Großstadtgespenster

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Sie sind unter uns, halb unsichtbar, die Karteileichen der Gesellschaft; sie, die nichts haben: keinen Schreibtisch, keinen Ofen, keine Kinder, keine Frau, keine Freunde, auch kein Ziel mehr, nur noch die Last ihrer eigenen Existenz, die sie nicht wegwerfen können. Sie, die im Nichts stehen Gebliebenen, bei denen es keine Rolle spielt, wohin sie gehen oder nicht. Sie, denen man möglichst nicht im Dunkeln begegnen möchte, und auch nicht bei Licht.

Sie scharen sich um die Eingänge der U-Bahn, weil dort die Wahrscheinlichkeit, mit Lebenden in Berührung zu kommen, am größten ist. Sie rufen laut und gestikulieren lebhaft, aber die Lebenden beißen die Zähne zusammen und sehen und hören nichts. Sie sind wieder da. Nachdem wir unseren Kindern beigebracht haben, dass es keine Geister und Gespenster gibt, nachdem wir Kobolde und Dämonen verboten und selbst den Weihnachtsmann abgeschafft haben, haben sie sich gesammelt und sind zurückgekommen. Von den Toten auferstanden, um sich an uns zu rächen, uns mehr Angst einzujagen als je zuvor.

Ich steige die Treppe zur U-Bahn hinab. Eisiger Wind bläst mir entgegen. Das meckernde Lachen eines Untoten dringt an mein Ohr. Der teilnahmslos aussehende Akkordeonspieler im Korridor spielt eine lustige Melodie auf seinem traurig klingenden Instrument. Ich glaube, es ist Wut über den verlorenen Groschen. Auch hier sind sie allgegenwärtig, besonders im Winter, von der Kälte zusammengetrieben: Aliens, Außerirdische, Grufties, für ein paar Stunden dem Grab entstiegen. Auf der Bank sitzt eine bärtige Rotweinruine, das Gesicht von der Farbe des Weines, das Blut in den Adern längst gegen Wein vertauscht. Der Glöckner von Notre Dame humpelt gebeugt den Bahnsteig entlang und zieht ein Wägelchen mit Lumpen hinter sich her. Ein Skelett in ausgeblichenem schwarzem Jeansanzug kommt ihm klappernd entgegen, an der Hand den Hund von Baskerville. Auf seinem Rücken bemüht sich eine weiße Ratte, auf seinen Schultern hin und her laufend, das Gleichgewicht zu halten. Ich bewege mich zwischen Gestalten, die mich als Kind in der Geisterbahn erschreckt haben, wandelnden Giftschränken, bis zum Überlaufen voll mit Alkohol, Nikotin, Junk food, Krankheitserregern, Drogen, Medikamenten, ausgekotzt aus der Gemeinschaft, unappetitliche Haufen, unverdaulich, die dennoch zu wertvoll sind, um von der Straßenreinigung diskret beseitigt zu werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Dazwischen schreitet eine Fee mit glänzendem Haar, in einen Pelzmantel und lackierte Stiefel gehüllt, den Bahnsteig hinab.

Ich steige in den Zug und auch hier sind sie. Einige versuchen so zu tun, als wären sie keine Zombies, aber ihr schuldbewusster Blick verrät sie. Sobald man sie ansieht, fühlen sie sich durchschaut und schämen sich. Mitten im Waggon sitzt ein Mann, der versucht, sich eine Zigarette anzustecken.

»Rauchen ist hier verboten«, klärt ihn prompt ein Fahrgast auf. »Kannst du nicht zu Hause rauchen?«.

»Sicher, wenn ich ein Zuhause hätte…«.

Am anderen Ende des Wagens ist es leerer. Ein Untoter, der in der Ecke sitzend bereits Verwesungsgeruch verbreitet, hat die anderen Fahrgäste dazu bewegt, ein wenig Abstand zu nehmen.

An der nächsten Station steigt ein Schlossgespenst hinzu, unter dem Arm anstelle des Kopfes einen Packen Obdachlosenzeitungen, den Klotz des materiellen Nichts ans Bein gekettet, und beginnt mit klagender Stimme seine Litanei. Dann spukt es im Waggon auf und ab und versucht, seine Zeitungen an den Mann zu bringen. Die Fahrgäste reagieren, wie man reagiert, wenn man sich vor Gespenstern fürchtet, aber rational davon überzeugt ist, dass es keine gibt. Einige wenige jedoch, die offenbar ohnehin an Geister glauben und mit ihnen auf gutem Fuß stehen, kaufen eine Zeitung oder spenden einen kleinen Betrag.

Am Ziel angelangt, steige ich aus und kehre ans Tageslicht zurück. Um einen Imbiss herum stehen ein Dutzend Weingeister und unterhalten sich über den ebenso nichtigen wie tragischen Inhalt ihres Halblebens. Ihre Stimmen sind heiser, spröde, bedrohlich oder mitleiderregend, keiner aber hat eine menschlich klingende Stimme.

Irgendwo fällt eine Münze auf das Straßenpflaster – mit dem hellen, harten, verheißungsvollen Klang einer soliden Währung. Schlagartig verstummt das Gespräch und ein Dutzend großer, glasiger Augenpaare wendet sich unauffällig um in dem Bemühen, die Quelle des Geräusches ausfindig zu machen. Dort liegt die blinkende Münze, der das Sonnenlicht, das sich an ihr spiegelt, einen besonderen, majestätischen Glanz verleiht; dort liegt jene wertvolle, magische Substanz, die als einzige auf der Welt die Kraft hat, einen Geist aus der virtuellen Existenz des Schattendaseins herauszustoßen, ihm Leben einzuhauchen und in einen wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut zu verwandeln.

Es scheint sich niemand zu zeigen, der Anspruch auf den Besitz der Münze erhebt. Ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt ist in solchen Augenblicken wichtig. Regt man sich zu früh, macht einem der Inhaber der Münze den Besitz womöglich streitig. Bewegt man sich zu spät, kommt einem jemand anders vielleicht zuvor.

Schließlich geht jemand zu der Münze hinüber und hebt sie auf. Der Betrag ist zu gering, um eine erwähnenswerte magische Wirkung zu entfalten. Bedauerlicherweise ist die Zauberkraft nur in winzigen Mengen in die Münzen eingewirkt. Erst ein ganzer Sack davon kann tatsächliche Wunder bewirken und die Menschen verwahren die magische Substanz sicher in ihren Taschen und auf ihren Konten.

Ein anderer wollte sich ebenfalls gerade erheben. Als er sieht, dass er sich zu spät entschlossen hat, hält er sich am Tisch fest und tut, als sei nichts gewesen. Der neue Besitzer verwahrt die Münze in seiner Tasche – immer noch besser wenig als nichts – und ich gehe nach Hause in meine sichere Wohnung, wo es keine Gespenster gibt.
 

rothsten

Mitglied
Hallo Mark Sternwaldt,

ein interessanter Text. Absolut sauber geschrieben, nirgends hapert es. Besonders gut gefallen mir die verschiedenen Blickwinkel und detaillierten Beschreibungen des selben Themas. Es langweilt nie.

Viele Namen haben sie, die Ausgestoßenen. Auch Du findest einige, interpretierst sie neu. Gefällt mir.

Die These Deines Textes ist wohl: besser irgendein Gesicht als gar keines. Du erklärst nicht, warum diese Menschen in ihrer Lage sind. Wer von uns ist noch nie an einem solch bedauernswerten Menschen achtlos vorbeigegangen? Du gibst den Gespenstern ein Gesicht. Ein zT abstoßendes, aber immerhin ein Gesicht. Du zerrst sie nicht ins Rampenlicht und schreist ihr Schicksal über den Martk. Du hebst sie ab, nur ganz leicht, machst sie halb sichtbar, indem Du ihnen durch Andere (zB Fee) Konturen gibst. Ein Gespenst kann eben nur durch ein Medium sichtbar werden.

Alles, was Du schreibst, trägt das Thema Deines Textes. Wie Du schreibst, ist handwerklich einwandfrei.

Gespenstisch gut!

lg
 



 
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