Gruppentherapie

Eine unerträgliche Stille herrschte im Raum. Die Therapeutin ließ ihre Augen aufmerksam über jedes Gesicht der sieben Patienten schweifen. Einige sahen durch das Fenster dem Treiben der grauen Wolken zu. Andere fixierten einen Punkt an den kahlen Wänden des Raumes oder stierten auf den graublauen Teppich.
Antje wippte mit ihren Beinen auf und nieder.
„Bist du nervös?“ fragte Helga gereizt.
„Ja“, meinte sie schuldbewußt und konzentrierte sich krampfhaft darauf, die Beine stillzuhalten.
Die Therapeutin legte ihren Kopf schief und sah Antje mit ihren großen Augen an: „Vielleicht sollte das eine Aufforderung sein.“
„Aufforderung?“ Antje schluckte. „... Zum Reden?!“
Die Therapeutin lächelte ermutigend. Erwartungsvoll richteten sich alle Augenpaare auf Antje. Sinnend betrachtete sie ihre Füße. ‚Oh Gott! Was soll ich denn sagen? Wo soll ich anfangen? Wie sie mich alle anstarren!‘
„Hat Ihre Nervosität mit den Gedanken um ein Familiengespräch zu tun?“ half die Therapeutin.
„Ja.“ Sie seufzte. „Ich weiß nicht, ob es besser wäre, erst mit meiner Mutter allein zu sprechen oder gleich mit beiden Eltern.“ Sie atmete tief durch, denn schon jetzt standen Tränen startbereit.
‚Wird ja Zeit! Sieben Wochen bist du in der Klinik und wir wissen überhaupt nichts von dir!‘ dachte Helga.
„Ich glaube, mein Vater weiß nicht, was damals vorgefallen ist ...“ Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mitfühlend sahen alle dem inneren Kampf zu. Jana reichte ihr ein Taschentuch.
„Ich war ungefähr elf ... allein zu Hause. Mein Opa kam zu Besuch. ... Er war betrunken. ... Ich ging in mein Zimmer ... Er kam hinterher. ... Er hat mich ... er hat mich geküßt und ... Also er hat ... er hat mich sexuell mißbraucht.“
Jana sah, wie Antje am ganzen Körper zitterte.
‚Und ich bin traurig, daß mich noch nie ein Mann angefaßt hat – dann lieber gar nicht wie so!‘
Eva knetete unruhig ein Taschentuch in ihren Händen.
Emira wechselte unruhig von einer Sitzposition in die andere. „Ich finde das heftig!“ platzte sie heraus. „Das ist sowas von heftig! Dem Wixer sollte man das Ding abschneiden!“
Antje versuchte ihr Zittern und die Tränen in den Griff zu bekommen. „Das ... das war nicht das Schlimmste. ... Schlimmer war die Reaktion meiner Mutter. ... Ich weiß nicht, was ich ihr sagte. ... Sie erzählte mir, daß mein Opa nicht mein richtiger ... nicht mein leiblicher Opa sei ... Meine Oma wurde vergewaltigt ... meine Mutter ist das Produkt davon. ... Und ich soll aufpassen, was ich anziehe, wenn wir mit den Großeltern zusammen sind ...“ Tränen ersticken ihre Stimme. Unsicher sah sie hoch in das betroffene Schweigen hinein. Viktor, der sonst keine Gefühle an sich heranließ, hatte Tränen in den Augen. Sülo sah man die innere Spannung an, wütend zuckten seine Hände und Augenlider.
„Wie fühlen Sie sich jetzt?“ fragte die Therapeutin.
„Unsicher – es sagt keiner was“, erwiderte Antje.
„Also mich macht das wütend!“ meinte Viktor. „Ich als Vater würde den Opa einen Kopf kürzer machen!“
„Ich habe Angst, wenn mein Vater davon erfährt, ... daß meine Eltern sich streiten und scheiden lassen. Die ganze Familie entzweit sich vielleicht und ich bin dran Schuld!“
„Quatsch!“ entfuhr es Sülo.
„Das ist doch nicht deine Schuld! Schließlich wurde dir das angetan. Dein Opa ist Schuld, nicht du!“, meinte Jana.
„Das wirbelt so viel Staub auf – nach so langer Zeit. Meine Mutter hat es doch nur gut gemeint. Sie ...“
„Deine Mutter hat dich im Stich gelassen!“ rief Helga.
„Er hatte keinerlei Recht, dir soetwas anzutun! Dafür gibt es keine Entschuldigung oder Rechtfertigung!“ sagte Sülo.
„Ihre Mutter hat Ihr Erlebnis mit etwas noch Schlimmeren weggewischt.“, erklärte die Therapeutin.
Antje weinte stumm.
Die Therapeutin sah auf die Uhr. „Ich muß das Gespräch hier leider beenden.“
Ganz benommen erhoben sich alle und trotteten in Richtung Raucherraum. Die Therapeutin wandte sich noch einmal zu Antje: „Bitte melden Sie sich bei den Schwestern oder mir, wenn Sie jemanden brauchen.“ Antje nickte und verschwand völlig erschöpft für den Rest des Tages in ihrem Zimmer.
 
M

margot

Gast
ich bin mir unsicher

ganz toll geschildert, als hättest du es
selbst erlebt. ich hasse therapeuten(innen)
und gruppentherapien. das dumme ist: warum
brauchen wir diese therapien? zwingt uns
jemand? oder sind sie aufdoktrinierte seelen-
arzneien? ich kenne diese scheiße aus der
perspektive eines alkoholikers. ich traf noch
nie jemanden, dem diese form der gehirnwäsche half.
allerdings ist die gruppe für viele der letzte
angelpunkt, um sich mit seinen erlebnissen
halten zu können. das ist fatal.
wichtiger empfinde ich einzelgespräche, wenn
es um solch intime tatsachen geht. leider fühlt man
sich hinterher wie ein ausgewrungener, alter wasch-
lappen. die sogenannte anteilnahme der gruppenteil-
nehmer ist beschissen dämlich. am liebsten würde
ich die therapeutin in der luft zerrupfen.
angeblich gehört das alles zur therapie. und nach-
dem man sich ordentlich selbst belügen kann, wird man als geheilt entlassen.

danke für deinen guten text

margot
 



 
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