Große Freiheit

Maribu

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Er zog die grüne Arbeitsweste aus und legte sie über die Lehne. Hier auf der schattigen Bank unter der Buche war es erträglicher. Sein T-Shirt musste am Körper trocknen. Mit bloßem Oberkörper wollte er sich nicht zeigen. Er nahm einen großen Schluck aus der Flasche mit Mineralwasser, die er sich beim Discounter gekauft hatte, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus.
Wenn ihn einer kontrollierte, könnte der genau feststellen, wie viel er heute in vier Stunden geschafft hatte. Das Gewitter der vergangenen Nacht hatte Zweige und Blätter abgerissen und verwirbelt. Der bereits in den Vortagen von ihm aufgeschüttete Weg - bis gestern wie ein Damm wirkend - hob sich nicht mehr von der ausgedörrten Rasenfläche ab. Übergangslos bedeckten Laub und vertrocknete Lindenblüten Wiese und Weg.
Seit vier Tagen war er dabei, den Trampelpfad, der vom kürzlich bezogenen Wohnblock am Rande des Parks quer über eine Wiese zum Hauptweg verlief, zu verbreitern und mit Kies aufzufüllen.
Fünf Tage hatte die Gesellschaft für diesen Auftrag vorgesehen.
Sie hatte gut kalkuliert. Den Rest würde er heute Nachmittag oder spätestens morgen Vormittag schaffen. Obwohl auch bei dieser Arbeit seine handwerklichen und technischen Kenntnisse wieder nicht erforderlich waren, empfand er sie nicht als diskriminierend. Im Gegenteil:Dieses Fleckchen Natur inmitten der Stadt hob seine Stimmung, regte seine Phantasie an. Er hatte gelernt, zu verdrängen.
Er hatte das Kinn in die rechte Hand gestützt, die Augen geschlossen, um ein wenig zu dösen. Ihm war, als würde er auf seinem eigenen, parkähnlichen Grundstück beschäftigt sein. Der aufgeschüttete Weg führte von seiner Villa zum mit Seerosen bedeckten Teich. Die Rhododendronsträucher am Rande bildeten die Grenze zu den Nachbarn. Und die Amsel über ihm im Wipfel der Buche sang nur für ihn
Plötzlich schreckte er hoch, weil die alte Frau, bevor sie sich ans andere Bankende setzte, mit ihrem Ziehwagen über die Spitzen seiner Schuhe gefahren war.
"Entschuldigen Sie bitte!" sagte sie lachend. "Ich hoffe, dass ich Sie nicht verletzt habe. Sie sollten jetzt nicht schlafen. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht." Sie öffnete ihre auf dem Wagen angeschnallte Tasche und reichte ihm einen mit Folie abgedeckten Teller. "Selbstgebacken!" sagte sie aufmunternd. Zögernd nahm er ihn entgegen und stellte ihn in die Mitte der Bank. Verärgert sagte er: "Zuerst fahren Sie mir absichtlich über die Zehen und reißen mich aus meinem Traum, und dann bieten Sie mir Ihren Kuchen an. Was wollen Sie damit bezwecken?"
"Gar nichts! Nur weil Sie trotz der Hitze so fleißig sind, junger Mann!"
Er schüttelte den Kopf. "Fühlen Sie sich beauftragt, mich zu überwachen? Das Wort 'jung' klingt für mich wie Hohn! Erklären Sie das mal den Firmen, die meine Bewerbungen zurück
geschickt haben!"
"Ja, das ist alles eine Sache der Perspektive! Für mich, mit meinen fünfundachtzig Jahren, sind Sie noch ein junger Mann!"
Genüsslich leerte er die Flasche bis zur Hälfte und sah sie dabei provozierend an. "Sie können Ihren Kuchen wieder mitnehmen! Ich habe heute morgen ausreichend gefrühstückt und wie Sie sehen, habe ich nur Durst!"
"Nur keine falsche Bescheidenheit!" antwortete sie resolut. "Sie müssten doch Hunger haben! Wie ich sehe und an den Vortagen beobachtet habe, langt es mittags nur für billigen Sprudel! - Kein Wunder bei einem Stundenlohn von einem Euro!"
"Wie kommen Sie denn darauf?" fragte er überrascht und nahm sich - gegen seinen Willen - ein Stück vom Teller.
"Das hat mir der Fahrer von der Beschäftigungsgesellschaft erzählt, der Montag den Sandberg abgekippt hat und Sie jeden morgen um halb acht mit Schubkarre und Schaufel davor ablädt und nachmittags um drei wieder abholt."
Er griff schnell zur Flasche, weil ihm der Zuckerguß sonst im Halse stecken geblieben wäre, trank, räusperte sich und aß schweigend weiter. Einen Moment lang beobachtete sie ihn schmunzelnd und fragte dann: "Kommen Sie aus dem Osten, aus Mecklenburg?"
Jetzt musste er lachen. "Sie meinen, sich mit Ihrem Gebäck meine Lebensgeschichte erkaufen zu können! Ich tue Ihnen den Gefallen, weil..." -er griff erneut zu -"es viel besser als Industrieware schmeckt!" Er biss ab und fragte kauend: "Wie kommen Sie auf Mecklenburg? An meinem Dialekt werde ich gewöhnlich als Hamburger erkannt. Ich bin sogar Sankt Paulianer, 1949 in der Straße Große Freiheit geboren."
"Nun wollen Sie mir einen Bären aufbinden!" entrüstete sie sich. "Ich bin zwar alt, aber nicht verkalkt! Dort können Sie gar nicht gewohnt haben. Jeder weiß, dass das eine Amüsiermeile ist!"
"Ich habe da nicht gewohnt. Von klein auf bin ich bei meinen Großeltern in Winterhude aufgewachsen."
"Und was ist mit Ihren Eltern passiert?"
Er überging diese Frage und sagte: "Ich entschädige Sie lieber mit einem anderen, nicht so deprimierenden Lebensabschnitt." Er überlegte einen Augenblick. "Das Meer ist die große Freiheit, wird gesagt. Ich wollte sie auch spüren und heuerte nach der Lehre bei Blohm & Voss auf der 'Cap San Diego' an, die bis..."
"Auf dem Museumsschiff?" unterbrach sie ihn.
"Ja, das war bis Mitte der achtziger Jahre noch im Einsatz. Als Stückgutfrachter hatten wir zusätzlich zwölf Kabinen an Bord. Die große Freiheit gab es nur für die Passagiere. Ich war als 'Assi' im Maschinenraum eingesperrt und ständiger Hitze ausgesetzt." Er hielt inne, als spürte er die Hitze immer noch, setzte die Wasserflasche an die Lippen und schob mit der anderen Hand den Teller an ihre Seite."Jetzt müssen Sie aber essen!"
Sie lachte. "Nur wenn Sie weiter erzählen!"
"Wir haben mit Maschinen und Chemikalien Südamerika angefahren. In Buenos Aires gab es als Rückfracht oft Rinderfelle, die einzeln in den unteren Laderäumen ausgebreitet und eingesalzen wurden. Dadurch hatten wir manchmal Liegezeiten von vierzehn Tagen. Was meinen Sie, was ich alles erlebt habe! Das war meine schönste Zeit!" Er lächelte verträumt.
"Bitte weiter!" bettelte sie. "Was haben Sie alles erlebt? Es kann auch ruhig Seemannsgarn sein!"
Er schmunzelte über ihre Hartnäckigkeit. "Dafür fehlt mir leider die Zeit. Ich muss jetzt einen Erzählsprung machen: Auf einer Reise, die dann meine letzte sein sollte, lernte ich eine Frau kennen, die bald danach meine Frau wurde. Seefahrt und Ehe vertragen sich nicht besonders gut. Ich musterte ab und fing wieder bei einer Werft an. Das ging viele Jahre gut, bis die Krise kam. Mit Schließung und Verschmelzung von Werften wurden Tausende entlassen. - Südkorea und China bauten die Schiffe billiger!"
Er blickte auf die Uhr. "Meine Mittagszeit ist gleich vorbei." Er stand auf und deutete eine Verbeugung an. "Vielen Dank für den Butterkuchen!" Lächelnd ergriff er die hinter der Bank abgestellte Karre und sagte im Vorbeischieben: "Ich arbeite jetzt weiter in meinem großen Garten!"
 



 
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