Genezareth

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Vera-Lena

Mitglied
Genezareth

Leid ufert am See
und
Leid türmt sich zum Gipfel

Die uralten Grausamkeiten gischten
in tagesneuem Funkeln über das Wasser
Das blutige Trachten
hat sich eingewinkelt
in diesen Ort
erzüngelt flink
seine Opfer

und
die durchbohrten Füße ziehen
wieder
landeinwärts durch den Staub
der Mund spricht Segensworte
die Hände schlagen ein Zeichen
Geduld und Sanftmut
in den Steinen aufzuwecken
 

Dorothea

Mitglied
Nur in den Steinen?

Hallo Vera-Lena,

Dein Text spricht mich sehr an. Wie immer ist es aber auch und vor allem der Erlebnis- und Erfahrungshorizont des Lesers, der den Zeilen einen Sinn zuspricht, der nicht immer mit den Autorintentionen deckungsgleich ist.
Warum so eine lange Vorbemerkung?
Keinesfalls möchte ich bei einem so sensiblen Thema den Respekt vermissen lassen vor den Ideen der Autorin.
Aber mich persönlich verstören die Zeilen

[blue]Geduld und Sanftmut
schlummern in den Steinen[/blue]


Sind Geduld und Sanftmut nicht auch durch den gegenwärtig, der die "Segensworte" spricht? Dass sie nicht angenommen und nicht gelebt werden, ist wieder ein anderes Thema.
Ein schömes Wochende wünscht Dir
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Dorothea,

danke für Deine Antwort!

Beginn und Ende dieses Textes berühren einander. Da geht es leider nicht um eine lange Vorbemerkung, sondern um die schlimmen Tatsachen im früheren Palästina, die immer noch genauso aktuell sind. Es vergeht kein Tag ohne dass entweder ein Palestinenser oder ein Israeli ihn nutzt, das Leid sich höher auftürmen zu lassen.

Meine Vision dazu ist, dass die Liebe Gottes sich nicht entmutigen lässt, nicht loslässt, und nicht entschwindet.

Aber in dieser Ecke der Welt wird für mich besonders deutlich sichtbar, dass die Menschen in ihrer Hitzigkeit die Geduld und die Sanftmut voerst noch den Steinen überlassen. Und da es sich so verhält, "ufert das Leid" weiterhin.

Für mich sind diese beiden Botschaften im Text: Das Verhalten der Menschen und das "Verhalten" Gottes.

Ich hoffe, dass sich Dir der Text in dieser Weise entschlüsselt. Es ist ein schwieriges Thema, und eigentlich wollte ich gar nicht darüber schreiben, aber dann....
Ich wäre glücklich, wenn jemand anders die gültigeren Formeln fände.

Dir auch ein schönes Wochenende!:)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Dorothea

Mitglied
Versteinerungen aufbrechen

Liebe Vera-Lena,
die zweite Fassung Deines Gedichtes habe ich mehrmals und aufmerksam gelesen; ein wenig darüber meditiert.
Wahrscheinlich bin ich mit meiner Interpretation weit entfernt von anderen LeserInnen. Aber die zwei letzten Zeilen drücken jetzt für mich die Hoffnung aus, ohne die der Mensch nicht leben kann.

[blue]Geduld und Sanftmut
in den Steinen aufzuwecken[/blue]


Die Versteinerungen in den Menschen aufbrechen zu wollen, wird Gott nie aufhören. Er ist, wie du so eindringlich schilderst, mit durchbohrten Füßen abermals unterwegs.

Vielen Dank für Deine Zeilen. Mit meinen Bemerkungen habe ich hoffentlich keine sensible Grenze verletzt.
Ein schönes Wochendende und ganz liebe Grüße von
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Dorothea,

ich fühle mich durchaus von Dir verstanden mit den letzten beiden Zeilen. Ja, geauso meine ich das, wie Du es interpretierst.
Ich empfinde Deine Art , meine Texte zu behandeln auch als durchweg feinfühlig, insofern brauchst Du Dir keine besorgten Gedanken zu machen.

Danke für Deine abermalige Antwort und Deine Unterstützung!
Ganz liebe Grüße von Vera-Lena
 
S

Sandra

Gast
Meine Vision dazu ist, dass die Liebe Gottes sich nicht entmutigen lässt, nicht loslässt, und nicht entschwindet.
Liebe Vera-Lena,

weißt du noch, über welchen Punkt wir uns bei "Weltenseele" unterhielten? Vielleicht spüren wir eine ähnliche Unruhe in uns und versuchen sie beide aus unseren Seelen zu schreiben. Ich finde meine Sorgen in deinem Text wiedergespiegelt und er berührt mich sehr. Anders als du, beschreibe ich bei "Weltenseele" das Gegenteil von deiner obigen Aussage. Jedoch suchen wir beide den Weg zu Gott, ich tue dies auch ein wenig aus einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber der jüngsten Geschehnisse heraus.
Es fiel mir nun überhaupt nicht schwer, mich in deinen Text hineinzudenken, ich kann all dies sehr gut nachvollziehen und auch dein Text bietet weitaus mehr Interpretationsspielraum, als nur eine Darstellung der Dinge. Auch sehr interessant Dorotheas Kommentar zu lesen (ist es eigentlich immer ;) ).
Stilistisch stören mich lediglich die beiden "und" in deinem Text. Ohne sie fände ich den Klang der Zeilen lyrischer. Zudem erfüllen sie im Text keine Notwendigkeit, oder?

Einen lieben Gruß

Sandra
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Sandra,

ja, eines ist uns bei unseren Texten "Welttenseele" und hier jetzt der meine "Genezareth sicher gemeinsam, das schmerzliche Miterleben dessen, was sich jetzt so unheilvoll in der Welt kristallisiert. Da mag der eine heftiger nach Gott suchen, der andere sich inständiger an das klammern, was er über das Göttliche glaubt schon erkannt zu haben. Im Grunde ist es dasselbe.

Ich freue mich, dass Du aus der eher nüchternen Darstellungsweise, die ich für dieses Thema gewählt habe, etwas herauslesen kannst, das über die pure Bennnung der Dinge hinausreicht.

und
und
wieder

Vielleicht wirkt es störend. Ich habe es aber bewusst so gesetzt.

Wenn jedes dieser Worte eine Zeile für sich beansprucht, müsste das, so denke ich, doch eine Aussage machen.
Für mich unterstreicht es diese ständigen Wiederholungen im zwischenmenschlichen Geschehen, die dann auch Wiederholungen von der göttlichen Seite her heraufbeschwören, mindestens, wie in diesem Falle doch hoffentlich in den Gedanken vieler Menschen.
Ich habe mich schon so oft gefragt, warum nun gerade an diesem Ort kein Frieden einziehen kann. Christen, Juden Moslems sind dort auf einem Punkt versammelt, in dem Land, in dem Jesus, der als Jude geboren ist und als Jude hingerichtet wurde, die Neuigkeit lebendig gemacht hat, nämlich, dass der zürnende Gott, wie ihn bis dahin die Juden vorrangig verstanden, auch ein liebender Gott ist.

Meine drei Wörtchen
und
und
wieder
sagen das natürlich nicht aus. Ein Text wirkt aber bis ins Unterbewusstsein hinein. Diesen hier würde ich auch so vortragen, das jedesmal das "und" und das "wieder" sprachlich hervorgehoben werden.

Wie es der Zufall will, habe ich diesen Text gestern vor mehreren Personen vorgetragen, und niemend hat diese herausgehobenen Worte beanstandet.
Soviel zu Deiner Fage nach diesen drei Worten.

Ich danke Dir herzlich für Deine ausführliche Antwort.
Einen schönen goldenen Oktobertag wünsche ich Dir.:)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 
J

joLepies

Gast
Hallo Verena-Lena,

wer sich unter Genezareth nicht vorstellen kann, versteht nicht, welches Leid am See ufert und welches Leid sich zum Gipfel türmt und das andere auch nicht. Bis vielleicht auf die druchbohrten Füße.

Lyrik sollte aber so verfasst sein, dass sie sofort auf Anhieb verstanden wird. Aber von jedem.

Ansonsten wortstark formuliert.

lg
joLepies
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo joLepies,

danke, dass Du meinen Text aus der Versenkung heraufgeholt hast! Dass der See Genezareth in Israel liegt, dürfte jeder Europäer wissen. Was sich in Israel abspielt, steht ständig in der Zeitung. Insofern dürfte es keine Verständnisprobleme geben. Allerdings habe ich die Ortsangabe vielleicht doch etwas unglücklich gewählt, weil sich die schmerzlichen Ereignisse viele Kilometer westlich abspielen. Da Israel aber ein dermaßen kleines Land ist, trifft eigentlich jeden das, was sich irgendwo innerhalb der Landesgrenzen abspielt.

Danke dass Du mir den Text als wortstark bescheinigst!

Liebe Grüße
Vera-Lena
 



 
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