Olivenzweig
Mitglied
Befindlichkeit
Sein Blick blieb an den rosa Punkten auf der marineblauen Krawatte hängen. Waren sie zu gewagt, konnte man daraus unerwünschte Schlüsse ziehen? Nein, das hellblaue Hemd, von Luise wie immer sorgfältig gebügelt, vermochte ein Bild von solider Beständigkeit herzustellen und die ein wenig übermütig daherkommenden Tupfen konnten als Zugeständnis an seine zukunftsorientierte Seite gewertet werden, die er unermüdlich im Wahlkampf betont hatte.
Vor einem Jahr prangte Guidos Zuversicht und Beständigkeit ausstrahlendes Konterfei auf zahlreichen Plakaten an jedem nur erdenklichen Standpunkt seines Wahlkreises.
Er war dann, seiner Bekanntheit und seinem einwandfreien Leumund sei Dank, mit komfortablem Stimmenanteil gewählt worden und hatte seit jenem Tag die Rolle des Volksvertreters weit über die Grenzen seiner Gemeinde hinaus in würdiger Weise ausgeübt.
„Bewährtes bewahren – innovativ nach vorne blicken“ war sein, zugegebenermassen wenig origineller und auch etwas holpriger, Wahlslogan gewesen. Es war ihm wichtig, diese Devise soweit in sein Leben zu integrieren, dass er sie wie eine beständige Botschaft auszustrahlen vermochte.
Die Wähler durften nicht enttäuscht und seine Wiederwahl in drei Jahren sollte beizeiten konsolidiert werden.
Dies war der Grund, wieso Guido auch an diesem Morgen mit einem kritischen Blick in den Spiegel nach möglichen Ausrutschern Ausschau hielt. Seine äussere Erscheinung war Teil eines Konstrukts, das ihn als homo politicus definierte.
Nicht dass Guido etwas verkörpern musste, was er eigentlich nicht war. Er liebte Beständigkeit. Bewährtes war ihm wichtig.
Schon seine häusliche Routine war Ausdruck dieses immanenten Bedürfnisses, angefangen bei den zwei Toastscheiben mit Marmelade zum Frühstück, von Luise liebevoll jeden Morgen auf seinem Teller arrangiert, dem für keine unnötigen Experimente zugänglichen Fleisch-Gemüse-Kartoffel-Dreiklang zum Mittagsmahl, bis hin zum leicht gezuckerten Pfefferminztee kurz vor dem Schlafengehen. Dies, um nur einige Elemente von Konstanz zu benennen.
Aber natürlich bezog sich sein politischer Slogan nicht nur auf solcherlei Beschaulichkeiten.
Er trat auch sonst für Werte ein, die zu hinterfragen weder ihm noch seiner Wählerschaft in den Sinn gekommen wäre. Es gab schliesslich Dinge, die mussten nicht diskutiert, analysiert oder gar verändert werden. Die Zeit hatte ihnen ein Gütesiegel verpasst, das nur unverbesserliche linke Spinner, für die er nicht das geringste Verständnis aufbringen konnte, mit ihrer mangelnden Einsicht in wahre Werte in Frage stellen wollten.
Schwieriger wurde es für Guido jedoch, wenn neben dem Appell ans Altvertraute das innovative Nachvorneblicken zum Ausdruck gebracht werden sollte. Sein tägliches Leben konnte nicht all zu viel davon ersichtlich werden lassen. Seit fünfundzwanzig Jahren war Guido zusammen mit seinem Partner und Studienfreund erfolgreich in seiner Anwaltskanzlei tätig, deren Aktionsfeld sich unspektakulär auf Wirtschaftsrecht beschränkte.
Zukunftsorientiertes gab es da wenig zu verbuchen, wenn man mal vom unermüdlichen Akquirieren neuer Klienten absah.
Überhaupt war der Blick nach vorne etwas, das Guido in letzter Zeit ein ungutes Gefühl bescherte. Schon seit einigen Monaten ging das morgendliche Aufstehen mit einer Empfindung einher, die ihm keineswegs vertraut war und die zu erfassen oder gar zu beschreiben ihm schwer fiel und die er auch seiner langjährigen Ehefrau Luise nicht anvertrauen wollte. Wie sollte er auch? Was gab es zu beschreiben? Müdigkeit, gepaart mit einer Spur von Traurigkeit, vielleicht so etwas wie Leere. Aber traf das den Kern? Warum auch sollte er traurig sein? Er hatte alles, was man sich wünschen konnte und um das ihn viele beneideten: eine Frau, die man durchaus als attraktiv bezeichnen konnte und die sich seinem Leben hervorragend anzupassen wusste, zwei Kinder, die ohne Kapriolen ihre schulische Laufbahn hinter sich gebracht hatten und nun im Begriff waren, das Haus zu verlassen, ein gepflegtes Heim in guter Lage am Stadtrand und natürlich sein erfolgreicher beruflicher Werdegang, der mit der langersehnten und solide aufgebauten politischen Karriere seine Krönung gefunden hatte.
Das alles war mit den morgendlichen Gefühlen nicht vereinbar. Und doch musste Guido ein stetiges Ausbreiten der schwer zu definierenden Empfindung feststellen, sosehr er sich dagegen sträubte. Was sich anfänglich auf wenige Morgenminuten beschränkt hatte und sich mit beherztem Aktivismus verdrängen liess, etwa mit kräftigem Ausschreiten auf dem Laufband in seinem hauseigenen Fitnessraum, stellte sich immer häufiger auch in anderen Momenten des Tages ein. Störend, während eines kurzen Blicks aus dem Fenster vor dem Schreibtisch in seinem Büro, sich auf irritierende Weise aufdrängend, während den oft langatmigen Ratssitzungen.
Er wollte diese Regungen ignorieren. Sie hatten keinen Platz in seinem Leben. Sie waren ihm fremd und Fremdes war ihm nicht nur suspekt, es machte ihm Angst.
Wieder richtete sich sein Augenmerk auf sein Spiegelbild. Diesmal konzentrierte er sich nicht auf kleidungstechnische Details sondern auf den so oft vor dem Spiegel geübten Ausdruck von Zuversicht und Stärke, Qualitäten, die sich der Öffentlichkeit als optischer Eindruck zu präsentieren hatten. Wieso wollte ihm dies am heutigen Morgen nicht gelingen? Die diskret aber effektvoll nach oben gezogenen Mundwinkel, die weit geöffneten Augen und das vorgereckte Kinn hatten etwas Angespanntes an sich. Guido schüttelte sich innerlich wie äusserlich. Weg mit diesem Unsinn. Aber da war es wieder, liess sich nicht abwimmeln. Ein Gefühl von bedrückender Leere. Aber wieso konnte sich Leere so schwer anfühlen? Leere war nichts und nichts konnte nicht schwer sein.
Guido beschloss mit einem Akt des Willens zu reagieren. Alles war gut. Es ging ihm blendend. Diese Regungen mussten beherrscht werden, durften sich nicht noch weiter an die Oberfläche drängen dürfen.
Er griff nach dem Autoschlüssel, warf der in der Küche werkelnden Luise eine Kusshand zu und verliess zügigen und betont entschlossenen Schrittes das Haus in Richtung Garage.
Kurz glitt seine Hand über den makellosen Lack seines Audi A5. Dies war real, dieses präzise funktionierende Produkt der Automobiltechnik, das er sich leisten konnte.
Alles andere liess sich abschütteln wie Tropfen auf einem Regenschirm. Ja, das Bild gefiel ihm! Ein nasser Schirm, von dem man mit kräftigen Bewegungen des Öffnens und Schliessens und mit anschliessendem schnellen Drehen die störenden Regentropfen entfernen konnte. So wollte er zukünftig mit störenden Empfindungen umgehen.
Nachdem er den Wagen auf die Strasse manövriert hatte, gab er Gas, spürte die Kraft des ihm gehorchenden Motors und liess sich von der Beschleunigung wohlig in den Sitz pressen.
Sein Blick blieb an den rosa Punkten auf der marineblauen Krawatte hängen. Waren sie zu gewagt, konnte man daraus unerwünschte Schlüsse ziehen? Nein, das hellblaue Hemd, von Luise wie immer sorgfältig gebügelt, vermochte ein Bild von solider Beständigkeit herzustellen und die ein wenig übermütig daherkommenden Tupfen konnten als Zugeständnis an seine zukunftsorientierte Seite gewertet werden, die er unermüdlich im Wahlkampf betont hatte.
Vor einem Jahr prangte Guidos Zuversicht und Beständigkeit ausstrahlendes Konterfei auf zahlreichen Plakaten an jedem nur erdenklichen Standpunkt seines Wahlkreises.
Er war dann, seiner Bekanntheit und seinem einwandfreien Leumund sei Dank, mit komfortablem Stimmenanteil gewählt worden und hatte seit jenem Tag die Rolle des Volksvertreters weit über die Grenzen seiner Gemeinde hinaus in würdiger Weise ausgeübt.
„Bewährtes bewahren – innovativ nach vorne blicken“ war sein, zugegebenermassen wenig origineller und auch etwas holpriger, Wahlslogan gewesen. Es war ihm wichtig, diese Devise soweit in sein Leben zu integrieren, dass er sie wie eine beständige Botschaft auszustrahlen vermochte.
Die Wähler durften nicht enttäuscht und seine Wiederwahl in drei Jahren sollte beizeiten konsolidiert werden.
Dies war der Grund, wieso Guido auch an diesem Morgen mit einem kritischen Blick in den Spiegel nach möglichen Ausrutschern Ausschau hielt. Seine äussere Erscheinung war Teil eines Konstrukts, das ihn als homo politicus definierte.
Nicht dass Guido etwas verkörpern musste, was er eigentlich nicht war. Er liebte Beständigkeit. Bewährtes war ihm wichtig.
Schon seine häusliche Routine war Ausdruck dieses immanenten Bedürfnisses, angefangen bei den zwei Toastscheiben mit Marmelade zum Frühstück, von Luise liebevoll jeden Morgen auf seinem Teller arrangiert, dem für keine unnötigen Experimente zugänglichen Fleisch-Gemüse-Kartoffel-Dreiklang zum Mittagsmahl, bis hin zum leicht gezuckerten Pfefferminztee kurz vor dem Schlafengehen. Dies, um nur einige Elemente von Konstanz zu benennen.
Aber natürlich bezog sich sein politischer Slogan nicht nur auf solcherlei Beschaulichkeiten.
Er trat auch sonst für Werte ein, die zu hinterfragen weder ihm noch seiner Wählerschaft in den Sinn gekommen wäre. Es gab schliesslich Dinge, die mussten nicht diskutiert, analysiert oder gar verändert werden. Die Zeit hatte ihnen ein Gütesiegel verpasst, das nur unverbesserliche linke Spinner, für die er nicht das geringste Verständnis aufbringen konnte, mit ihrer mangelnden Einsicht in wahre Werte in Frage stellen wollten.
Schwieriger wurde es für Guido jedoch, wenn neben dem Appell ans Altvertraute das innovative Nachvorneblicken zum Ausdruck gebracht werden sollte. Sein tägliches Leben konnte nicht all zu viel davon ersichtlich werden lassen. Seit fünfundzwanzig Jahren war Guido zusammen mit seinem Partner und Studienfreund erfolgreich in seiner Anwaltskanzlei tätig, deren Aktionsfeld sich unspektakulär auf Wirtschaftsrecht beschränkte.
Zukunftsorientiertes gab es da wenig zu verbuchen, wenn man mal vom unermüdlichen Akquirieren neuer Klienten absah.
Überhaupt war der Blick nach vorne etwas, das Guido in letzter Zeit ein ungutes Gefühl bescherte. Schon seit einigen Monaten ging das morgendliche Aufstehen mit einer Empfindung einher, die ihm keineswegs vertraut war und die zu erfassen oder gar zu beschreiben ihm schwer fiel und die er auch seiner langjährigen Ehefrau Luise nicht anvertrauen wollte. Wie sollte er auch? Was gab es zu beschreiben? Müdigkeit, gepaart mit einer Spur von Traurigkeit, vielleicht so etwas wie Leere. Aber traf das den Kern? Warum auch sollte er traurig sein? Er hatte alles, was man sich wünschen konnte und um das ihn viele beneideten: eine Frau, die man durchaus als attraktiv bezeichnen konnte und die sich seinem Leben hervorragend anzupassen wusste, zwei Kinder, die ohne Kapriolen ihre schulische Laufbahn hinter sich gebracht hatten und nun im Begriff waren, das Haus zu verlassen, ein gepflegtes Heim in guter Lage am Stadtrand und natürlich sein erfolgreicher beruflicher Werdegang, der mit der langersehnten und solide aufgebauten politischen Karriere seine Krönung gefunden hatte.
Das alles war mit den morgendlichen Gefühlen nicht vereinbar. Und doch musste Guido ein stetiges Ausbreiten der schwer zu definierenden Empfindung feststellen, sosehr er sich dagegen sträubte. Was sich anfänglich auf wenige Morgenminuten beschränkt hatte und sich mit beherztem Aktivismus verdrängen liess, etwa mit kräftigem Ausschreiten auf dem Laufband in seinem hauseigenen Fitnessraum, stellte sich immer häufiger auch in anderen Momenten des Tages ein. Störend, während eines kurzen Blicks aus dem Fenster vor dem Schreibtisch in seinem Büro, sich auf irritierende Weise aufdrängend, während den oft langatmigen Ratssitzungen.
Er wollte diese Regungen ignorieren. Sie hatten keinen Platz in seinem Leben. Sie waren ihm fremd und Fremdes war ihm nicht nur suspekt, es machte ihm Angst.
Wieder richtete sich sein Augenmerk auf sein Spiegelbild. Diesmal konzentrierte er sich nicht auf kleidungstechnische Details sondern auf den so oft vor dem Spiegel geübten Ausdruck von Zuversicht und Stärke, Qualitäten, die sich der Öffentlichkeit als optischer Eindruck zu präsentieren hatten. Wieso wollte ihm dies am heutigen Morgen nicht gelingen? Die diskret aber effektvoll nach oben gezogenen Mundwinkel, die weit geöffneten Augen und das vorgereckte Kinn hatten etwas Angespanntes an sich. Guido schüttelte sich innerlich wie äusserlich. Weg mit diesem Unsinn. Aber da war es wieder, liess sich nicht abwimmeln. Ein Gefühl von bedrückender Leere. Aber wieso konnte sich Leere so schwer anfühlen? Leere war nichts und nichts konnte nicht schwer sein.
Guido beschloss mit einem Akt des Willens zu reagieren. Alles war gut. Es ging ihm blendend. Diese Regungen mussten beherrscht werden, durften sich nicht noch weiter an die Oberfläche drängen dürfen.
Er griff nach dem Autoschlüssel, warf der in der Küche werkelnden Luise eine Kusshand zu und verliess zügigen und betont entschlossenen Schrittes das Haus in Richtung Garage.
Kurz glitt seine Hand über den makellosen Lack seines Audi A5. Dies war real, dieses präzise funktionierende Produkt der Automobiltechnik, das er sich leisten konnte.
Alles andere liess sich abschütteln wie Tropfen auf einem Regenschirm. Ja, das Bild gefiel ihm! Ein nasser Schirm, von dem man mit kräftigen Bewegungen des Öffnens und Schliessens und mit anschliessendem schnellen Drehen die störenden Regentropfen entfernen konnte. So wollte er zukünftig mit störenden Empfindungen umgehen.
Nachdem er den Wagen auf die Strasse manövriert hatte, gab er Gas, spürte die Kraft des ihm gehorchenden Motors und liess sich von der Beschleunigung wohlig in den Sitz pressen.