Hannes Nygaard
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Nein, es kommt nicht zu plötzlich, wie es in einem alten Bonmot immer wieder heißt. Weihnachten kündigt sich lange im voraus an. Das beginnt mit den ersten Lebkuchenherzen, die rechtzeitig zum Ende der Sommerferien die Regale füllen. Es folgen das hohe Fest vorbereitende Werbespots im Fernsehen, die man bei angenehmen sommerlichen Temperaturen im Herbst von der Terrasse aus genießen kann. Und in den ersten Novembertagen, wenn der herbstliche Grauschleier des Morgens den Tag begrüßt, leuchten uns die ersten Weihnachtsdekorationen den noch viele Wochen währenden Weg bis zum Wiegenfest des Christkindes aus. Und wem das immer noch zu wenig ist, der kann zwölf Monate im Jahr im romantischen Rothenburg durch die festlich dekorierte Weihnachtsausstellung schlendern. Dieses ist besonders im Hochsommer attraktiv, wenn man, in kurzen Hosen, das kühlende Eis schleckend, durch die winterlich dekorierte Weihnachtslandschaft schleicht.
Weihnachten steht wirklich nicht überraschend vor der Tür. Für mich ist eigentlich nur der Januar der Zeitraum im Jahr, in dem ich nicht an das höchste deutsche Familienfest denke.
Ab Februar beginnt es bereits – noch sehr zaghaft – im tiefsten Herzen zu grollen. Vorsichtig bereitet sich die Furcht aus, ich beginne schon mit den ersten Notizen auf kleinen Merkzetteln, die mir zum entscheidenden Zeitpunkt die Argumentation für meinen Standpunkt erleichtern sollen.
Diese Situation erfährt dann vorsichtige Steigerungen, bis sie im Hochsommer ein zeitweiliges Zwischenhoch erreicht hat und ich erste Vorgespräche mit meinem persönlichen Rechtsberater führe.
Diese elf Monate des Wartens, Bangens, Hoffens sind für mich ein Gräuel, das mich seit Jahrzehnten begleitet und dem ich bisher weder mit psychiatrischer Beratung noch mit geistlichen Beistand beikommen konnte.
Die letzten Monate vor dem Ereignis lassen mich missgelaunt die Welt betrachten, der Wille zur freudvollen Aufnahme kulinarischer Delikatessen ist darauf reduziert, nur das Überlebensnotwendige zu sich zu nehmen, die angeblich schönen Seiten des Lebens rauschen an mir vorbei, mein angstvolles Harren sieht nur diesem einen Tag entgegen, den ich elf Monate lang fürchte wie sonst nichts auf der Welt.
Irgendwann lässt es sich nicht mehr vermeiden:
Ich muss den Weihnachtsbaum aufstellen!
Natürlich ist in der Nacht zuvor nicht an Schlaf zu denken. Aufgeregt habe ich Wochen zuvor Heimwerkerzeitschriften studiert, einen passenden Kursus an der Volkshochschule besucht, wie jedes Jahr neues Elektrowerkzeug eingekauft. Freiwillig verzichtet ich morgens auf das Frühstück.
Dann stehen wir uns gegenüber. Der, so wird mir gesagt, wunderbarste, gerade gewachsene, schönste je in Mitteleuropa verkaufte Tannenbaum und ich.
Wir sehen uns tief in die Augen. Ich zeige dem Baum meine neue Elektrosäge, den patentierten Automatikfuß, der einen absolut senkrechten und geraden Halt garantiert, ich demonstriere dem grünen Edelgewächs mit einem Probelauf den neu auf dem Markt gekommenen automatischen, elektronisch gesteuerten Baumanspitzer. Ich drohe dem Grünling mit meiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit renitenten Weihnachtsbäumen. Es hilft nichts. Er bleibt unbeeindruckt.
Und hinter mir steht die Familie und knurrt mich an: Wird der Tannenbaum dieses Jahr gerade stehen? Da ist es. Der Schweiß bricht aus allen Poren heraus. Der alljährliche Kampf mit dem Weihnachtsbaum hat begonnen, an dessen Ende in jedem Jahr das Familiendrama steht, dessen Bandbreite von der relativ harmlosen Drohung, sofort und noch vor den Festtagen die Scheidung einzureichen bis hin zum angekündigten Gattenmord reicht.
Elf Monate Angst vor diesem Augenblick brechen mit Urgewalt aus meiner Seele.
Ich ziehe mir also die festen Arbeitshandschuhe an, setzte die Tauchermaske auf und schütze meinen Restkörper hinter dem Schweißerschutzanzug, um mich vor den bösartigen Nadeln meines Erzfeindes, des jährlichen Tannenbaumes zu schützen.
Behände und mit der langjährigen Erfahrung vergangenen Dramen befestige ich den Stamm im neuartigen Automatikfuß und ....stelle fest, dass der Stamm für dieses Modell zu dick ist.
Im Eiltempo wird das extra für Familienväter wie mich entwickelte Spezialgerät zum automatischen Anspitzen der Tannenbaumfüße in Betrieb gesetzt. Einige wenige geübte Handgriffe und schon ist der Stamm auf Normmaß gestutzt.
Jetzt wird der Baumsockel erneut angepasst, fest geschraubt, was leider nur auf die konventionelle mechanische Art erfolgen kann, und schon steht der Baum.
Vorsichtig richte ich ihn auf. Tatsächlich. Gerade, als hätte ich ihn mit dem Lot ausgerichtet.
Während ich mich meiner staunenden Familie zuwende, um die bewunderten Blicke für mein Tun abzuholen, neigt sich der Baum, zuerst ganz langsam, dann mit einem satten Rauschen zur Seite und fällt um. Anscheinend war das angespitzte Ende, dass im Tannenbaumfuß Halt finden sollte, doch etwas kurz.
So löse ich also wieder die Schrauben und säge vom wundervoll gewachsenen Baum einfach einige der unteren Zweige ab. Der nächste Versuch, den Fuß zu befestigen, erinnert mich allerdings daran, dass jetzt der von den Ästen befreite Stamm wiederum etwas zu dick ist.
Also nehme ich ihm etwas von seinem Durchmesser.
Der Fuß wird erneut angesetzt und, mühsam genug, festgeschraubt.
Inzwischen machen sich die Finger bemerkbar, die die restlichen 364 Tage des Jahres nur Bleistifte und Computertastaturen zum Gegner haben.
Nun steht der Baum. Felsenfest! Selbst eines der in unserer Region noch nie aufgetretenen Erdbeben würde ihn nicht aus seiner Position verdrängen können.
Ich bin stolz auf mich.
Wenn man das linke Knie ein wenig einknickt, dazu in der Hüfte noch ein wenig nachgibt und die Körperhaltung insgesamt nach links verlagert, passend dazu auch den Kopf neigt, so dass der ganze Körper eine Schräglage von etwas mehr als 20 Grad aufweist, und dann direkt auf den Baum sieht, steht er kerzengerade.
Auch in diesem Jahr gelingt es mir nicht, meine Familie zu überzeugen, dass eine wohlausgerichtete senkrechte Körperhaltung natürlich nicht synchron zum fest installierten Tannenbaum passt. Schon prasseln die ersten unangemessenen Kommentare und Anmerkungen meiner Familie auf mich ein. Wenn ich zuhören würde, würde ich sicher Wortfetzen wie „...nun geht es schon wieder los...“ vernehmen.
So bleibt mir nichts anderes übrig, als den Fuß wieder zu lösen, die Schräglage durch Entfernen eines weiteren Stückes des Stammes zu begradigen und dabei nicht zu vergessen, wiederum mehrere Lagen von jetzt wieder störenden Zweigen abzuschneiden.
Immerhin hat die gesamte Aktion den positiven Nebeneffekt, dass sich für Dekorationszwecke bereits ein stattlicher Haufen von Tannenzweigen angesammelt hat.
Nur haben wir in unserer Familie leider nicht so viele liebe Verblichene, dass wir mit der bereits angefallenen Menge an Tannengrün alle Gräber winterlich abdecken können.
So kämpfe ich mich Stück für Stück den Stamm des immer kürzer werdenden Tannenbaumes nach oben. Die Kommentare, Beschimpfungen und Drohungen meiner Familie werden immer professioneller. Spätestens zu diesem Zeitpunkt danke ich meinen Schwiegereltern inbrünstig für die gute Erziehung, die sie ihrer mir heute zur Ehefrau überlassenen Tochter haben zuteil werden lassen. So habe ich zumindest von dieser Seite über das Verbale hinausgehende Handgreiflichkeiten nicht zu erwarten.
Nachdem der Baum eine Größe erreicht hat, die es gestattet, ihn bequem auf einer Anrichte unterzubringen, ohne dass er die Zimmerdecke berührt, steht er auch zur Zufriedenheit aller relativ gerade.
Zum Ausrichten und Stabilisieren habe ich die drei Wandhaken sowie die Öse an der Zimmerdecke genutzt, an denen ich bereits in den Vorjahren die zur Verstrebung des Baumes erforderlichen Schnüre und Stricke befestigt hatte.
Tief atme ich durch. Jetzt habe ich einen Monat Ruhe, bevor die Angst vor dem nächsten Weihnachtsfest wieder elf Monate lang nach meinem Herzen greift.
Weihnachten steht wirklich nicht überraschend vor der Tür. Für mich ist eigentlich nur der Januar der Zeitraum im Jahr, in dem ich nicht an das höchste deutsche Familienfest denke.
Ab Februar beginnt es bereits – noch sehr zaghaft – im tiefsten Herzen zu grollen. Vorsichtig bereitet sich die Furcht aus, ich beginne schon mit den ersten Notizen auf kleinen Merkzetteln, die mir zum entscheidenden Zeitpunkt die Argumentation für meinen Standpunkt erleichtern sollen.
Diese Situation erfährt dann vorsichtige Steigerungen, bis sie im Hochsommer ein zeitweiliges Zwischenhoch erreicht hat und ich erste Vorgespräche mit meinem persönlichen Rechtsberater führe.
Diese elf Monate des Wartens, Bangens, Hoffens sind für mich ein Gräuel, das mich seit Jahrzehnten begleitet und dem ich bisher weder mit psychiatrischer Beratung noch mit geistlichen Beistand beikommen konnte.
Die letzten Monate vor dem Ereignis lassen mich missgelaunt die Welt betrachten, der Wille zur freudvollen Aufnahme kulinarischer Delikatessen ist darauf reduziert, nur das Überlebensnotwendige zu sich zu nehmen, die angeblich schönen Seiten des Lebens rauschen an mir vorbei, mein angstvolles Harren sieht nur diesem einen Tag entgegen, den ich elf Monate lang fürchte wie sonst nichts auf der Welt.
Irgendwann lässt es sich nicht mehr vermeiden:
Ich muss den Weihnachtsbaum aufstellen!
Natürlich ist in der Nacht zuvor nicht an Schlaf zu denken. Aufgeregt habe ich Wochen zuvor Heimwerkerzeitschriften studiert, einen passenden Kursus an der Volkshochschule besucht, wie jedes Jahr neues Elektrowerkzeug eingekauft. Freiwillig verzichtet ich morgens auf das Frühstück.
Dann stehen wir uns gegenüber. Der, so wird mir gesagt, wunderbarste, gerade gewachsene, schönste je in Mitteleuropa verkaufte Tannenbaum und ich.
Wir sehen uns tief in die Augen. Ich zeige dem Baum meine neue Elektrosäge, den patentierten Automatikfuß, der einen absolut senkrechten und geraden Halt garantiert, ich demonstriere dem grünen Edelgewächs mit einem Probelauf den neu auf dem Markt gekommenen automatischen, elektronisch gesteuerten Baumanspitzer. Ich drohe dem Grünling mit meiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit renitenten Weihnachtsbäumen. Es hilft nichts. Er bleibt unbeeindruckt.
Und hinter mir steht die Familie und knurrt mich an: Wird der Tannenbaum dieses Jahr gerade stehen? Da ist es. Der Schweiß bricht aus allen Poren heraus. Der alljährliche Kampf mit dem Weihnachtsbaum hat begonnen, an dessen Ende in jedem Jahr das Familiendrama steht, dessen Bandbreite von der relativ harmlosen Drohung, sofort und noch vor den Festtagen die Scheidung einzureichen bis hin zum angekündigten Gattenmord reicht.
Elf Monate Angst vor diesem Augenblick brechen mit Urgewalt aus meiner Seele.
Ich ziehe mir also die festen Arbeitshandschuhe an, setzte die Tauchermaske auf und schütze meinen Restkörper hinter dem Schweißerschutzanzug, um mich vor den bösartigen Nadeln meines Erzfeindes, des jährlichen Tannenbaumes zu schützen.
Behände und mit der langjährigen Erfahrung vergangenen Dramen befestige ich den Stamm im neuartigen Automatikfuß und ....stelle fest, dass der Stamm für dieses Modell zu dick ist.
Im Eiltempo wird das extra für Familienväter wie mich entwickelte Spezialgerät zum automatischen Anspitzen der Tannenbaumfüße in Betrieb gesetzt. Einige wenige geübte Handgriffe und schon ist der Stamm auf Normmaß gestutzt.
Jetzt wird der Baumsockel erneut angepasst, fest geschraubt, was leider nur auf die konventionelle mechanische Art erfolgen kann, und schon steht der Baum.
Vorsichtig richte ich ihn auf. Tatsächlich. Gerade, als hätte ich ihn mit dem Lot ausgerichtet.
Während ich mich meiner staunenden Familie zuwende, um die bewunderten Blicke für mein Tun abzuholen, neigt sich der Baum, zuerst ganz langsam, dann mit einem satten Rauschen zur Seite und fällt um. Anscheinend war das angespitzte Ende, dass im Tannenbaumfuß Halt finden sollte, doch etwas kurz.
So löse ich also wieder die Schrauben und säge vom wundervoll gewachsenen Baum einfach einige der unteren Zweige ab. Der nächste Versuch, den Fuß zu befestigen, erinnert mich allerdings daran, dass jetzt der von den Ästen befreite Stamm wiederum etwas zu dick ist.
Also nehme ich ihm etwas von seinem Durchmesser.
Der Fuß wird erneut angesetzt und, mühsam genug, festgeschraubt.
Inzwischen machen sich die Finger bemerkbar, die die restlichen 364 Tage des Jahres nur Bleistifte und Computertastaturen zum Gegner haben.
Nun steht der Baum. Felsenfest! Selbst eines der in unserer Region noch nie aufgetretenen Erdbeben würde ihn nicht aus seiner Position verdrängen können.
Ich bin stolz auf mich.
Wenn man das linke Knie ein wenig einknickt, dazu in der Hüfte noch ein wenig nachgibt und die Körperhaltung insgesamt nach links verlagert, passend dazu auch den Kopf neigt, so dass der ganze Körper eine Schräglage von etwas mehr als 20 Grad aufweist, und dann direkt auf den Baum sieht, steht er kerzengerade.
Auch in diesem Jahr gelingt es mir nicht, meine Familie zu überzeugen, dass eine wohlausgerichtete senkrechte Körperhaltung natürlich nicht synchron zum fest installierten Tannenbaum passt. Schon prasseln die ersten unangemessenen Kommentare und Anmerkungen meiner Familie auf mich ein. Wenn ich zuhören würde, würde ich sicher Wortfetzen wie „...nun geht es schon wieder los...“ vernehmen.
So bleibt mir nichts anderes übrig, als den Fuß wieder zu lösen, die Schräglage durch Entfernen eines weiteren Stückes des Stammes zu begradigen und dabei nicht zu vergessen, wiederum mehrere Lagen von jetzt wieder störenden Zweigen abzuschneiden.
Immerhin hat die gesamte Aktion den positiven Nebeneffekt, dass sich für Dekorationszwecke bereits ein stattlicher Haufen von Tannenzweigen angesammelt hat.
Nur haben wir in unserer Familie leider nicht so viele liebe Verblichene, dass wir mit der bereits angefallenen Menge an Tannengrün alle Gräber winterlich abdecken können.
So kämpfe ich mich Stück für Stück den Stamm des immer kürzer werdenden Tannenbaumes nach oben. Die Kommentare, Beschimpfungen und Drohungen meiner Familie werden immer professioneller. Spätestens zu diesem Zeitpunkt danke ich meinen Schwiegereltern inbrünstig für die gute Erziehung, die sie ihrer mir heute zur Ehefrau überlassenen Tochter haben zuteil werden lassen. So habe ich zumindest von dieser Seite über das Verbale hinausgehende Handgreiflichkeiten nicht zu erwarten.
Nachdem der Baum eine Größe erreicht hat, die es gestattet, ihn bequem auf einer Anrichte unterzubringen, ohne dass er die Zimmerdecke berührt, steht er auch zur Zufriedenheit aller relativ gerade.
Zum Ausrichten und Stabilisieren habe ich die drei Wandhaken sowie die Öse an der Zimmerdecke genutzt, an denen ich bereits in den Vorjahren die zur Verstrebung des Baumes erforderlichen Schnüre und Stricke befestigt hatte.
Tief atme ich durch. Jetzt habe ich einen Monat Ruhe, bevor die Angst vor dem nächsten Weihnachtsfest wieder elf Monate lang nach meinem Herzen greift.