Gast frühmorgens

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Patrick

Mitglied
Gast frühmorgens

Kurz vor drei am frühen Morgen kam ich nach Hause. Ich freute mich auf das Bett und wollte nur noch aus der Kleidung schlüpfen, mich hinlegen, zudecken, schlafen. Die Müdigkeit hatte mich übermannt. Wie in Trance vollzog ich die letzten Amtshandlungen eines langen Tages. Die Schuhe waren ausgezogen, das Hemd geöffnet. Auf dem Tisch stand noch ein Schluck Wasser des späten Nachmittags. Dieser verregnete Nachmittag lag so fern, gefühlte Tage und Perioden immer wieder aufsteigender und unterdrückter Müdigkeit zurück. Es schien mir, als hätte ich das Glas vor Wochen gefüllt und der leicht abgestandene Geschmack des Wassers verstärkte meinen Eindruck.

Und zu so später oder früher Stunde trieb mich noch ein Scherz ins Verhängnis. Anstatt das kleine Schlückchen zu schlucken, erlaubte ich mir zu wiederholen, was vor langer Zeit meine Eltern und Geschwister gelegentlich an den Rande des Wahnsinns trieb. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf zurück, öffnete behutsam den Mund und begann zu gurgeln. Ich komponierte eine Melodie und erfreute mich wie benommen meiner Geräusche.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich erschrak und hustete. Ein Schlückchen des Schlückchens lief in den falschen Kanal. Ich hustete lauter, rang nach Luft. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sprang auf, hustete, schluckte, atmete gleichmäßiger, wurde ruhiger. Zögerlich blickte ich an die frisch gestrichene Zimmerdecke. Da saß ein Tier! Doch welches? Eines, das ich noch nie gesehen hatte, weder in der Natur noch in Büchern oder Filmen. Es war fürchterlich. Unweigerlich dachte ich an Kafkas Verwandlung. So stellte ich mir das Ungeziefer vor, in das sich sein Protagonist über Nacht verwandelte.

Ich habe keine Angst vor Tieren, sagte ich mir. Doch es half nichts. Es war zwar klein, doch für ein Ungeziefer sehr groß. Ich erinnerte mich an meine Mutter, die sagte: "Geh, stell dich nicht so an, das Ding hat mehr Angst vor dir, als du vor ihm." Es half nichts. Außerdem bezweifelte ich, dass es Angst vor mir hatte. Wer so aussieht, kennt keine Angst. Im ersten Moment dachte ich an eine Spinne. Die Beine waren so lang und dünn, der Körper so groß. Doch es waren nur zwei Beine, außerdem trägt eine Spinne keinen derartigen braunen Panzer. Eine Spinne hat weder Fühler noch einen seltsamen pyramidenförmigen Stachel. Aus der Ferne betrachtet ähnelte es einem Frosch. Und aus einer anderen Perspektive fühlte ich mich an einen Skorpion erinnert. Was die Aufregung mit einem macht...

Ich öffnete das Fenster und wartete einen Moment. Das Ungeziefer bewegte sich nicht. Wie naiv von mir zu denken, es sei mit dem Fensteröffnen getan. Ich näherte mich langsam. Ein Fühler richtete sich aus, kaum merklich. Trotzdem führte diese Szene zu neuem Schreck. Es lebt! "Gregor, Gregor", flüsterte ich mit zittriger Stimme. Gregor reagierte nicht. Ich blies aus der Distanz. Gregor zeigte sich unbeeindruckt. Ich zog das Sofa ein Stück weit vor und stieg vorsichtig hinauf. Ich wedelte mit einem Kissen. Gregor reagierte nicht. Ich blies kürzer und stärker. Gregor setzte sich in Gang. Es war unerträglich. In welcher Geschwindigkeit sich dieses Kerlchen fortbewegte! Ich hielt es nicht aus.

Gregor kletterte in die direkt am Fenster angebrachte Haltevorrichtung der Jalousie. Dümmer hätte er es nicht anstellen können. Sein Panzer war verborgen. Nur seine Fühler und die Beine mit den markanten Gelenken waren zu sehen. Kann Gregor springen? Und wenn ja, wie weit? Ich möchte es mir nicht vorstellen. Kann Gregor fliegen? Erzeugt er dabei Geräusche? Brummt Gregor oder summt er? Was macht er mit dem Stachel? Zählt Gregor zu einer unentdeckten Spezies eines unberechenbaren Killerinsekts? Waren vielleicht die Eier seiner Nachfahren schon verstreut in meiner Wohnung, in meinem Bett? Und vor was hatte ich verdammt noch mal Angst? War es Angst vor Gregor oder die Angst davor, meine Nachbarn könnten von meiner Schreckhaftigkeit geweckt werden?

Ein Schrei!

Gregor! Etwas flatterte wild umher, berührte mich am Arm, im Gesicht! Doch Gregor war es nicht. Unbekümmert saß er weiter in der Haltevorrichtung. Ein kleiner weißer Falter flatterte auf und ab. Welch Gesellschaft! Weiß wie ein Brautkleid. Flink und doch grazil. An Gregors Stelle wäre ich vor Neid erblasst.

Es war inzwischen nach halb vier. Ich fühlte mich wacher als je zuvor. Die Sehnsucht nach dem Bett war der Hilflosigkeit gewichen. Ich schüttelte leicht am Fenster. Ich stieg aufs Sofa, pustete. Gregor regte sich nicht. Mutig rückte ich näher, auf Augenhöhe, und pustete. Gregor rührte sich nicht. Gregor! Gregor! Gregor schwieg. Ich lies das Fenster langsam zufallen. Die Fühler hätten jetzt reagieren müssen. Sie reagierten nicht. Oh Gregor! Oh Gregor, hast du deinen Tod gefunden in der komplexen Konstruktion, zwischen Eisenstangen und Plastik? Oh Gregor, was ist, wenn ich morgen deine Gebeine finde auf dem Fensterbrette! Tu mir das nicht an! Dein Tod ist schlimmer als dein Leben. Zappel, hüpf, spring zehn Meter, klettere oder flieg laut brummend durch den Raum! Erschreck mich, stich mich, quäl mich, friss mich auf! Alles, verteufelt, verflucht, bloß nicht Zeuge deines Verwesungsprozesses möchte ich werden.

Und Gregor bewegte sich. Gregor hob seinen Kopf, den Panzer, die Beine. Oh nicht! Nicht diese widerlichen Beine! Bereit zum Sprung irgendwohin. In mein Gesicht, ans andere Ende des Raumes, ins Nirgendwo. Nichts schlimmer als der dumpfe Aufschlag Gregors, wie eine Nuß, die zu Boden fällt, unwissend, wo sie gelandet ist.

Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich lag auch schon im Bett. Doch Gregor lies mir keine Ruhe. Immer wieder musste ich nach ihm sehen. War er noch da? Immer wieder, ob er noch lebte oder tot war. Ich wollte ihn nicht töten, und ich konnte ihn nicht retten aus dieser Haltevorrichtung der Jalousie. Ich wollte nicht wissen, wo er morgen war in meiner Wohnung. Ich wollte Gewissheit. Ich wollte ihn frei wissen in seinem Lebensraum der Natur.

Ein weiteres Mal legte ich mich ruhelos hin. Als ich nach einer gefühlten Viertelstunde, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten, wieder die Tür ins Wohnzimmer öffnete, war alles anders. Es war dunkel. Und mir wurde bewusst, dass ich in meiner Aufregung oder aus unbewusster Angst vor der Dunkelheit die vorherigen zehn, zwanzig Male vergaß, den Lichtschalter zu drücken. Gregor war unsichtbar. Ich wagte einen zögerlichen Schritt in den Raum. Meine Hand ruhte auf dem Lichtschalter. Die Finger lösten leichten Druck aus und begannen zu zittern. Ich hörte mein Herz schlagen. Hatte sich Gregor verwandelt? Stand er nun vor mir? Leibhaftig? Ich atmete tief durch, schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken, drückte.

Blind tastete ich mich vor ans Fenster. Ich wollte ein Mann sein! Mutig, stark. Ich wollte dem ganzen ein Ende bereiten. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Lächerlich, hilflos. Todesmutig öffnete ich die Augen. Die Haltevorrichtung der Jalousie war verlassen. Ungläubig sah ich mich im Raume um. Ich schaute unter Sofa und Tisch, hinter Schrank und Tür. Und als ich das Fenster schloß, sah ich Gregors Schatten davonziehen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
boah,

aufregend! sehr gut und plastische beschrieben.
korrigiere noch "lies" auf "ließ", denn es stammt von lassen und ist nicht die befehlsform von lesen. ich lese, du liest und nun lies mal, ich lasse, du lässt, ich ließ, du ließest . . .
lg
 

Patrick

Mitglied
Gast frühmorgens

Kurz vor drei am frühen Morgen kam ich nach Hause. Ich freute mich auf das Bett und wollte nur noch aus der Kleidung schlüpfen, mich hinlegen, zudecken, schlafen. Die Müdigkeit hatte mich übermannt. Wie in Trance vollzog ich die letzten Amtshandlungen eines langen Tages. Die Schuhe waren ausgezogen, das Hemd geöffnet. Auf dem Tisch stand noch ein Schluck Wasser des späten Nachmittags. Dieser verregnete Nachmittag lag so fern, gefühlte Tage und Perioden immer wieder aufsteigender und unterdrückter Müdigkeit zurück. Es schien mir, als hätte ich das Glas vor Wochen gefüllt und der leicht abgestandene Geschmack des Wassers verstärkte meinen Eindruck.

Und zu so später oder früher Stunde trieb mich noch ein Scherz ins Verhängnis. Anstatt das kleine Schlückchen zu schlucken, erlaubte ich mir zu wiederholen, was vor langer Zeit meine Eltern und Geschwister gelegentlich an den Rande des Wahnsinns trieb. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf zurück, öffnete behutsam den Mund und begann zu gurgeln. Ich komponierte eine Melodie und erfreute mich wie benommen meiner Geräusche.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich erschrak und hustete. Ein Schlückchen des Schlückchens lief in den falschen Kanal. Ich hustete lauter, rang nach Luft. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sprang auf, hustete, schluckte, atmete gleichmäßiger, wurde ruhiger. Zögerlich blickte ich an die frisch gestrichene Zimmerdecke. Da saß ein Tier! Doch welches? Eines, das ich noch nie gesehen hatte, weder in der Natur noch in Büchern oder Filmen. Es war fürchterlich. Unweigerlich dachte ich an Kafkas Verwandlung. So stellte ich mir das Ungeziefer vor, in das sich sein Protagonist über Nacht verwandelte.

Ich habe keine Angst vor Tieren, sagte ich mir. Doch es half nichts. Es war zwar klein, doch für ein Ungeziefer sehr groß. Ich erinnerte mich an meine Mutter, die sagte: "Geh, stell dich nicht so an, das Ding hat mehr Angst vor dir, als du vor ihm." Es half nichts. Außerdem bezweifelte ich, dass es Angst vor mir hatte. Wer so aussieht, kennt keine Angst. Im ersten Moment dachte ich an eine Spinne. Die Beine waren so lang und dünn, der Körper so groß. Doch es waren nur zwei Beine, außerdem trägt eine Spinne keinen derartigen braunen Panzer. Eine Spinne hat weder Fühler noch einen seltsamen pyramidenförmigen Stachel. Aus der Ferne betrachtet ähnelte es einem Frosch. Und aus einer anderen Perspektive fühlte ich mich an einen Skorpion erinnert. Was die Aufregung mit einem macht...

Ich öffnete das Fenster und wartete einen Moment. Das Ungeziefer bewegte sich nicht. Wie naiv von mir zu denken, es sei mit dem Fensteröffnen getan. Ich näherte mich langsam. Ein Fühler richtete sich aus, kaum merklich. Trotzdem führte diese Szene zu neuem Schreck. Es lebt! "Gregor, Gregor", flüsterte ich mit zittriger Stimme. Gregor reagierte nicht. Ich blies aus der Distanz. Gregor zeigte sich unbeeindruckt. Ich zog das Sofa ein Stück weit vor und stieg vorsichtig hinauf. Ich wedelte mit einem Kissen. Gregor reagierte nicht. Ich blies kürzer und stärker. Gregor setzte sich in Gang. Es war unerträglich. In welcher Geschwindigkeit sich dieses Kerlchen fortbewegte! Ich hielt es nicht aus.

Gregor kletterte in die direkt am Fenster angebrachte Haltevorrichtung der Jalousie. Dümmer hätte er es nicht anstellen können. Sein Panzer war verborgen. Nur seine Fühler und die Beine mit den markanten Gelenken waren zu sehen. Kann Gregor springen? Und wenn ja, wie weit? Ich möchte es mir nicht vorstellen. Kann Gregor fliegen? Erzeugt er dabei Geräusche? Brummt Gregor oder summt er? Was macht er mit dem Stachel? Zählt Gregor zu einer unentdeckten Spezies eines unberechenbaren Killerinsekts? Waren vielleicht die Eier seiner Nachfahren schon verstreut in meiner Wohnung, in meinem Bett? Und vor was hatte ich verdammt noch mal Angst? War es Angst vor Gregor oder die Angst davor, meine Nachbarn könnten von meiner Schreckhaftigkeit geweckt werden?

Ein Schrei!

Gregor! Etwas flatterte wild umher, berührte mich am Arm, im Gesicht! Doch Gregor war es nicht. Unbekümmert saß er weiter in der Haltevorrichtung. Ein kleiner weißer Falter flatterte auf und ab. Welch Gesellschaft! Weiß wie ein Brautkleid. Flink und doch grazil. An Gregors Stelle wäre ich vor Neid erblasst.

Es war inzwischen nach halb vier. Ich fühlte mich wacher als je zuvor. Die Sehnsucht nach dem Bett war der Hilflosigkeit gewichen. Ich schüttelte leicht am Fenster. Ich stieg aufs Sofa, pustete. Gregor regte sich nicht. Mutig rückte ich näher, auf Augenhöhe, und pustete. Gregor rührte sich nicht. Gregor! Gregor! Gregor schwieg. Ich ließ das Fenster langsam zufallen. Die Fühler hätten jetzt reagieren müssen. Sie reagierten nicht. Oh Gregor! Oh Gregor, hast du deinen Tod gefunden in der komplexen Konstruktion, zwischen Eisenstangen und Plastik? Oh Gregor, was ist, wenn ich morgen deine Gebeine finde auf dem Fensterbrette! Tu mir das nicht an! Dein Tod ist schlimmer als dein Leben. Zappel, hüpf, spring zehn Meter, klettere oder flieg laut brummend durch den Raum! Erschreck mich, stich mich, quäl mich, friss mich auf! Alles, verteufelt, verflucht, bloß nicht Zeuge deines Verwesungsprozesses möchte ich werden.

Und Gregor bewegte sich. Gregor hob seinen Kopf, den Panzer, die Beine. Oh nicht! Nicht diese widerlichen Beine! Bereit zum Sprung irgendwohin. In mein Gesicht, ans andere Ende des Raumes, ins Nirgendwo. Nichts schlimmer als der dumpfe Aufschlag Gregors, wie eine Nuß, die zu Boden fällt, unwissend, wo sie gelandet ist.

Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich lag auch schon im Bett. Doch Gregor lies mir keine Ruhe. Immer wieder musste ich nach ihm sehen. War er noch da? Immer wieder, ob er noch lebte oder tot war. Ich wollte ihn nicht töten, und ich konnte ihn nicht retten aus dieser Haltevorrichtung der Jalousie. Ich wollte nicht wissen, wo er morgen war in meiner Wohnung. Ich wollte Gewissheit. Ich wollte ihn frei wissen in seinem Lebensraum der Natur.

Ein weiteres Mal legte ich mich ruhelos hin. Als ich nach einer gefühlten Viertelstunde, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten, wieder die Tür ins Wohnzimmer öffnete, war alles anders. Es war dunkel. Und mir wurde bewusst, dass ich in meiner Aufregung oder aus unbewusster Angst vor der Dunkelheit die vorherigen zehn, zwanzig Male vergaß, den Lichtschalter zu drücken. Gregor war unsichtbar. Ich wagte einen zögerlichen Schritt in den Raum. Meine Hand ruhte auf dem Lichtschalter. Die Finger lösten leichten Druck aus und begannen zu zittern. Ich hörte mein Herz schlagen. Hatte sich Gregor verwandelt? Stand er nun vor mir? Leibhaftig? Ich atmete tief durch, schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken, drückte.

Blind tastete ich mich vor ans Fenster. Ich wollte ein Mann sein! Mutig, stark. Ich wollte dem ganzen ein Ende bereiten. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Lächerlich, hilflos. Todesmutig öffnete ich die Augen. Die Haltevorrichtung der Jalousie war verlassen. Ungläubig sah ich mich im Raume um. Ich schaute unter Sofa und Tisch, hinter Schrank und Tür. Und als ich das Fenster schloß, sah ich Gregors Schatten davonziehen.
 

Patrick

Mitglied
Hallo flammarion,

danke für deinen ersten Eindruck.

Den Fehler habe ich korrigiert. Logisch. Da hat bei der Menge nur etwas meine Konzentration nachgelassen :)

Liebe Grüße

Patrick
 
D

Dominik Klama

Gast
Hallo Patrick,
so ganz gut kann ich das bei meinem Geschmack nicht finden. Dafür ist mir zu wenig Handlung da, gibt es zu wenig Entwicklung. Und andererseits ist mir zu viel Gregor Samsa drin. Also, weitere Versionen von Kafka-Texten benötigt die Welt wirklich nicht. Zumal er selbst sich allemal besser hätte variieren können, als seine Fans es können.

Aber so ganz allgemein gefällt mir diese nächtliche Impression mit kleinem Eindringling an der Decke schon gut.

Das mit dem „ließ“ ist anscheinend falsch angekommen. Es steht immer noch (zumindest an einer Stelle) falsch da. Wo ich schon mal dabei bin, ich mache noch einige weitere Vorschläge, was man bessern könnte (je nach Gutdünken).

Okay, ich bin hier in der Leselupe der große „Sexbesessene“, haha... Kann also einfach dummes Zeug sein, was jetzt kommt. Aber trotzdem mal.

> „Erschreck mich, stich mich, quäl mich, friss mich auf!“

Eine junge männliche Person liegt spät nachts allein auf ihrem Bett, ist eigentlich müde, hat aber auch keine rechte Lust einzuschlafen. Der Tag war anstrengend und hat diesen Menschen eher nachdenklich als glücklich gemacht. Ein eindringendes Insekt (oder so etwas) ist plötzlich willkommen als Freud, wird laut angeredet, angebettelt. Obiges Zitat.

Ist es bei dieser Ausgangslage so ganz und gar abwegig, an den Wunsch nach einem Liebhaber zu denken? Und offenbar dürfte der ruhig ein wenig sadistisch sein, da der Erzähler uns hier ein wenig masochistisch vorkommt.

Was sehr gut zu Kafkas Welt und Schreiben passt. Kafka scheint jemand zu sein, der sich körperlicher Liebe immer nur angenähert hat, um sie dann für undenkbar zu erklären. Es geht bei ihm viel weniger um Liebe oder Sex als um Herrschaft und Unterordnung, gerade, wenn er die Angestelltenwelt und bürokratische Strukturen beschreibt. Aber, das mal vorausgesetzt, sind seine Helden doch muntere Masochisten, die ihr Bestraftwerden irgendwie zu brauchen scheinen. Auch Gregor, dem nicht nur immer auf dem Rücken herumgetanzt wurde von der gesamten Familie, sondern dessen Erfüllung am Ende zu sein scheint, als Ungeziefer überflüssig und deswegen vernichtet zu werden. Das eben unterscheidet Kafka von dir: Da wird ein junger Mann zum Käfer und der Käfer ist am Ende tot. Dein junger Mann erwartet allen Ernstes, es könne eine Rückverwandlung geben zum Menschen... Aber nein, Kafka ist radikaler als du: Wer einmal geschmeckt hat, dass er Ungeziefer ist, der darf dann auch nie wieder Mensch werden.

Übrigens mochte ich das melodiöse Gurgeln. Hab ich auch oft gemacht, als ich noch jünger war. Jetzt nicht mehr; dein Text hat mich gerade dran erinnert.

> Dieser verregnete Nachmittag lag so fern, gefühlte Tage und Perioden immer wieder aufsteigender und unterdrückter Müdigkeit zurück.
Dieses „gefühlte ...“ irgendwas ist inzwischen zwar sehr in Mode gekommen, mag es aber nicht an dieser Stelle. Das „zurück“ kommt wie ein Nachklapp, unangenehm spät.
Perioden von immer wieder aufsteigender, vergeblich unterdrückter Müdigkeit lag dieser verregnete Nachmittag hinter mir. Es schienen ganze Tage vergangen zu sein seit dem letzten Schlafen.

> Und zu so später oder früher Stunde trieb mich noch ein Scherz ins Verhängnis.
„Und“ würde ich streichen, „noch“ ebenfalls. Sowohl „Scherz“ wie „Verhängnis“ finde ich leicht übertrieben, wenn es auch schön gespannt macht. (Mal lesen wollen, wie ein Scherz wirklich ins Verhängnis führt? Dann das hier: Milan Kundera: Der Scherz. Roman.)

> ...wiederholen, was vor langer Zeit meine Eltern und Geschwister gelegentlich an den Rande des Wahnsinns trieb.
...getrieben hatte.

> Ein Schlückchen des Schlückchens lief in den falschen Kanal.
Ein Tröpfchen des Schlückchens war in den falschen Kanal geraten.

> Ich hustete lauter, rang nach Luft.
„lauter“ streichen. Stand vorher noch nicht da, dass er hustet.

> So stellte ich mir das Ungeziefer vor, in das sich sein Protagonist über Nacht verwandelte.
Entweder „verwandelt“ (tut es immer, da ein Buch) oder „verwandelt hatte“. Ist jedenfalls nicht dieselbe Zeitebene wie „stellte ich mir vor“.

> Ich erinnerte mich an meine Mutter, die sagte:
Ebenso. Das Sagen und das Erinnern spielen auf unterschiedlichen Zeitebenen.
Ich erinnerte mich an meine Mutter, die zu sagen pflegte. ... die gesagt hatte. ..., wie sie immer sagte.

> Das Ding hat mehr Angst vor dir, als du vor ihm.
Kommas stehen üblicherweise nur zwischen Gliedsätzen, welche Verben enthalten. Muss hier also weg.

> Doch es waren nur zwei Beine.
Erweckt unweigerlich Verwunderung, wie man sich mit nur zwei Beinen (und zwei Armen vielleicht noch) an einer Zimmerdecke festhält. Passt auch nicht ganz zu Gregor Samsa. Der war nämlich Käfer, sein Panzer muss durchaus sichtbar gewesen sein. Käfer haben mindestens sechs Beine. (Mich persönlich wundert bei Samsa – neben der Tatsache, wie er eigentlich spricht – immer, wie offenbar variabel groß er ist: Mal ist er so groß, dass er eine Türklinke in die Hand nehmen kann, mal so klein, dass er ein (zwar großer) Fleck an der Wand ist, mal so mittel, dass ein geworfener Apfel in seinem Bauch stecken bleiben kann und dort eine beträchtliche Wunde verursacht, ihn aber nicht sogleich platt macht.)

> Was die Aufregung mit einem macht...
Streichen! Es wird nicht schlechter, wenn man es wegtut. Und nicht besser, wenn man es wieder hinschreibt.

> Gregor kletterte in die direkt am Fenster angebrachte Haltevorrichtung der Jalousie.
Ob man das eleganter ausdrücken kann als mit „Haltevorrichtung“? Mir fällt nichts ein. Auf jeden Fall streichen: „die direkt am Fenster angebrachte“! Wo sonst würde man eine Jalousie vermuten?

> ...waren zu sehen. Kann Gregor springen?
Es war dir sehr bewusst, dass du an dieser Stelle für eine paar Sätze deine Erzählzeit gewechselt hast? (Etwa, damit der Leser unmittelbarer in die Gedankenwelt des Erzählers kommt?) Ich mache so etwas auch immer wieder mal. Ist aber dann doch auch ein wenig unglücklich, weil es manche Leser vielleicht hängen bleiben lässt, die sich wundern: Stimmt denn das? Statt dass sie weiterlesen.

> Und vor was hatte ich verdammt noch mal Angst? War es Angst vor Gregor oder die Angst davor, meine Nachbarn könnten von meiner Schreckhaftigkeit geweckt werden?
Meine Mutter, eine sehr alte Dame, hält mir vor, dass ich am Telefon so oft „verdammt noch mal“ sage, wenn ich will, dass sie etwas wirklich ernst nimmt. Beim drüber Nachdenken kam ich drauf, es liegt wohl daran, dass ich so oft ins Kino gehe. Also, na ja, ich finde es hier vielleicht eine Spur zu jugendlich-flapsig, untergräbt das Unheimliche eher. Und den nächsten Satz finde ich zu viel.
Und warum war denn diese unerklärliche Furcht in mir?
Das reicht.

> Mutig rückte ich näher, auf Augenhöhe. Gregor rührte sich nicht. Gregor! Gregor! Gregor schwieg.
Gut. Hätte dir vielleicht ein breites Grinsen von Kafka eingetragen.

> ...Tod gefunden zwischen Eisenstangen und Plastik?
Ah, ah, nöö, das geht besser. Es sollen vermutlich die Lamellen der Jalousie sein, die möglicherweise aus lackiertem Weißblech sind. Aber Eisen-STANGEN? Also ich war das, der hier vom Masokeller angefangen hat, du doch nicht, oder?

> ...auf dem Fensterbrette!
Ohne –e hinten. Von Goethe isses nich auch noch.

> Nichts schlimmer als der dumpfe Aufschlag Gregors, wie eine Nuss, die zu Boden fällt, unwissend, wo sie gelandet ist.
An sich nicht übel. Hätte ich mir aber wohl verboten, damit man mir nicht vorhält, ich würde den Kafka-Tonfall imitieren.

> Doch Gregor lies mir keine Ruhe.
Lies das noch mal durch!

> Ich konnte ihn nicht retten aus dieser Haltevorrichtung der Jalousie.
Aus dieser Jalousie. Aus der Jalousie.
Oder sollten wir hier zur Abwechslung mal „Jalousie“ streichen, nachdem der Leser mittlerweile in der Lage ist zu erschließen, was gemeint ist:
Aus der Haltevorrichtung konnte ich ihn nicht retten.
So als Referenz vor Kafka. Haltevorrichtung. In der Strafkolonie. SM! (Na, bin ja schon still.)

> Ich wollte nicht wissen, wo er morgen war in meiner Wohnung. Ich wollte Gewissheit.
Unglücklich. Weil nämlich Wissen und Gewissheit so sehr dasselbe ist, hier aber irgendwie gegensätzlich sein sollten.
Ich wollte nicht erst morgen nach dem Aufwachen sehen, was ihm zugestoßen war in meiner Wohnung. Ich wollte jetzt Gewissheit haben.

> Als ich nach einer gefühlten Viertelstunde, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten...
Geht doch aber auch so: Als ich eine Viertelstunde später, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten, die Tür öffnete...

> Mir wurde bewusst, dass ich in meiner Aufregung oder aus unbewusster Angst vor der Dunkelheit die vorherigen zehn, zwanzig Male vergaß, den Lichtschalter zu drücken.
Vergessen hatte. Eben, weil es „vorherig“ war.

> Die Finger lösten leichten Druck aus und begannen zu zittern.
Ist nicht schön, weil in einem Satz zwei verschiedene Denkrichtungen vorkommen. „Die Finger lösten Druck aus...“ – Man denkt von den Fingern auf den Lichtschalter hinaus. „Begannen zu zittern“ – Man denkt in den Körper der Figur hinein.

> Blind tastete ich mich vor ans Fenster. Ich wollte ein Mann sein! Mutig, stark. Ich wollte dem Ganzen ein Ende bereiten. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Lächerlich, hilflos.
Ist ja gar nicht wahr! Du willst ein Kind sein, hilflos. Du machst das Licht an und dann die Augen zu, damit du nicht sofort siehst, was los ist. Damit es ein grusliges Abenteuer geben könnte. Du willst Kind sein. Mann, ist doch okay... Lass es zu! Mag ich.

> Und als ich das Fenster schloss, sah ich Gregors Schatten davonziehen.
„Und“ würde ich weglassen. (Könnte man auch schon weiter oben gelegentlich streichen.) „Davonziehen“ als allerletztes Wort macht mich nicht ganz glücklich.
Während ich das Fenster schloss, bemerkte ich, wie Gregors Schatten mit der Nacht verschmolz.
Ist doch nicht schlecht, oder? Hab ich aber irgendwo geklaut, weiß bloß nicht mehr, von wo.
 

Patrick

Mitglied
Hallo Dominik,

es freut mich, dass dir mein Text "so ganz allgemein schon gut" gefallen hat :)

Es war nicht meine Absicht Parallelen zu Kafka zu ziehen, zumindest nicht bewusst. Es war lediglich das Ungeziefer, das mich an "Die Verwandlung" erinnerte. Dennoch finde ich deine Interpratationen und Ansätze dazu interessant. Das Anbetteln bezieht sich insofern auch nicht auf eine masochistische Ebene, sondern vielmehr ist es die Angst und der Ekel vor dem toten Tier.

Ich bedanke mich sehr für deine Korrekturen und vielen Vorschläge, ein paar Mal musste ich schmunzeln.

Zur Jalousie: Es gibt u. a. Jalousien, die an der Decke angebracht werden. Bei meiner Erzählung handelt sich um eine Jalosuie, die mit Klemmen direkt am Fensterrahmen angebracht ist. Die Haltevorrichtung hängt in der Luft, darin die Eisenstangen, außen das Plastik. Das Ungeziefer war nicht zwischen den Lamellen sondern in dieser Vorrichtung oder wie auch immer man sie nennen mag.

Ich werde die Korrekturen einarbeiten und den ein oder anderen Vorschlag auf meine Weise umsetzen.

Viele liebe Grüße

Patrick
 

Patrick

Mitglied
Gast frühmorgens

Kurz vor drei am frühen Morgen kam ich nach Hause. Ich freute mich auf das Bett und wollte nur noch aus der Kleidung schlüpfen, mich hinlegen, zudecken, schlafen. Die Müdigkeit hatte mich übermannt. Wie in Trance vollzog ich die letzten Amtshandlungen eines langen Tages. Die Schuhe waren ausgezogen, das Hemd geöffnet. Auf dem Tisch stand noch ein Schluck Wasser des späten Nachmittags. Dieser verregnete Nachmittag lag so fern. Perioden immer wieder aufsteigender und unterdrückter Müdigkeit. Es schien, als hätte ich das Glas vor Tagen gefüllt und der leicht abgestandene Geschmack des Wassers verstärkte meinen Eindruck.

Zu so später oder früher Stunde trieb mich ein Scherz ins Verhängnis. Anstatt das kleine Schlückchen zu schlucken, erlaubte ich mir zu wiederholen, was vor langer Zeit meine Eltern und Geschwister gelegentlich an den Rande des Wahnsinns getrieben hatte. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf zurück, öffnete behutsam den Mund und begann zu gurgeln. Ich komponierte eine Melodie und erfreute mich wie benommen meiner Geräusche.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich erschrak und hustete. Ein Tröpfchen des Schlückchens war in den falschen Kanal geraten. Ich hustete, rang nach Luft. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sprang auf, hustete, schluckte, atmete gleichmäßiger, wurde ruhiger. Zögerlich blickte ich an die frisch gestrichene Zimmerdecke. Da saß ein Tier! Doch welches? Eines, das ich noch nie gesehen hatte, weder in der Natur noch in Büchern oder Filmen. Es war fürchterlich. Unweigerlich dachte ich an Kafkas Verwandlung. So stellte ich mir das Ungeziefer vor, in das sich sein Protagonist über Nacht verwandelt hatte.

Ich habe keine Angst vor Tieren, sagte ich mir. Doch es half nichts. Es war zwar klein, doch für ein Ungeziefer sehr groß. Ich erinnerte mich an meine Mutter, wie sie immer sagte: "Geh, stell dich nicht so an, das Ding hat mehr Angst vor dir als du vor ihm." Es half nichts. Außerdem bezweifelte ich, dass es Angst vor mir hatte. Wer so aussieht, kennt keine Angst. Im ersten Moment dachte ich an eine Spinne. Die Beine waren so lang und dünn, der Körper so groß. Doch es waren nur zwei Beine, außerdem trägt eine Spinne keinen derartigen braunen Panzer. Eine Spinne hat weder Fühler noch einen seltsamen pyramidenförmigen Stachel. Aus der Ferne betrachtet ähnelte es einem Frosch. Und aus einer anderen Perspektive fühlte ich mich an einen Skorpion erinnert.

Ich öffnete das Fenster und wartete einen Moment. Das Ungeziefer bewegte sich nicht. Wie naiv von mir zu denken, es sei mit dem Fensteröffnen getan. Ich näherte mich langsam. Ein Fühler richtete sich aus, kaum merklich. Trotzdem führte diese Szene zu neuem Schreck. Es lebt! "Gregor, Gregor", flüsterte ich mit zittriger Stimme. Gregor reagierte nicht. Ich blies aus der Distanz. Gregor zeigte sich unbeeindruckt. Ich zog das Sofa ein Stück weit vor und stieg vorsichtig hinauf. Ich wedelte mit einem Kissen. Gregor reagierte nicht. Ich blies kürzer und stärker. Gregor setzte sich in Gang. Es war unerträglich. In welcher Geschwindigkeit sich dieses Kerlchen fortbewegte! Ich hielt es nicht aus.

Gregor kletterte in die direkt am Fenster angebrachte Haltevorrichtung der Jalousie. Dümmer hätte er es nicht anstellen können. Sein Panzer war verborgen. Nur seine Fühler und die Beine mit den markanten Gelenken waren zu sehen. Kann Gregor springen? Und wenn ja, wie weit? Ich möchte es mir nicht vorstellen. Kann Gregor fliegen? Erzeugt er dabei Geräusche? Brummt Gregor oder summt er? Was macht er mit dem Stachel? Zählt Gregor zu einer unentdeckten Spezies eines unberechenbaren Killerinsekts? Waren vielleicht die Eier seiner Nachfahren schon verstreut in meiner Wohnung, in meinem Bett? Warum diese Angst in mir? Fürchtete ich mir vor Gregor oder meiner Schreckhaftigkeit, die meine Nachbarn hätte wecken können?

Ein Schrei!

Gregor! Etwas flatterte wild umher, berührte mich am Arm, im Gesicht! Doch Gregor war es nicht. Unbekümmert saß er weiter in der Haltevorrichtung. Ein kleiner weißer Falter flatterte auf und ab. Welch Gesellschaft! Weiß wie ein Brautkleid. Flink und doch grazil. An Gregors Stelle wäre ich vor Neid erblasst.

Es war inzwischen nach halb vier. Ich fühlte mich wacher als je zuvor. Die Sehnsucht nach dem Bett war der Hilflosigkeit gewichen. Ich schüttelte leicht am Fenster. Ich stieg aufs Sofa, pustete. Gregor regte sich nicht. Mutig rückte ich näher, auf Augenhöhe, und pustete. Gregor rührte sich nicht. Gregor! Gregor! Gregor schwieg. Ich ließ das Fenster langsam zufallen. Die Fühler hätten jetzt reagieren müssen. Sie reagierten nicht. Oh Gregor! Oh Gregor, hast du deinen Tod gefunden in der komplexen Konstruktion, zwischen Eisenstangen und Plastik? Oh Gregor, was ist, wenn ich morgen deine Gebeine finde auf dem Fensterbrett! Tu mir das nicht an! Dein Tod ist schlimmer als dein Leben. Zappel, hüpf, spring zehn Meter, klettere oder flieg laut brummend durch den Raum! Erschreck mich, stich mich, quäl mich, friss mich auf! Alles, verteufelt, verflucht, bloß nicht Zeuge deines Verwesungsprozesses möchte ich werden.

Und Gregor bewegte sich. Gregor hob seinen Kopf, den Panzer, die Beine. Oh nicht! Nicht diese widerlichen Beine! Bereit zum Sprung irgendwohin. In mein Gesicht, ans andere Ende des Raumes, ins Nirgendwo. Nichts schlimmer als der dumpfe Aufschlag Gregors, wie eine Nuß, die zu Boden fällt, unwissend, wo sie gelandet ist.

Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich lag auch schon im Bett. Doch Gregor ließ mir keine Ruhe. Immer wieder musste ich nach ihm sehen. War er noch da? Immer wieder, ob er noch lebte oder tot war. Ich wollte ihn nicht töten, und ich konnte ihn nicht retten aus dieser Haltevorrichtung. Ich wollte Gewissheit. Ich wollte ihn frei wissen in seinem Lebensraum der Natur und nicht tot am nächsten Morgen in meiner Wohnung.

Ein weiteres Mal legte ich mich ruhelos hin. Als ich nach einer Viertelstunde, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten, wieder die Tür ins Wohnzimmer öffnete, war alles anders. Es war dunkel. Und mir wurde bewusst, dass ich in meiner Aufregung oder aus unbewusster Angst vor der Dunkelheit die vorherigen zehn, zwanzig Male vergessen hatte, den Lichtschalter zu drücken. Gregor war unsichtbar. Ich wagte einen zögerlichen Schritt in den Raum. Meine Hand ruhte auf dem Lichtschalter. Die Finger lösten leichten Druck aus und begannen zu zittern. Ich hörte mein Herz schlagen. Hatte sich Gregor verwandelt? Stand er nun vor mir? Leibhaftig? Ich atmete tief durch, schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken, drückte.

Blind tastete ich mich vor ans Fenster. Ich wollte ein Mann sein! Mutig, stark. Ich wollte dem ganzen ein Ende bereiten. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Lächerlich, hilflos. Todesmutig öffnete ich die Augen. Die Haltevorrichtung war verlassen. Ungläubig sah ich mich im Raum um. Ich schaute unter Sofa und Tisch, hinter Schrank und Tür. Als ich das Fenster schloß, sah ich Gregors Schatten davonziehen.
 

Patrick

Mitglied
Gast frühmorgens

Kurz vor drei am frühen Morgen kam ich nach Hause. Ich freute mich auf das Bett und wollte nur noch aus der Kleidung schlüpfen, mich hinlegen, zudecken, schlafen. Die Müdigkeit hatte mich übermannt. Wie in Trance vollzog ich die letzten Amtshandlungen eines langen Tages. Die Schuhe waren ausgezogen, das Hemd geöffnet. Auf dem Tisch stand noch ein Schluck Wasser des späten Nachmittags. Dieser verregnete Nachmittag lag so fern. Perioden immer wieder aufsteigender und unterdrückter Müdigkeit. Es schien, als hätte ich das Glas vor Tagen gefüllt und der leicht abgestandene Geschmack des Wassers verstärkte meinen Eindruck.

Zu so später oder früher Stunde trieb mich ein Scherz ins Verhängnis. Anstatt das kleine Schlückchen zu schlucken, erlaubte ich mir zu wiederholen, was vor langer Zeit meine Eltern und Geschwister gelegentlich an den Rande des Wahnsinns getrieben hatte. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf zurück, öffnete behutsam den Mund und begann zu gurgeln. Ich komponierte eine Melodie und erfreute mich wie benommen meiner Geräusche.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich erschrak und hustete. Ein Tröpfchen des Schlückchens war in den falschen Kanal geraten. Ich hustete, rang nach Luft. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sprang auf, hustete, schluckte, atmete gleichmäßiger, wurde ruhiger. Zögerlich blickte ich an die frisch gestrichene Zimmerdecke. Da saß ein Tier! Doch welches? Eines, das ich noch nie gesehen hatte, weder in der Natur noch in Büchern oder Filmen. Es war fürchterlich. Unweigerlich dachte ich an Kafkas Verwandlung. So stellte ich mir das Ungeziefer vor, in das sich sein Protagonist über Nacht verwandelt hatte.

Ich habe keine Angst vor Tieren, sagte ich mir. Doch es half nichts. Es war zwar klein, doch für ein Ungeziefer sehr groß. Ich erinnerte mich an meine Mutter, wie sie immer sagte: "Geh, stell dich nicht so an, das Ding hat mehr Angst vor dir als du vor ihm." Es half nichts. Außerdem bezweifelte ich, dass es Angst vor mir hatte. Wer so aussieht, kennt keine Angst. Im ersten Moment dachte ich an eine Spinne. Doch es waren weniger als acht Beine. Die Hinterbeine waren unheimlich lang, länger als der restliche Körper des Tieres, dünn und durch Gelenke unterbrochen. An der Seite und vorne befanden sich zwei wesentlich kürzere Beinpaare. Außerdem trägt eine Spinne keinen derartigen braunen Panzer. Eine Spinne hat weder Fühler noch einen seltsam nach oben gebogenen Stachel am Hinterteil. Aus der Ferne betrachtet ähnelte es einem Frosch. Und aus einer anderen Perspektive fühlte ich mich an einen Skorpion erinnert.

Ich öffnete das Fenster und wartete einen Moment. Das Ungeziefer bewegte sich nicht. Wie naiv von mir zu denken, es sei mit dem Fensteröffnen getan. Ich näherte mich langsam. Ein Fühler richtete sich aus, kaum merklich. Trotzdem führte diese Szene zu neuem Schreck. Es lebt! "Gregor, Gregor", flüsterte ich mit zittriger Stimme. Gregor reagierte nicht. Ich blies aus der Distanz. Gregor zeigte sich unbeeindruckt. Ich zog das Sofa ein Stück weit vor und stieg vorsichtig hinauf. Ich wedelte mit einem Kissen. Gregor reagierte nicht. Ich blies kürzer und stärker. Gregor setzte sich in Gang. Es war unerträglich. In welcher Geschwindigkeit sich dieses Kerlchen fortbewegte! Ich hielt es nicht aus.

Gregor kletterte in die direkt am Fenster angebrachte Haltevorrichtung der Jalousie. Dümmer hätte er es nicht anstellen können. Sein Panzer war verborgen. Nur seine Fühler und die Beine mit den markanten Gelenken waren zu sehen. Kann Gregor springen? Und wenn ja, wie weit? Ich möchte es mir nicht vorstellen. Kann Gregor fliegen? Erzeugt er dabei Geräusche? Brummt Gregor oder summt er? Was macht er mit dem Stachel? Zählt Gregor zu einer unentdeckten Spezies eines unberechenbaren Killerinsekts? Waren vielleicht die Eier seiner Nachfahren schon verstreut in meiner Wohnung, in meinem Bett? Warum diese Angst in mir? Fürchtete ich mir vor Gregor oder meiner Schreckhaftigkeit, die meine Nachbarn hätte wecken können?

Ein Schrei!

Gregor! Etwas flatterte wild umher, berührte mich am Arm, im Gesicht! Doch Gregor war es nicht. Unbekümmert saß er weiter in der Haltevorrichtung. Ein kleiner weißer Falter flatterte auf und ab. Welch Gesellschaft! Weiß wie ein Brautkleid. Flink und doch grazil. An Gregors Stelle wäre ich vor Neid erblasst.

Es war inzwischen nach halb vier. Ich fühlte mich wacher als je zuvor. Die Sehnsucht nach dem Bett war der Hilflosigkeit gewichen. Ich schüttelte leicht am Fenster. Ich stieg aufs Sofa, pustete. Gregor regte sich nicht. Mutig rückte ich näher, auf Augenhöhe, und pustete. Gregor rührte sich nicht. Gregor! Gregor! Gregor schwieg. Ich ließ das Fenster langsam zufallen. Die Fühler hätten jetzt reagieren müssen. Sie reagierten nicht. Oh Gregor! Oh Gregor, hast du deinen Tod gefunden in der komplexen Konstruktion, zwischen Eisenstangen und Plastik? Oh Gregor, was ist, wenn ich morgen deine Gebeine finde auf dem Fensterbrett! Tu mir das nicht an! Dein Tod ist schlimmer als dein Leben. Zappel, hüpf, spring zehn Meter, klettere oder flieg laut brummend durch den Raum! Erschreck mich, stich mich, quäl mich, friss mich auf! Alles, verteufelt, verflucht, bloß nicht Zeuge deines Verwesungsprozesses möchte ich werden.

Und Gregor bewegte sich. Gregor hob seinen Kopf, den Panzer, die Beine. Oh nicht! Nicht diese widerlichen Beine! Bereit zum Sprung irgendwohin. In mein Gesicht, ans andere Ende des Raumes, ins Nirgendwo. Nichts schlimmer als der dumpfe Aufschlag Gregors, wie eine Nuß, die zu Boden fällt, unwissend, wo sie gelandet ist.

Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich lag auch schon im Bett. Doch Gregor ließ mir keine Ruhe. Immer wieder musste ich nach ihm sehen. War er noch da? Immer wieder, ob er noch lebte oder tot war. Ich wollte ihn nicht töten, und ich konnte ihn nicht retten aus dieser Haltevorrichtung. Ich wollte Gewissheit. Ich wollte ihn frei wissen in seinem Lebensraum der Natur und nicht tot am nächsten Morgen in meiner Wohnung.

Ein weiteres Mal legte ich mich ruhelos hin. Als ich nach einer Viertelstunde, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten, wieder die Tür ins Wohnzimmer öffnete, war alles anders. Es war dunkel. Und mir wurde bewusst, dass ich in meiner Aufregung oder aus unbewusster Angst vor der Dunkelheit die vorherigen zehn, zwanzig Male vergessen hatte, den Lichtschalter zu drücken. Gregor war unsichtbar. Ich wagte einen zögerlichen Schritt in den Raum. Meine Hand ruhte auf dem Lichtschalter. Die Finger lösten leichten Druck aus und begannen zu zittern. Ich hörte mein Herz schlagen. Hatte sich Gregor verwandelt? Stand er nun vor mir? Leibhaftig? Ich atmete tief durch, schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken, drückte.

Blind tastete ich mich vor ans Fenster. Ich wollte ein Mann sein! Mutig, stark. Ich wollte dem ganzen ein Ende bereiten. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Lächerlich, hilflos. Todesmutig öffnete ich die Augen. Die Haltevorrichtung war verlassen. Ungläubig sah ich mich im Raum um. Ich schaute unter Sofa und Tisch, hinter Schrank und Tür. Als ich das Fenster schloß, sah ich Gregors Schatten davonziehen.
 

Patrick

Mitglied
Gast frühmorgens

Kurz vor drei am frühen Morgen kam ich nach Hause. Ich freute mich auf das Bett und wollte nur noch aus der Kleidung schlüpfen, mich hinlegen, zudecken, schlafen. Die Müdigkeit hatte mich übermannt. Wie in Trance vollzog ich die letzten Amtshandlungen eines langen Tages. Die Schuhe waren ausgezogen, das Hemd geöffnet. Auf dem Tisch stand noch ein Schluck Wasser des späten Nachmittags. Dieser verregnete Nachmittag lag so fern. Perioden immer wieder aufsteigender und unterdrückter Müdigkeit lagen hinter mir. Es schien, als hätte ich das Glas vor Tagen gefüllt und der leicht abgestandene Geschmack des Wassers verstärkte meinen Eindruck.

Zu so später oder früher Stunde trieb mich ein Scherz ins Verhängnis. Anstatt das kleine Schlückchen zu schlucken, erlaubte ich mir zu wiederholen, was vor langer Zeit meine Eltern und Geschwister gelegentlich an den Rande des Wahnsinns trieb. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf zurück, öffnete behutsam den Mund und begann zu gurgeln. Ich komponierte eine Melodie und erfreute mich wie benommen meiner Geräusche.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich erschrak und hustete. Ein Tröpfchen des Schlückchens war in den falschen Kanal geraten. Ich hustete und rang nach Luft. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sprang auf, hustete, schluckte, atmete gleichmäßiger, wurde ruhiger. Zögerlich blickte ich an die frisch gestrichene Zimmerdecke. Da saß ein Tier! Ein Tier, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, weder in der Natur noch in Büchern oder Filmen. Es war fürchterlich. Unweigerlich dachte ich an Kafkas Verwandlung. So stellte ich mir das Ungeziefer vor, in das sich sein Protagonist über Nacht verwandelte.

Ich habe keine Angst vor Tieren, sagte ich mir. Es half nichts. Es war zwar klein, doch für ein Ungeziefer sehr groß. Ich erinnerte mich an meine Mutter, die immer sagte: "Geh, stell dich nicht so an, das Ding hat mehr Angst vor dir als du vor ihm." Es half nichts. Außerdem bezweifelte ich, dass es Angst vor mir hatte. Wer so aussieht, kennt keine Angst. Im ersten Moment dachte ich an eine Spinne. Doch es waren weniger als acht Beine. Die Hinterbeine waren unheimlich lang, länger als der restliche Körper des Tieres, dünn und durch Gelenke unterbrochen. An der Seite und vorne befanden sich zwei wesentlich kürzere Beinpaare. Außerdem trägt eine Spinne keinen derartigen braunen Panzer. Eine Spinne hat weder Fühler noch einen seltsam nach oben gebogenen Stachel am Hinterteil. Aus der Ferne betrachtet ähnelte es einem Frosch. Aus einer anderen Perspektive fühlte ich mich an einen Skorpion erinnert.

Ich öffnete das Fenster und wartete einen Moment. Das Ungeziefer bewegte sich nicht. Wie naiv war es von mir, zu denken, mit dem Fensteröffnen sei es getan. Ich näherte mich langsam. Ein Fühler richtete sich kaum merklich aus. Trotzdem führte diese Szene zu neuem Schreck. Es lebt! "Gregor, Gregor", flüsterte ich mit zittriger Stimme. Gregor reagierte nicht. Ich blies aus der Distanz. Gregor zeigte sich unbeeindruckt. Ich zog das Sofa ein Stück weit vor und stieg vorsichtig hinauf. Ich wedelte mit einem Kissen. Gregor reagierte nicht. Ich blies kürzer und stärker. Gregor setzte sich in Gang. Es war unerträglich. In welcher Geschwindigkeit sich dieses Kerlchen fortbewegte! Ich hielt es nicht aus.

Gregor kletterte in die direkt am Fenster angebrachte Haltevorrichtung der Jalousie. Dümmer hätte er es nicht anstellen können. Sein Panzer war verborgen. Nur seine Fühler und die Beine mit den markanten Gelenken waren zu sehen. Kann Gregor springen? Und wenn ja, wie weit? Ich mochte es mir nicht vorstellen. Kann Gregor fliegen? Erzeugt er dabei Geräusche? Brummt Gregor oder summt er? Was macht er mit dem Stachel? Zählt Gregor zu einer unentdeckten Spezies eines unberechenbaren Killerinsekts? Waren vielleicht die Eier seiner Nachfahren schon verstreut in meiner Wohnung, in meinem Bett? Warum beherrschte mich diese Angst? Fürchtete ich mir vor Gregor oder meiner Schreckhaftigkeit, die meine Nachbarn hätte wecken können?

Ein Schrei!

Gregor! Etwas flatterte wild umher, berührte mich am Arm, im Gesicht! Gregor war es nicht. Unbekümmert saß er weiter in der Haltevorrichtung. Ein kleiner weißer Falter flatterte auf und ab. Welch Gesellschaft! Weiß wie ein Brautkleid. Flink und grazil. Ich an Gregors Stelle wäre vor Neid erblasst.

Es war inzwischen nach halb vier. Ich fühlte mich wacher als je zuvor. Die Sehnsucht nach dem Bett war der Hilflosigkeit gewichen. Ich rüttelte vorsichtig am Fenster. Ich stieg aufs Sofa, pustete. Gregor regte sich nicht. Mutig rückte ich auf Augenhöhe näher und pustete. Keine Bewegung. Gregor! Gregor! Gregor schwieg. Ich ließ das Fenster langsam zufallen. Die Fühler hätten jetzt reagieren müssen. Sie reagierten nicht. Oh Gregor! Oh Gregor, hast du deinen Tod gefunden in der komplexen Konstruktion, zwischen Eisenstangen und Plastik? Oh Gregor, was ist, wenn ich morgen deine Gebeine finde auf dem Fensterbrett! Tu mir das nicht an! Dein Tod ist schlimmer als dein Leben. Zappel, hüpf, spring zehn Meter, klettere oder flieg laut brummend durch den Raum! Erschreck mich, stich mich, quäl mich, friss mich auf! Alles, verteufelt, verflucht, bloß nicht Zeuge deines Verwesungsprozesses möchte ich werden.

Und plötzlich geschah es: Gregor bewegte sich. Er hob seinen Kopf, den Panzer, die Beine. Oh nicht! Nicht diese widerlichen Beine! Bereit zum Sprung - irgendwohin. In mein Gesicht, ans andere Ende des Raumes, ins Nirgendwo. Nichts schlimmer als der dumpfe Aufschlag Gregors, wie eine Nuss, die zu Boden fällt, unwissend, wo sie gelandet ist.

Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte und legte mich ins Bett. Ich fand keinen Schlaf. Wieder und wieder musste ich nach ihm sehen. War er noch da? Immer wieder, ob er noch lebte oder tot war. Ich wollte ihn nicht töten, und ich konnte ihn nicht retten aus dieser Haltevorrichtung. Ich wollte Gewissheit. Ich wollte ihn frei wissen in seinem Lebensraum der Natur und nicht tot am nächsten Morgen in meiner Wohnung.

Ein weiteres Mal legte ich mich ruhelos hin. Als ich nach einer Viertelstunde, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten, die Tür ins Wohnzimmer öffnete, war alles anders. Es war dunkel. Mir wurde bewusst, dass ich in meiner Aufregung oder aus unbewusster Angst vor der Dunkelheit die vorherigen zehn Male vergessen hatte, den Lichtschalter zu drücken. Nun war Gregor unsichtbar. Ich wagte einen zögerlichen Schritt in den Raum. Meine Hand ruhte auf dem Lichtschalter. Die Finger lösten leichten Druck aus und begannen zu zittern. Ich hörte mein Herz schlagen. Hatte sich Gregor verwandelt? Stand er nun vor mir? Leibhaftig? Ich atmete tief durch, schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken, drückte.

Blind tastete ich mich vor ans Fenster. Ich wollte ein Mann sein! Mutig, stark. Ich wollte dem Ganzen ein Ende bereiten. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Lächerlich, hilflos. Todesmutig öffnete ich die Augen. Die Haltevorrichtung war verlassen. Ungläubig sah ich mich im Raum um. Ich schaute unter Sofa und Tisch, hinter Schrank und Tür. Als ich das Fenster schloß, sah ich Gregors Schatten davonziehen.
 

Patrick

Mitglied
Gast frühmorgens

Kurz vor drei am frühen Morgen kam ich nach Hause. Ich freute mich auf das Bett und wollte nur noch aus der Kleidung schlüpfen, mich hinlegen, zudecken, schlafen. Die Müdigkeit hatte mich übermannt. Wie in Trance vollzog ich die letzten Amtshandlungen eines langen Tages. Die Schuhe waren ausgezogen, das Hemd geöffnet. Auf dem Tisch stand noch ein Schluck Wasser des späten Nachmittags. Dieser verregnete Nachmittag lag so fern. Perioden immer wieder aufsteigender und unterdrückter Müdigkeit lagen hinter mir. Es schien, als hätte ich das Glas vor Tagen gefüllt und der leicht abgestandene Geschmack des Wassers verstärkte meinen Eindruck.

Zu so später oder früher Stunde trieb mich ein Scherz ins Verhängnis. Anstatt das kleine Schlückchen zu schlucken, erlaubte ich mir zu wiederholen, was vor langer Zeit meine Eltern und Geschwister gelegentlich an den Rande des Wahnsinns gebracht hatte. Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf zurück, öffnete behutsam den Mund und begann zu gurgeln. Ich komponierte eine Melodie und erfreute mich wie benommen meiner Geräusche.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich erschrak und hustete. Ein Tröpfchen des Schlückchens war in den falschen Kanal geraten. Ich hustete und rang nach Luft. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sprang auf, hustete, schluckte, atmete gleichmäßiger, wurde ruhiger. Zögerlich blickte ich an die frisch gestrichene Zimmerdecke. Da saß ein Tier! Ein Tier, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, weder in der Natur noch in Büchern oder Filmen. Es war fürchterlich. Unweigerlich dachte ich an Kafkas Verwandlung. So stellte ich mir das Ungeziefer vor, in das sich sein Protagonist über Nacht verwandelte.

Ich habe keine Angst vor Tieren, sagte ich mir. Es half nichts. Es war zwar klein, doch für ein Ungeziefer sehr groß. Ich erinnerte mich an meine Mutter, die immer sagte: "Geh, stell dich nicht so an, das Ding hat mehr Angst vor dir als du vor ihm." Es half nichts. Außerdem bezweifelte ich, dass es Angst vor mir hatte. Wer so aussieht, kennt keine Angst. Im ersten Moment dachte ich an eine Spinne. Doch es waren weniger als acht Beine. Die Hinterbeine waren unheimlich lang, länger als der restliche Körper des Tieres, dünn und durch Gelenke unterbrochen. An der Seite und vorne befanden sich zwei wesentlich kürzere Beinpaare. Außerdem trägt eine Spinne keinen derartigen braunen Panzer. Eine Spinne hat weder Fühler noch einen seltsam nach oben gebogenen Stachel am Hinterteil. Aus der Ferne betrachtet, ähnelte es einem Frosch. Aus einer anderen Perspektive fühlte ich mich an einen Skorpion erinnert.

Ich öffnete das Fenster und wartete einen Moment. Das Ungeziefer bewegte sich nicht. Wie naiv war es von mir, zu glauben, mit dem Fensteröffnen sei es getan. Ich näherte mich langsam. Ein Fühler richtete sich kaum merklich aus. Trotzdem erschreckte mich diese Szene erneut. Es lebt! "Gregor, Gregor", flüsterte ich mit zittriger Stimme. Gregor reagierte nicht. Ich blies aus der Distanz. Gregor zeigte sich unbeeindruckt. Ich zog das Sofa ein Stück weit vor und stieg vorsichtig hinauf. Ich wedelte mit einem Kissen. Keine Reaktion. Ich blies kürzer und stärker. Nun setzte er sich in Gang. Es war unerträglich. In welcher Geschwindigkeit sich dieses Kerlchen fortbewegte! Ich hielt es nicht aus.

Gregor kletterte in die direkt am Fenster angebrachte Haltevorrichtung der Jalousie. Dümmer hätte er es nicht anstellen können. Sein Panzer war verborgen. Nur seine Fühler und die Beine mit den markanten Gelenken waren zu sehen. Kann Gregor springen? Und wenn ja, wie weit? Ich mochte es mir nicht vorstellen. Kann Gregor fliegen? Erzeugt er dabei Geräusche? Brummt Gregor oder summt er? Was macht er mit dem Stachel? Zählt er zu einer unentdeckten Spezies eines unberechenbaren Killerinsekts? Waren vielleicht die Eier seiner Nachfahren schon verstreut in meiner Wohnung, in meinem Bett? Warum beherrschte mich diese Angst? Fürchtete ich mich vor Gregor oder meiner Schreckhaftigkeit, die meine Nachbarn hätte wecken können?

Ein Schrei!

Gregor! Etwas flatterte wild umher, berührte mich am Arm, im Gesicht! Gregor war es nicht. Unbekümmert saß er weiter in der Haltevorrichtung. Ein kleiner weißer Falter flatterte auf und ab. Welch Gesellschaft! Weiß wie ein Brautkleid. Flink und grazil. Ich an Gregors Stelle wäre vor Neid erblasst.

Es war inzwischen nach halb vier. Ich fühlte mich wacher als je zuvor. Die Sehnsucht nach dem Bett war der Hilflosigkeit gewichen. Ich rüttelte vorsichtig am Fenster. Ich stieg aufs Sofa, pustete. Gregor regte sich nicht. Mutig rückte ich auf Augenhöhe näher und pustete. Keine Bewegung. Gregor! Gregor! Gregor schwieg. Ich ließ das Fenster langsam zufallen. Die Fühler hätten jetzt reagieren müssen. Sie reagierten nicht. Oh Gregor! Oh Gregor, hast du deinen Tod gefunden in der komplexen Konstruktion, zwischen Eisenstangen und Plastik? Oh Gregor, was ist, wenn ich morgen deine Gebeine finde auf dem Fensterbrett! Tu mir das nicht an! Dein Tod ist schlimmer als dein Leben. Zappel, hüpf, spring zehn Meter, klettere oder flieg laut brummend durch den Raum! Erschreck mich, stich mich, quäl mich, friss mich auf! Alles, verteufelt, verflucht, bloß nicht Zeuge deines Verwesungsprozesses möchte ich werden.

Und plötzlich geschah es: Gregor bewegte sich. Er hob seinen Kopf, den Panzer, die Beine. Oh nicht! Nicht diese widerlichen Beine! Bereit zum Sprung - irgendwohin. In mein Gesicht, ans andere Ende des Raumes, ins Nirgendwo. Nichts schlimmer als der dumpfe Aufschlag Gregors, wie eine Nuss, die zu Boden fällt, unwissend, wo sie gelandet ist.

Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte und legte mich ins Bett. Ich fand keinen Schlaf. Wieder und wieder musste ich nach ihm sehen. War er noch da? Immer wieder, ob er noch lebte oder tot war. Ich wollte ihn nicht töten, und ich konnte ihn nicht retten. Ich wollte Gewissheit. Ich wollte ihn frei wissen in seinem Lebensraum der Natur und nicht tot am nächsten Morgen in meiner Wohnung.

Ein weiteres Mal legte ich mich ruhelos hin. Als ich nach einer Viertelstunde, wahrscheinlich waren es nur drei Minuten, die Tür ins Wohnzimmer öffnete, war alles anders. Es war dunkel. Mir wurde bewusst, dass ich in meiner Aufregung oder aus unbewusster Angst vor der Dunkelheit die vorherigen zehn Male vergessen hatte, den Lichtschalter zu drücken. Nun war Gregor unsichtbar. Ich wagte einen zögerlichen Schritt in den Raum. Meine Hand ruhte auf dem Lichtschalter. Die Finger lösten leichten Druck aus und begannen zu zittern. Ich hörte mein Herz schlagen. Hatte sich Gregor verwandelt? Stand er nun vor mir? Leibhaftig? Ich atmete tief durch, schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken, drückte.

Blind tastete ich mich vor ans Fenster. Ich wollte ein Mann sein! Mutig, stark. Ich wollte dem Ganzen ein Ende bereiten. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind. Lächerlich, hilflos. Todesmutig öffnete ich die Augen. Die Haltevorrichtung war verlassen. Ungläubig sah ich mich im Raum um. Ich schaute unter Sofa und Tisch, hinter Schrank und Tür. Als ich das Fenster schloss, sah ich Gregors Schatten davonziehen.
 



 
Oben Unten