. Kälte durchfuhr mich und ich verschanzte mich hinter einer dicken Mauer der Lethargie. Und wie ich langsam doch in den warmen Bauch des Schlafes zurückzukriechen begann, sinnierte ich (wie so oft) darüber nach, wie alles hatte nur so kommen können. Der Film lief erneut ab; ich kannte das Ende nur zu gut, wollte es auf keinen Fall sehen und konnte mich wieder nicht dagegen wehren...
...Du bist der bestbezahlteste Chirurg im Dominikanerkrankenhaus und kommst nach 27-stündigem Dauerdienst mit dem Rad nach Hause gefahren.
Gegen 08:00 Uhr biegst du in die Vorstadtsiedlung, in der dein Einfamilienhaus steht, während dir die angenehm warme Luft eines Sommermorgens das Gesicht streichelt. Du lässt akkurate Vorgärten, noble Erst- und Zweitwagen hinter dir und erlebst ein regelrechtes Hochgefühl. Den Rausch des Rechtschaffenen nach erledigter Arbeit. Grundlos belustigt, die gnadenlose Übernächtigung in Hirn und Knochen (mehr jedoch im Hirn) zog ich irgendwie die Parallele zwischen mir und Graf Dracula; der trieb schließlich auch des Nächtens sein
Unwesen, um schließlich bei Tagesanbruch zu retirieren.
Du öffnest das Gartentor, lehnst das Fahrrad lieblos an die Mülltonne, hörst die Vögel singen und über dich wogt eine neuerliche Welle des Hochgefühls; die Gewissheit, zu „den Guten“ zu gehören, „es geschafft“ zu haben.
Du ziehst den Hausschlüssel aus der Hosentasche, in freudiger Erwartung, deinen gemarterten Körper in deinen Sarg respektive dein Bett zu legen, um dort mindestens zwei Tage am Stück zu schlafen, als dich deine Frau erwartet.
Im selben Moment als du den Schlüssel in das Schloss schiebst, reißt sie die Türe auf.
Ihr gehetzter Blick lässt nichts Gutes erahnen, aber du weißt, das „nichts Gutes“ im Verhältnis zu ihrer Nachricht so ist, als würde man Hitlers Einmarsch in Polen als Vergreifen im guten Ton bezeichnen.
Noch bevor du einen Fuß über die Schwelle setzen kannst schlägt sie dir auf Verbale Art ins Gesicht.
„Heinz, es ist aus. Ich habe vor einiger Zeit jemanden kennen gelernt. Es ist etwas Ernstes, ich habe schon gepackt und verschwinde jetzt. Bitte versteh mich.“
Und du weißt, das ihr Auftritt an jenem Morgen in Verbindung mit den scharfen, tiefen Schnitten die ihre Worte hinterlassen keinen Kompromiss zulassen.
Den letzten klaren Gedanken, den du fassen kannst ist der, dass sie mit ihrem gehetzten, abgekämpften Gesicht aussieht wie ein Springkasper, der die ganze Nacht an der Haustüre gewartet hatte, um mir mit diesen Bekundungen ins Gesicht zu springen.
Dann zerfliest die Realität zu einem undurchsichtigen grünen Wirrwarr, dem du letztlich geschieden, alkoholkrank, ohne Approbation dafür mit 125.000 Euro Schulden entsteigst. .
Als ich mich wieder an die Oberfläche des Bewusstseins gehangelt hatte musste ich mich wieder wundern. War das alles doch schon 5 Jahre her? Irgendwie kam mir die ganze Zeit wie ein böser Traum vor, bei dem ich zum Zusehen verdammt gewesen war.
Als ich mich endlich komplett aus dem stählernen Griff dieses Dämmerzustandes reißen konnte und mir einen näheren Blick auf die weiteren Fahrgäste gönnte, stellte sich fest, dass Kettensägenmassaker (der mir jetzt schräg gegenüber saß und gerade einen riesigen Rotzfaden aus der Nase hängen hatte) nur ein winziges Steinchen in einem Mosaik der frühmorgendlichen Skurrilitäten war.
In der Bank rechterhand saß ein Mann, dem ersten Eindruck nach Mitte 50, der mich mit offen stehendem Mund aus zwei verhangenen Augen anlugte, wobei er es fertig brachte, mit dem rechten die Decke und mit dem linken den Fußboden im Blick zu haben.
Drei Reihen vor mir konnte ich von hinten nur zwei dunkle Kopftücher mit Blümchenmuster
erkennen, die eine lautere Diskussion in irgend einer fremdländischen Sprache führten.
Bei der nächsten Haltestelle gesellten sich noch zwei weitere Verschleierte hinzu und stiegen
in schrillem Ton in die Unterhaltung mit ein. Ein weißhaariger mit Baskenmütze, der im fast leeren Bus einen Stehplatz für angebracht hielt, grinste über beide Backen aus dem Fenster hinaus, als wäre ein schmutziger Witz erzählt worden, den nur er hören konnte.
Hatte ich die ganze Situation für einen winzig kleinen Augenblick amüsant gefunden, so wandelte sich mein Empfinden nun schlagartig. Mir war bewusst geworden, wo ich mich nun befand. Am Ende der Nahrungskette. Bei den sozial schwachen. Eventuell sogar bei den Problemfällen. Von außen betrachtet mochte es ein ganz gewöhnlicher Linienbus auf seiner Tour sein, doch derjenige, der in ihm Platz genommen hatte, oder nehmen musste, hatte in seinem Leben definitiv irgend etwas falsch gemacht.
Diesen Job hatte ich zur Resozialisierung vermittelt bekommen. Zahllosen Sozialparasiten konnte dieser Staat offensichtlich unter die Arme greifen. Bei mir war nach diesen 5 Jahren jedoch das Ende der Fahnenstange erreicht. Entweder ich nahm diese Hilfsarbeiterstelle an, oder ich würde sämtliche finanzielle Unterstützung durch Vater Staat verlieren.
Und irgendwie sah ich eine Arbeit zu bekommen – gleich welcher Art sie war – auch als persönliche Chance an. Ich konnte von Null Anfangen und mir wieder zumindest einen kleinen Fetzen Normalität aus dem unendlich großen Buch unseres Lebens herausreißen, wieder festen Boden unter den Füßen bekommen. Alles andere würde sich dann von selbst wieder einrenken.
Die Stelle war vom Arbeitsamt nichtssagend als Lagerhilfe deklariert worden. Bei einem persönlichen Gespräch wurde mir dann eröffnet, das es sich um Arbeiten in den Lagern eines großen Verlages, der sich vorwiegend auf Versandhandel stützte, war. Da Lesen immer zu meinen großen Leidenschaften gehört hatte, nahm ich diesen Aspekt als weiteren kleinen Ansporn, mich aufzuraffen, und von Neuem anzufangen.
Meine Station hieß Kaiserstraße. Unter rüdem Gedränge und Passieren mehrerer Geruchszonen erkämpfte ich mir zusammen mit ungefähr 10 weiteren Personen den Weg in die Freiheit.
Der schielende Fastrentner und Kettensägenmassaker waren auch mit dabei.
Von der Kaiserstraße aus kam ein eigens für den Von-Demharter-Verlag eingesetzter Werksbus, um die Mitarbeiter über 4 weiter Haltestellen hinweg einzusammeln und zu ihrem
Bestimmungsort, der Lagerhalle, zu bringen.
Dieser Bus hatte keine Innenbeleuchtung eingeschalten, so dass die anderen Passagiere nur schemenhaft zu erkennen waren und ich dankte Gott auf Knien für diesen Umstand.
„So Herr Naschmitz, Gumpp ist mein Name. Ich bin hier der Werksleiter.“ Der Typ mit den dunkelbraunen Haaren, gleichfarbigem Oberlippenbart und schwarzem C&A-Anzug schenkte mir ein generöses Lächeln und ich konnte ihn mir nur allzu lebhaft in deutschem Fußballtrikot und Jogginghose vorstellen, wie er in der Dorfkneipe ein Weißbier nach dem anderen orderte und aus Quizshows erworbenes Fachwissen von sich gab, um dann am Stammtisch mit seiner exorbitant entlohnten Stelle zu prahlen.
„Normalerweise bin ich um diese Zeit noch nicht im Hause, aber die letzten Tage läuft hier sowieso alles ein bisschen improvisativ und wenn sie heute schon ihren ersten Tag haben...“
Improvisativ; hatte er sich wirklich einen derartigen Lapsus erlaubt und keinen Versuch unternommen, sich zu korrigieren?
Oh Mann, wo zur Hölle war ich hier gelandet?
Wenn die „Führungskräfte“ hier schon in übelster Ballermann-Manier agierten, was konnte ich von meinen zukünftigen Kollegen erwarten?
„Waren Sie schon mal im Verlagswesen tätig?“
Angesichts der Tatsache, dass meine zukünftige Tätigkeit aus Bücher in auf dem Fließband fahrende Kartons zu stecken bestehen würde, war die Frage wohl als übler Scherz gedacht gewesen. Vermutlich wollte Gumpp so seine – vermutlich sehr leichte - Überlegenheit gegenüber den grenzdebilen, die hier ihr Dasein fristeten, ausspielen, was ihm bei mir aber misslingen würde.
Aber wieder ermahnte ich mich zum positiv denken. Es war meine Chance. Wollte ich mich wirklich wieder aufrappeln, so war dies das kleine helle Licht am Ende eines langen dunklen Korridors.
Durch die monströsen, stinkenden Hallen des Verlages, dich sich mit ihrer riesigen Glasfront im Sommer zu einem Hochofen entwickeln dürften, schlängelten sich zwei parallel laufende Fließbänder; große und kleine Kartons mit langen Strichcode-Nummerierungen wurden so auf dem vermutlich kilometerlangen Weg durch die Hallen abgefertigt.
Die Arbeit war aufgeteilt in Bücher aus dem Regal nehmen und dann
auf Transportwägen stapeln; oder Bücher von besagtem Transportwagen nehmen und in den jeweiligen Karton auf dem Fließband werfen.
Ich trottete dem Monolog führenden Gumpp hinterher und hatte schon fast wieder eine massive Lethargiemauer um mich gebaut, als wir endlich ankamen.
„...herrscht bei uns eigentlich ein sehr gutes Betriebsklima. Da sind wir ja schon. Sie werden hier auf Zone 15 am Fließband arbeiten. Ah, da ist ja auch der Teamleiter. Herr Gassner, kommen Sie mal kurz! Ich möchte Ihnen Ihren neuen Mitarbeiter vorstellen!“
Mit dem Blaumann sah er eigentlich gar nicht mehr so heruntergekommen aus; sein Odeur und seine bucklige Haltung hatten sich jedoch keineswegs verändert.
Ich spürte jeglichen Lebensmut schwinden, als mir Kettensägenmassaker die Hand schüttelte.
Es war 4 Uhr 50 und die bleierne Stille des Herbstmorgens war Paladin der allgegenwärtigen Dunkelheit.
Die Acetylsalicylsäure der ersten Schmerztablette des Tages war gerade dabei, sich aus dem Magen-Darm-Trakt zu verabschieden und ihrer originären Aufgabe, nämlich
mir den Suff des letzen Abends aus den Knochen zu scheuchen, nachzukommen.
Ich hatte mich in das trügerische Refugium des Plexiglas-Wartehäuschens zurückgezogen, als mich ein Windhauch frösteln ließ. Ursache hierfür war nicht nur die Kälte des sich unaufhaltsam nähernden Winters, sondern auch die mit herangetragene müllige Duftwolke des einzigen weiteren Fahrgastes.
Der bucklige Typ, zwei Meter groß, wahrscheinlich 200 Kilo schwer und eingekleidet in der Caritas-Herbstkollektion, hatte die letzen Minuten in einem katatonischen Stupor
verbracht, war jedoch nun dazu übergegangen, seinen imaginären Nachbarn aufs Wüsteste zu beschimpfen. War es nicht einer von Robert Louis Stevensons Protagonisten der sagte: „Ich kann über Billy Randall nichts Nachteiliges sagen, außer dass mir von ihm speiübel wurde und die Zeit, die ich nun in seiner Gegenwart verbrachte, mir wie ein Albtraum war“? Vermutlich hatte ich soeben Bekanntschaft mit meinem persönlichen Billy Randall gemacht.
Im Nachhinein hätte ich gut und gerne darauf verzichten können.
Wo zur Hölle wollte diese Kerl bloß hin? Für das Ende der Ausgangszeit aus der psychiatrischen Klinik war es wohl ein bisschen zu früh und für seinen potenziellen Dienst-
antritt beim örtlichen Finanzamt schien es auch nicht die adäquate Zeit zu sein.
Ich erinnerte mich an einen nicht allzu erwähnenswerten Film den ich mal gesehen hatte;
er handelte von einer völlig degenerierten Familie in den USA, welche Werkzeuge, die üblicherweise nur Baumfäller benützen, zur Verstümmelung argloser Bürger gebrauchte.
Ich taufte meinen Selbstgespräche führenden „Mitwarter“ kurzerhand „Kettensägenmassaker“ und grinste in mich hinein.
Um diese Uhrzeit schien einfach alles möglich zu sein.
Bevor ich mich jedoch weiter mit Kettensägenmassakers Absichten beschäftigen konnte, vernahm ich das sonore Dröhnen des nahenden Omnibusses. Gedanklich malte ich mir
schon aus, wie mich die flauschige Wärme im Inneren umarmen und mich zu einem kleinen Nickerchen einladen würde.
Der Bus hielt und öffnete zischend die Türen. Das OP-Licht und die klamme Luft, die mir entgegen schlugen ließen jedoch augenblicklich jeden Gedanken an Schlaf zu einer vollkommenen Absurdität mutieren. Wie ein Leichnam ließ ich mich in eine leere Zweiersitzbank mit akkurat im Stile der 70er Jahre karierten Polstern fallen, schloss die Augen und atmete tief durch.
Langsam, fast schon mythisch, wurden die Schiebetüren geschlossen und die geistig gesunde Welt hatte sich von mir verabschiedet.
Der erste morgendliche Vertreter des öffentlichen Personennahverkehrs setzte sich wieder in Bewegung und ich blickte starr aus dem Fenster, aus dem mich mein krank wirkendes Spiegelbild ansah. Kälte durchfuhr mich und ich verschanzte mich hinter einer dicken Mauer der Lethargie. Und wie ich langsam doch in den warmen Bauch des Schlafes zurückzukriechen begann, sinnierte ich (wie so oft) darüber nach, wie alles hatte nur so kommen können. Der Film lief erneut ab; ich kannte das Ende nur zu gut, wollte es auf keinen Fall sehen und konnte mich wieder nicht dagegen wehren...
...Du bist der bestbezahlteste Chirurg im Dominikanerkrankenhaus und kommst nach 27-stündigem Dauerdienst mit dem Rad nach Hause gefahren.
Gegen 08:00 Uhr biegst du in die Vorstadtsiedlung, in der dein Einfamilienhaus steht, während dir die angenehm warme Luft eines Sommermorgens das Gesicht streichelt. Du lässt akkurate Vorgärten, noble Erst- und Zweitwagen hinter dir und erlebst ein regelrechtes Hochgefühl. Den Rausch des Rechtschaffenen nach erledigter Arbeit. Grundlos belustigt, die gnadenlose Übernächtigung in Hirn und Knochen (mehr jedoch im Hirn) zog ich irgendwie die Parallele zwischen mir und Graf Dracula; der trieb schließlich auch des Nächtens sein
Unwesen, um schließlich bei Tagesanbruch zu retirieren.
Du öffnest das Gartentor, lehnst das Fahrrad lieblos an die Mülltonne, hörst die Vögel singen und über dich wogt eine neuerliche Welle des Hochgefühls; die Gewissheit, zu „den Guten“ zu gehören, „es geschafft“ zu haben.
Du ziehst den Hausschlüssel aus der Hosentasche, in freudiger Erwartung, deinen gemarterten Körper in deinen Sarg respektive dein Bett zu legen, um dort mindestens zwei Tage am Stück zu schlafen, als dich deine Frau erwartet.
Im selben Moment als du den Schlüssel in das Schloss schiebst, reißt sie die Türe auf.
Ihr gehetzter Blick lässt nichts Gutes erahnen, aber du weißt, das „nichts Gutes“ im Verhältnis zu ihrer Nachricht so ist, als würde man Hitlers Einmarsch in Polen als Vergreifen im guten Ton bezeichnen.
Noch bevor du einen Fuß über die Schwelle setzen kannst schlägt sie dir auf Verbale Art ins Gesicht.
„Heinz, es ist aus. Ich habe vor einiger Zeit jemanden kennen gelernt. Es ist etwas Ernstes, ich habe schon gepackt und verschwinde jetzt. Bitte versteh mich.“
Und du weißt, das ihr Auftritt an jenem Morgen in Verbindung mit den scharfen, tiefen Schnitten die ihre Worte hinterlassen keinen Kompromiss zulassen.
Den letzten klaren Gedanken, den du fassen kannst ist der, dass sie mit ihrem gehetzten, abgekämpften Gesicht aussieht wie ein Springkasper, der die ganze Nacht an der Haustüre gewartet hatte, um mir mit diesen Bekundungen ins Gesicht zu springen.
Dann zerfliest die Realität zu einem undurchsichtigen grünen Wirrwarr, dem du letztlich geschieden, alkoholkrank, ohne Approbation dafür mit 125.000 Euro Schulden entsteigst. .
Als ich mich wieder an die Oberfläche des Bewusstseins gehangelt hatte musste ich mich wieder wundern. War das alles doch schon 5 Jahre her? Irgendwie kam mir die ganze Zeit wie ein böser Traum vor, bei dem ich zum Zusehen verdammt gewesen war.
Als ich mich endlich komplett aus dem stählernen Griff dieses Dämmerzustandes reißen konnte und mir einen näheren Blick auf die weiteren Fahrgäste gönnte, stellte sich fest, dass Kettensägenmassaker (der mir jetzt schräg gegenüber saß und gerade einen riesigen Rotzfaden aus der Nase hängen hatte) nur ein winziges Steinchen in einem Mosaik der frühmorgendlichen Skurrilitäten war.
In der Bank rechterhand saß ein Mann, dem ersten Eindruck nach Mitte 50, der mich mit offen stehendem Mund aus zwei verhangenen Augen anlugte, wobei er es fertig brachte, mit dem rechten die Decke und mit dem linken den Fußboden im Blick zu haben.
Drei Reihen vor mir konnte ich von hinten nur zwei dunkle Kopftücher mit Blümchenmuster
erkennen, die eine lautere Diskussion in irgend einer fremdländischen Sprache führten.
Bei der nächsten Haltestelle gesellten sich noch zwei weitere Verschleierte hinzu und stiegen
in schrillem Ton in die Unterhaltung mit ein. Ein weißhaariger mit Baskenmütze, der im fast leeren Bus einen Stehplatz für angebracht hielt, grinste über beide Backen aus dem Fenster hinaus, als wäre ein schmutziger Witz erzählt worden, den nur er hören konnte.
Hatte ich die ganze Situation für einen winzig kleinen Augenblick amüsant gefunden, so wandelte sich mein Empfinden nun schlagartig. Mir war bewusst geworden, wo ich mich nun befand. Am Ende der Nahrungskette. Bei den sozial schwachen. Eventuell sogar bei den Problemfällen. Von außen betrachtet mochte es ein ganz gewöhnlicher Linienbus auf seiner Tour sein, doch derjenige, der in ihm Platz genommen hatte, oder nehmen musste, hatte in seinem Leben definitiv irgend etwas falsch gemacht.
Diesen Job hatte ich zur Resozialisierung vermittelt bekommen. Zahllosen Sozialparasiten konnte dieser Staat offensichtlich unter die Arme greifen. Bei mir war nach diesen 5 Jahren jedoch das Ende der Fahnenstange erreicht. Entweder ich nahm diese Hilfsarbeiterstelle an, oder ich würde sämtliche finanzielle Unterstützung durch Vater Staat verlieren.
Und irgendwie sah ich eine Arbeit zu bekommen – gleich welcher Art sie war – auch als persönliche Chance an. Ich konnte von Null Anfangen und mir wieder zumindest einen kleinen Fetzen Normalität aus dem unendlich großen Buch unseres Lebens herausreißen, wieder festen Boden unter den Füßen bekommen. Alles andere würde sich dann von selbst wieder einrenken.
Die Stelle war vom Arbeitsamt nichtssagend als Lagerhilfe deklariert worden. Bei einem persönlichen Gespräch wurde mir dann eröffnet, das es sich um Arbeiten in den Lagern eines großen Verlages, der sich vorwiegend auf Versandhandel stützte, war. Da Lesen immer zu meinen großen Leidenschaften gehört hatte, nahm ich diesen Aspekt als weiteren kleinen Ansporn, mich aufzuraffen, und von Neuem anzufangen.
Meine Station hieß Kaiserstraße. Unter rüdem Gedränge und Passieren mehrerer Geruchszonen erkämpfte ich mir zusammen mit ungefähr 10 weiteren Personen den Weg in die Freiheit.
Der schielende Fastrentner und Kettensägenmassaker waren auch mit dabei.
Von der Kaiserstraße aus kam ein eigens für den Von-Demharter-Verlag eingesetzter Werksbus, um die Mitarbeiter über 4 weiter Haltestellen hinweg einzusammeln und zu ihrem
Bestimmungsort, der Lagerhalle, zu bringen.
Dieser Bus hatte keine Innenbeleuchtung eingeschalten, so dass die anderen Passagiere nur schemenhaft zu erkennen waren und ich dankte Gott auf Knien für diesen Umstand.
„So Herr Naschmitz, Gumpp ist mein Name. Ich bin hier der Werksleiter.“ Der Typ mit den dunkelbraunen Haaren, gleichfarbigem Oberlippenbart und schwarzem C&A-Anzug schenkte mir ein generöses Lächeln und ich konnte ihn mir nur allzu lebhaft in deutschem Fußballtrikot und Jogginghose vorstellen, wie er in der Dorfkneipe ein Weißbier nach dem anderen orderte und aus Quizshows erworbenes Fachwissen von sich gab, um dann am Stammtisch mit seiner exorbitant entlohnten Stelle zu prahlen.
„Normalerweise bin ich um diese Zeit noch nicht im Hause, aber die letzten Tage läuft hier sowieso alles ein bisschen improvisativ und wenn sie heute schon ihren ersten Tag haben...“
Improvisativ; hatte er sich wirklich einen derartigen Lapsus erlaubt und keinen Versuch unternommen, sich zu korrigieren?
Oh Mann, wo zur Hölle war ich hier gelandet?
Wenn die „Führungskräfte“ hier schon in übelster Ballermann-Manier agierten, was konnte ich von meinen zukünftigen Kollegen erwarten?
„Waren Sie schon mal im Verlagswesen tätig?“
Angesichts der Tatsache, dass meine zukünftige Tätigkeit aus Bücher in auf dem Fließband fahrende Kartons zu stecken bestehen würde, war die Frage wohl als übler Scherz gedacht gewesen. Vermutlich wollte Gumpp so seine – vermutlich sehr leichte - Überlegenheit gegenüber den grenzdebilen, die hier ihr Dasein fristeten, ausspielen, was ihm bei mir aber misslingen würde.
Aber wieder ermahnte ich mich zum positiv denken. Es war meine Chance. Wollte ich mich wirklich wieder aufrappeln, so war dies das kleine helle Licht am Ende eines langen dunklen Korridors.
Durch die monströsen, stinkenden Hallen des Verlages, dich sich mit ihrer riesigen Glasfront im Sommer zu einem Hochofen entwickeln dürften, schlängelten sich zwei parallel laufende Fließbänder; große und kleine Kartons mit langen Strichcode-Nummerierungen wurden so auf dem vermutlich kilometerlangen Weg durch die Hallen abgefertigt.
Die Arbeit war aufgeteilt in Bücher aus dem Regal nehmen und dann
auf Transportwägen stapeln; oder Bücher von besagtem Transportwagen nehmen und in den jeweiligen Karton auf dem Fließband werfen.
Ich trottete dem Monolog führenden Gumpp hinterher und hatte schon fast wieder eine massive Lethargiemauer um mich gebaut, als wir endlich ankamen.
„...herrscht bei uns eigentlich ein sehr gutes Betriebsklima. Da sind wir ja schon. Sie werden hier auf Zone 15 am Fließband arbeiten. Ah, da ist ja auch der Teamleiter. Herr Gassner, kommen Sie mal kurz! Ich möchte Ihnen Ihren neuen Mitarbeiter vorstellen!“
Mit dem Blaumann sah er eigentlich gar nicht mehr so heruntergekommen aus; sein Odeur und seine bucklige Haltung hatten sich jedoch keineswegs verändert.
Ich spürte jeglichen Lebensmut schwinden, als mir Kettensägenmassaker die Hand schüttelte.