Frühlings Erwachen

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Griot

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Frühlings Erwachen

Das Erwachen war ein großes, böses, fieses und bestimmt das gemeinste aller Arten daran erinnert zu werden, dass die Zigaretten alle sind und der nächste Automat in 800 Metern Entfernung, Luftlinie. Draußen ist es noch fieser und gemeiner, denn das Frühlingsfest lauert mit seinem Grauen, den Menschenschwämmen, schlechter Musik, die mal als gut empfunden wurde und einer Luft, die mehr nach Mageninhalt als nach Pollen riecht. Und so verließ ich viel zu spät die rettende Festung, um mir auf dem schnellsten Wege Zigaretten zu holen. Als ich die Tür öffnete, hämmerte mir ein Presslufthammer den Geruch von Urin in die Nase. Ich blieb wie gebannt am Eingang stehen und konnte meine Augen nicht von dem Unheil abwenden, dass sich dort, 2 Meter vor mir, abspielte. Es war ein Bild das sich in die Netzhaut brannte, wie Tinte in den Oberarm. Irgendwie widerlich bis Mittelstrahl stand dort ein junger Pissakrobat und wedelte mit seiner Nudel direkt in meine Richtung. Lallend fügte er hinzu:

„EeeEEeHjj … DuuuHhh, geh mal zur Seite, ich muss schiffen!“

Apathisch begann ich mit dem Kopf zu schütteln, so als ob es irgendwas an der Situation ändern könnte und mein Widerwillen machte sich breit: „Sag mal, hast du noch alle Latten im Zaun, du kannst doch nicht meinen Hauseingang markieren, du bist doch kein Hund! Ich würd vorschlagen, dass du dein Gerät schleunigst einpackst und dir ne andere urbane Toilette suchst!“

„Ich wollt doch nur …“

Und ich unterbrach ihn, weil er den Ernst der Lage nicht verstand: „Wie, ich wollt doch nur? Hose hoch oder du brauchst morgen nen Katheter!“

Und er war schon am Einpacken, nur registrierte das sein Gehirn noch nicht und die ganze Soße lief ihm die Hosenbeine hinunter:

„Und nun? Schau dir das an, damit kann ich doch nicht … ich kann doch nicht …“

„Wie, du kannst nicht? Ich glaub sogar du musst … Zuerst ist es warm und dann wird’s kalt, ganz einfach. Ich werde jetzt nicht noch mal hochrennen und dir nen Fön holen und außerdem, was red ich denn mit dir. Du bist so armselig, hoffentlich ist es dir eine Lehre. Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst und nimm dir nächstes Mal Windeln mit, bevor ich auf euren heimischen Wohnzimmerteppich kacke, dann wirst du verstehen, wie sich das anfühlt.“

Er schwankte zur Seite und murmelte unverständliche Worte in einer mir nicht bekannten Sprache, die sich zwischen Speichelfäden und Mundtaubheit wie ein klingonischer Fluch anhörte. Ich sprang mit festem Schritt über den See vor mir und schloss das Gitter ab, das in grauer Vorzeit einmal einem Juwelier zur Abschreckung diente und heute als ein antiquiertes Stück Guseisen alles überstanden hat – vom 2. Weltkrieg bis zur Korrosion durch Harnstoff. Ich stieg die Stufen hinab und wie ein Hindernisparkour lag dort vor mir das Straßenpflaster mit all seinen Unebenheiten, den Bergen aus Glasscherben der verschiedensten Prägung, Bierleichen, die noch leicht atmend, den Sonnenuntergang entgegen jammerten und achtlos weggeworfenen Pizzaresten. Grazil sprang ich über den vor mir liegenden Mann mittleren Alters, dem sein Wohlstand wohl zu Kopf gestiegen war und setzte meine Odyssee durch eine uniforme Masse fort. „Hier verschwimmen die Grenzen“, dachte ich mir, hier feiern Szenepunks mit ihren Mittelstandseltern und tanzen gemeinsam mit Mittdreißigern im Pulk zur Toten-Hosen-Coverband. Alles durcheinander gemischt, wie mag das von oben aussehen.

Und schon wieder fällt ein Glas auf den Boden, schon wieder greift ein Typ im Poloshirt seiner Schnitte an den Arsch, schon wieder stolpert jemand über eine Bierflasche, schon wieder eine Horde Kleinkünstler mit Fakelträgern, Feuerspuckern, Jongleuren, stoppelbärtigen Clowns auf Einrädern und dem singenden Landfrauenverein, der heute einen auf Ethno macht. Und so stimmen sie alle mit ein, in den Frauenchor, der sich nur durch seine verstärkte Brachialität als ein Meer von Stimmen über ein anderes legt. Dann erneut immer wieder die gleichen Szenen, quengelnde Kinder, orientierungslose Menschen, die sich nicht zwischen Nudelpfanne und Nasi Goreng entscheiden können und dann das gewohnte Bild von zerbrochenen Gläsern und Existenzen.

„Weiter gehen, nicht umdrehen, weiter zum Westerntor, zum nettesten Kiosk der Welt, der immer offen hat, an dem man immer verabschiedet wird. Mit einem Lächeln, bis zum nächsten Mal, auf Wiedersehen!“

Doch bis ich dorthin gelangen konnte, musste ich erst durch das Minenfeld: 800 Meter feinster Maschendraht aus Familienausflügen und Rentnerschwämmen, die zu jeder Gelegenheit stehen blieben und mit offenen Mündern vergaßen ihr Eis zu essen. Und so ging es mir durch den Kopf: „Vielleicht werde ich nie ankommen, vielleicht werde ich nie zurückkehren.“

Und was ist, wenn ich den kleinen Pissakrobaten von eben treffe – mit dem Unterschied, dass er jetzt seine minderjährigen Freunde dabei hätte, die alle klingonisch sprächen und mir mit selbst gebastelten Waffen an einer dunklen Ecke auflauern würden, um meinen Skalp zu fordern und meine Leiche dann in einem Fluss zu versenken mit Betonschuhen in meiner Größe. Gesetzt den Fall, dass es passieren würde, würde ich das machen, was ich an dieser Stelle immer tue. Ich würde wegrennen und mich in der nächsten schützenden Mülltonne bis zum Sonnenaufgang verstecken und ganz leise atmen – mit dem Wunsch, dass mich keiner findet und ich zum nächsten Frühlingsfest noch am Leben bin, um unseren Hauseingang mit aller Macht zu verteidigen. Ihn unter Strom setzten oder urinierenden Männern mit dem Hochdruckreiniger das Gehirn in Stücke zu fetzen.

Denn diesmal würde ich vorbereitet sein.
 

nachts

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Hm - die Idee find ich ich nicht schlecht und du verwendest manch interessantes Bild aber irgendwie hatte ich beim Lesen den Eindruck du baust deine Geschichte um möglichst viele dieser Bilder zu verwenden. Und zum Beispiel Presslufthämmer die Gerüche hämmern und eingebrannte Tinte in Oberarmen, Minenfelder aus Maschendraht, das ist "to much", das funktioniert nicht.
Vielleicht wär weniger mehr, wie s so schön heißt.
Gruß nachts
 



 
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