Gesichter der Unterwelt

Anonym

Gast
Gesichter der Unterwelt

Zusammen mit meinem Puddingteilchen, von dem ich genüsslich abbeiße, begebe ich mich zur U-Bahn. Ich steige die Treppen hinab und blicke versonnen kauend vor mich hin.
Einige Stufen vor mir hockt sich unvermittelt eine Frau hin und ehe ich mich versehe, schaut mir ihr blankes Hinterteil entgegen. Sekundenbruchteile später plätschert es auf die Treppe.

Geschockt und angewidert bleibe ich stehen, drehe dann um und beschließe, den anderen Abgang zu nehmen.
Das Puddingteilchen verschwindet angebissen wieder in der Papiertüte. Der Appetit ist mir gehörig vergangen. Wie kann man nur? Mich drückt ja selbst oft genug die Blase an den unmöglichsten Orten, aber wer wird denn bitte so weit gehen, sich als erwachsener Mensch auf eine viel begangene Treppe zu hocken und es einfach laufen zu lassen?

Am Bahnsteig angekommen, kommt auch gleich meine Bahn. Ich steige ein und finde sofort einen Platz.
Noch während ich mich bequem hinsetze und mein Buch aus der Tasche ziehe, sehe ich sie.
In Großstädten ist man sicherlich bunte Gestalten gewöhnt, dennoch bekomme ich bei ihrem Anblick einen gewissen Schock.
Die Frau unbestimmbaren Alters ist nicht dünn, sie ist dürr, klapperdürr. Ihr extravagantes Outfit im Stricklook, bestehend aus bunten Leggings und einer schlabberigen grellbunten Jacke unterstreicht ihre Unfigur. Das dünne Gesichtchen ist von tiefen Furchen durchzogen, die Augenbrauen über den blassblauen leeren Augen gerupft und mit hellbraunem Stift dünn nachgemalt. Von der Tür aus durchkämmt sie den Wagen. Mit rauchiger Männerstimme, die in erstaunlichem Gegensatz zu ihrer zarten Erscheinung steht, sagt sie: „Nicht erschrecken!“

Ein guter Hinweis, der leider seinen Zweck verfehlt. Eine Bemerkung, die einen fast zum Lachen reizen würde, wenn es sich trotz aller Farbenfülle nicht um eine solch traurige Gestalt handelte.
„Ick wollt nur ma janz höflich fragen, ob jemand vielleicht nen Cent hätte, damit ick mir heute Abend noch ne kleene Mahlzeit kofen kann. Für nen Euro schließ ick euch in mein Nachtjebet ein. Danke!“
Der Plastikbecher in ihrer dürren Hand mit den nikotingelben Fingern enthält wenige Cent-Münzen, die klimpernd ihren Appell unterstützen.
Sie bewegt sich zügig von einer Tür zur nächsten, bloß nicht aufdringlich sein! Soweit ich es mitkriege bekommt sie nichts zugesteckt.

Während sie an der nächsten Haltestelle aussteigt und ich mir noch Gedanken darüber mache, wie sie wohl in diese Lage geraten ist und was es für ein Gefühl sein muss, so bettelnd durch die Gegend zu ziehen, erfordert eine weitere Szene meine Aufmerksamkeit.

Eine Frau, die offensichtlich einer ethnischen Minderheit angehört, zu der man seit einiger Zeit nicht mehr Zigeuner sagen darf, der aber ein Normalbürger nicht ansehen kann, ob es sich um eine Angehörige vom Stamme der Sinti oder der Roma handelt, steigt mit einem schlafenden Baby im Arm ein. Ein weiteres, vielleicht vierjähriges Mädchen mit dunklen Locken und großen braunen Augen, hält sich an ihrem Rock fest. Die Mutter, deren schwarze Haare mit einem Kopftuch bedeckt sind, drückt das in Tücher gehüllte Baby dicht an ihren voluminösen Körper.
Dabei weint sie laut und eindringlich: „Oh, was soll tun? Kind krank. Nix versichert, kein Geld, Kind muss leiden. Bitte helfen!“

Eine alte Dame zückt spontan ihr Portemonnaie, die Augen kaum von dem Baby mit den schwarzen Locken wendend, das so friedlich aussieht und so krank sein soll.
Während sie der Mutter ein paar Münzen reicht, die rasch in deren Rock verschwinden, beobachte ich misstrauisch das andere Kind. Es hält sich weiter an der Mutter fest, die sich nun bei der alten Dame bedankt. Der Dank der Frau ist so überschwänglich wie ihr Jammern eindringlich. Fast unmittelbar geht der Dank dann auch wieder in Klagen über.

Ich komme mir kurzfristig etwas schlecht vor, stelle ich mir doch gerade vor, wie die Sinti-Roma-Mutter an einer der nächsten Haltestellen aussteigt und ihr gesammeltes Geld einem der männlichen, feinstens gekleideten Familienmitglieder aushändigt, der es mit dem familieneigenen Mercedes SLK in Sicherheit bringt.
Sollten meine Vorurteile doch etwas überzogen sein? Na immerhin weiß ich, dass das Sozialamt im Notfall auf Antrag auch Krankenhilfe gewährt. Daher halte ich meine Geldbörse verschlossen, während die Frau mit dem Baby stets die gleichen Worte wiederholend an mir vorbei durchs Abteil geht. Das kleine Mädchen sieht schüchtern zu mir auf und ich lächle es an. Ist bestimmt kein Zuckerschlecken so zu leben.

Ich versuche, mich auf das Buch zu konzentrieren, das aufgeschlagen auf meinem Schoß liegt. Nachdem das Gezeter an der nächsten Haltestelle vorbei ist, schaffe ich es, zwei Seiten zu lesen. Gerade wird es spannend. Der Protagonist in meinem Krimi dringt im Dunkeln unbefugter Weise in ein Büro ein. Irgendwo knarren Dielen. Der Detektiv hält die Luft an. Ein Windhauch zieht durch das offene Fenster, der Vorhang bewegt sich leise. Mazotti lauscht angestrengt auf irgendwelche verräterischen Töne. Er kann nichts vernehmen und bewegt sich vorsichtig auf den großen Schreibtisch zu. Dann öffnet er die obere Schublade.
Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter.
Ich zucke heftig zusammen. Mit vor Schreck weit geöffneten Augen reiße ich den Kopf herum.

Vor mir steht ein älterer Obdachloser mit einer Obdachlosenzeitung in der Hand. Die will er mir verkaufen. Als er mein verstörtes Gesicht sieht, grinst er ein ziemlich zahnloses, aber gutmütiges Grinsen, entschuldigt sich und meint: „Schon gut, schon gut.“
Dann schlendert er weiter.
Eine Weile sehe ich ihm noch hinterher, mich sammelnd. Was mag noch kommen? Ich sitze erst seit fünf Stationen in der Bahn und habe schon einiges erlebt.

Langsam wende ich mich wieder meinem Krimi zu.
Hin und her gerissen zwischen einer gewissen Betroffenheit darüber, dass so viele Leute hier es scheinbar für nötig halten, Betteln zu gehen und dem Bedürfnis, endlich in Ruhe gelassen zu werden, damit ich mein Buch weiterlesen kann, sehe ich kurz aus dem Fenster.
Ein völlig sinnloses Unterfangen, berücksichtigt man die Tatsache, dass ich in der U-Bahn sitze und demnach in völlige Finsternis blicke. Oder?

Plötzlich hält die Bahn an. Keine Haltestation in Sicht. Keine Erklärung über Lautsprecher. Nichts.
Da! Ist nicht gerade etwas an meinem Fenster vorbeigehuscht? Oder jemand? Was kann das gewesen sein? Hier mitten im Nichts.
Mein Banknachbar murmelt vor sich hin: „Diese verdammten Vagabunden! Sind bestimmt wieder zu nah an die Gleise gekommen.“
„Vagabunden?“, frage ich den älteren Mann, der bereitwillig Auskunft gibt:
„Ja, sie hausen schon seit bestimmt fünfzehn Jahren hier im U-Bahnnetz. Haben sich häuslich eingerichtet in den Nebentunneln und Belüftungsschächten. Sind selbst ernannte Künstler, die sich aus Solidarität zu den Obdachlosen hier niedergelassen haben. Musste sie selbst oft genug von den Gleisen wegholen, als ich noch im Dienst war.“
„Aha. Da habe ich ja noch nie was von gehört. Hoch interessant.“
„Klar, wird totgeschwiegen, damit die Kunden nicht ausbleiben. Haben Angst, dass dann keiner mehr U-Bahn fahren will, wenn es publik wird.“
„Irgendwie nachvollziehbar, aber hat es denn schon mal Zwischenfälle gegeben, bei denen Fahrgäste in Gefahr geraten sind wegen diesen Leuten?“
Mein Sitznachbar schüttelt den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“
Beruhigt lehne ich mich im Sitz zurück, das Buch wieder aufgeklappt. Kaum habe ich zwei Sätze gelesen, geht der Motor der Bahn aus. Dem folgt eine Durchsage:
„Verehrte Fahrgäste. Wegen eines Motorschadens der Bahn vor uns müssen wir hier warten. In Kürze wird die andere Bahn abgeschleppt werden. Bitte bewahren Sie Ruhe. Gleich geht es weiter.“
‚Endlich Zeit, meinen Krimi weiter zu lesen’, denke ich und vertiefe mich wieder in die Lektüre.
„Mama, mir ist schlecht.“
Die dünne Stimme hinter mir hat einen bedrohlichen Klang. Ich lehne mich etwas nach vorn und sehe mich dann vorsichtig um. Ein etwa fünfjähriges Mädchen mit bedenklich grünlichem Teint hält die Hand vor den Mund und stiert in angstvoller Ahnung vor sich hin. Die Mutter sieht nicht weniger angstvoll aus und versucht, das Kind zu beruhigen. „Tief einatmen, du musst ganz tief einatmen.“
Ich stelle mir vor, den Geruch der U-Bahn ganz tief einzuatmen und mir ist mit einem Mal selbst speiübel. Panisch sucht die Mutter nach irgendetwas, das sie ihrem Kind vorhalten kann. Schnell ziehe ich ein neu gekauftes Paar Schuhe im Karton aus der sie umgebenden Plastiktüte und reiche letztere hinter mich. Gerade noch rechtzeitig.

Ich weiß nicht, ob ich mir die Ohren oder den Mund zuhalten soll und bete, dass es mich nicht auch noch überkommt. Ein säuerlicher Geruch, irgendwie vermischt mit dem von Gummibärchen dringt zu mir herüber und ich halte es nicht mehr aus.

Schnell stehe ich auf und gehe ein Stück weiter nach vorne. Die Bahn ist nicht ganz voll und ich finde erfreulicher Weise noch einen Platz, an dem es relativ neutral riecht. Kinder sind auch keine in der Nähe. In der Hoffnung, einer Wiederholung dieses Spektakels zu entkommen, lasse ich mich seufzend in den Sitz plumpsen.

Erneut greife ich nach meinem Buch. Ob es mir denn wohl noch gelingt, wenigstens dieses Kapitel zu Ende zu lesen?
Mein Blick fällt am Buch vorbei auf die Rücklehne des Sitzes vor mir. Da hat jemand etwas geschrieben. Eine ganze Menge sogar.

Celine, wenn du das hier liest, bin ich schon weit weg. Hinter mir liegt alles, was mich erdrückt hat. Celine, du musst verstehen, ich konnte nicht hier bleiben. Alles hätte mich zu sehr eingeengt. Freiheit, um jeden Preis. Etwas, das du nicht verstehen kannst, ich weiß. Darum gibt es auch keinen Abschied, kein letztes Wort. Du, weißt, dass etwas von mir immer bei dir sein wird.

Wow. Das klang ja nach einer handfesten Tragödie. Ob diese Person einfach nur weggegangen war? Oder sich vielleicht irgendwie das Leben genommen hatte? Was hatte dieser letzte Satz zu bedeuten? Etwas von ihm (oder ihr?) würde immer bei Celine sein. War das philosophisch gemeint? Oder ernsthaft? Ob Celine ein Kind von diesem Mann (war es ein Mann?) erwartete?
Unwillkürlich sehe ich mich in der Bahn um. Ist irgendwo eine junge Frau zu sehen, an die diese tragischen Worte gerichtet sein könnten? Eine Celine, die vielleicht um jemanden trauert, der sich einfach nicht mehr gemeldet hatte und nicht aufzufinden ist? Dort hinten steht eine Frau mittleren Alters. Sie ist vielleicht Anfang dreißig, trägt Jeans und ein Sweatshirt. Sie sieht traurig vor sich hin. Ob sie Celine ist? Ich kann sie ja schlecht fragen oder ihr diesen Text zeigen.
Wie kommt jemand überhaupt dazu, solch eine Botschaft ausgerechnet in der U-Bahn zu verewigen? An einem Ort, von dem man nicht weiß, ob die betreffende Person ihn je findet, vor allem bevor die Botschaft dem Putztrupp der Verkehrsbetriebe zum Opfer gefallen ist, was doch früher oder später der Fall sein würde.

Jetzt fährt die Bahn wieder an, es geht weiter. Eine wahrhaft denkwürdige U-Bahnfahrt ist das.

Gerade als ich mich wieder meinem Buch widmen will, fällt mein Blick auf einen Mann in Jeans und dunkelblauer Jacke, der mir den Rücken zudreht. Er steht nur ein paar Plätze weiter und streckt die Hand in Richtung der alten Dame aus, die bereits vorhin der Mutter mit Kind etwas Geld zugesteckt hatte. Langsam aber sicher packt mich die Wut.
Der Mann dreht sich um und ich sehe gerade noch, wie die alte Dame ihre Geldbörse wieder einpackt.
Zielstrebig kommt der Mann nun auf mich zu. Ich lege mir schon Sätze zurecht wie:
„Nein danke, ich brauche nichts.“ oder „Tut mir Leid, ich habe kein Kleingeld und das Große brauch’ ich selbst.“
Gerade bin ich gedanklich bei dem aggressiveren „Haben Sie es wirklich nötig, Leute anzubetteln? Es gibt doch Sozialhilfe!“ angelangt, da steht er vor mir.

Selbstbewusst grinsend streckt er mir seine Rechte entgegen. Noch bevor ich begreife, was er darin hält, sagt er: „Guten Tag! Ihren Fahrausweis, bitte.“
 



 
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