Heimfried - eine Mordsgeschichte

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rotkehlchen

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Glauben Sie mir, Herr Kommissar, das alles wäre nicht passiert, wenn ich weniger auf meinen Mann und mehr auf mein Bauchgefühl gehört hätte. Hätte, hätte, Senfbulette – hat aber nicht sollen sein, und hinterher ist man immer schlauer.
Es fing damit an, dass wir eine Radtour durchs Weserbergland planten. Heimfried meinte, mein alter Drahtesel – eine Hinterlassenschaft meiner Mutter, an der ich sehr hänge – sei nicht mehr mittelgebirgstauglich. Bei dem ständigen Auf und Ab in dieser Gegend, vor allem beim Ab, müsse man sich auf die Bremsen verlassen können, und überhaupt, mit solch einem Fahrrad mache ich mich doch lächerlich. Gut, ich gebe gerne zu, sehr up to date ist der alte Drahtesel tatsächlich nicht. Außer der Rücktrittbremse besitzt er noch eine dieser altertümlichen Vorderradbremsen; man zieht einen Hebel an, ein Gummistempel drückt auf den Mantel des Vorderrades – ziemlich steinzeitlich, diese Bremstechnik, und eine Gangschaltung hat er auch nicht. Na ja, Hand aufs Herz, zum Brötchen holen reicht es, aber für eine ausgedehnte Radtour, und dann noch im Bergland? Da musste ich meinem Mann Recht geben. Trotzdem, als der Verkäufer seinen Sermon abließ, überkam mich das dringende Gefühl, dass das neue Fahrrad nicht die rechte Wahl war, und dass irgend etwas schief laufen würde – und ich täuschte mich nicht, es lief etwas schief. Nun, wir kauften das teure Tourenrad – eine Beschreibung erübrigt sich.
Das Unglück geschah hinter einer abschüssigen Kurve. Das Reh wechselte hart vor mir die Straßenseite, ich trat und zog reflexartig alle drei Bremsen, das Rad stand – ich erinnere mich noch an eine große Kraft, die mich aus dem Sattel katapultierte, an eine schwarz-glänzende Fläche, die in rasender Eile auf mich zukam; ein gewaltiger Schlag ins Gesicht – dann war Funkstille. Als ich die Augen wieder aufschlug und den weißen Knubbel sah, der mal meine Nase gewesen war, dachte ich: Scheiße, scheiße, scheiße. Ein bebrillter Glatzkopf in einem grünen Kittel beugte sich über mich und sprach seltsame Worte, nämlich: „Ihre Nase bekommen wir wieder hin, aber auf Ihrer Stirn werden Narben zurückbleiben.“
Heimfried saß daneben und vernahm die Botschaft schweigend und mit unbewegtem Gesicht, offensichtlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn ich damals schon gewusst hätte, was ich heute weiß, wäre mir nie in den Sinn gekommen, in seiner starren Miene die stumme Erschütterung über den tragischen Unfall zu sehen. Nein, es war keine Erschütterung und kein Entsetzen, was in seinen Augen wetterleuchtete, es waren die ersten Überlegungen, wie er mich wieder loswerden könnte, da bin ich mir sicher.

*
Und ich sollte mich nicht täuschen.
Zunächst fing alles ganz harmlos an, wie häufig in solchen Fällen; der Gedanke, dass Heimfried eine perfide Strategie ausbrütete, lag mir so fern wie nur irgendetwas.
Es war während der Hitzewelle mit dieser widerlichen Wespenplage.
Trotzdem bestand Heimfried an einem brüllend heißen Sonntagmorgen darauf, das Frühstück draußen auf der Terrasse einzunehmen. Also deckte ich draußen; Butter, Wurst, Marmelade, alles mit Insektenschutzkuppeln versehen. Wir setzten uns zu Tisch, er legte die Butter frei – und schon waren die ersten Wespen da. Ich habe nie begriffen, wie ihr Nachrichtensystem funktioniert, auf jeden Fall effektiver als unseres auf dem Lande, Funklöcher scheinen diese Biester nicht zu kennen. Heimfried nahm eine Gabel – und titsch! eine Wespe steckte in der Butter, und titsch! noch eine und titsch! eine weitere. Es war ekelhaft. Die Tiere versuchten verzweifelt frei zu kommen, sie krümmten und bogen sich, ich sah, wie sie in ihrer Not den Stachel ausfuhren und ins Leere stachen. Ich war so perplex, dass ich zunächst kein Wort hervorbrachte. Als ich mich wieder gefasst hatte (da sah die Butter bereits aus wie ein gelber Igel), sagte ich: „Lass das, Heimfried, das ist ja ekelhaft!“ Er daraufhin: „Wieso ekelhaft? Mir macht es Spaß.“
Wie schon gesagt, noch dachte ich an nichts Böses. Heimfried ist dreizehn Jahre älter als ich, und trotzdem wirkt er manchmal wie ein großer Junge, der noch nicht richtig erwachsen ist: Immer den Schalk im Nacken, immer einen halbgaren Spruch auf den Lippen, immer einem Schabernack auf den Fersen, (und das, wo er einen dicken Posten bei einer Großbank bekleidet, irgendwie bizarr, diese Vorstellung). Als ich ihn einmal darauf ansprach, lachte er und sagte, ein Mann, der sich nicht manchmal wie ein Lausejunge benimmt, sei kein rechter Kerl (auch einer seiner Sprüche). Sie werden lachen, Verehrtester, aber dieser Unernst war übrigens ein Grund, warum ich ihn überhaupt geheiratet habe, vielleicht sogar d e r Grund – obwohl ich wusste, dass ich mit ihm wegen des Altersunterschieds auf Risiko ging. Der Mann meiner Freundin Moni ist zehn Jahre älter als sie, mittlerweile dreiundachtzig und seit sechs Jahren ein Pflegefall, und Moni, der ich nichts Böses nachsagen will und die immer noch fast so fit wie ein Turnschuh ist, wartet und wartet und wartet... War mir damals, als Heimfried um meine Hand anhielt, ehrlich gesagt völlig schnuppe. Ich habe lange genug unter einem erwachsenen Voll-Mann gelitten, der keine halbgaren Sprüche von sich gab, dafür aber umso mehr vollmundige Ermahnungen, nämlich unter meinem Herrn Vater, der manchmal wirkte, als sei er nie jung gewesen, und da war Heimfried ein erfrischender Gegenentwurf, trotz des Altersunterschiedes.
Als Heimfried am nächsten Morgen damit anfing, die Wespen in der Marmelade zu versenken, machte ich gute Miene zu bösem Spiel, ergriff einen Löffel und schlug mutig zwei Wespen in die Butter. Er blickte mich verblüfft an, seine Augen waren zwei schmale Schlitze, dann grunzte er etwas, das ich nicht verstand, und hörte mit dem Wespenversenken auf. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ihm ohne großes Getöse den Wind aus den Segeln nehmen würde. Am nächsten Morgen, die Hitze war geradezu mörderisch, interessierten ihn die Wespen nicht mehr. Schon dachte ich erleichtert, na siehst du wohl, Gisela, das war die richtige Reaktion, jetzt ist´s ausgestanden – war´s aber nicht, denn anderntags holte Heimfried zum nächsten Streich aus, und der war nun überhaupt nicht mehr lustig, sondern eine ausgewachsene Flegelei. Er krümmte nämlich den Zeigefinger und schnippte mir, als ich gerade ein Mettbrötchen in den Mund schieben wollte, eine Wespe, die auf dem Deckel des Marmeladenglases herumkrabbelte, genau mitten ins Gesicht. Ich knallte wütend das Mettbrötchen auf den Teller, sprang auf und schrie: „Heimfried, bist du wahnsinnig geworden? Was soll das?“ Er darauf: „Reg dich nicht auf, war nicht so gemeint!“ Ich: „Wie war es dann gemeint?“ Er blickte betreten vor sich hin und schwieg.
Der Appetit war mir gründlich vergangen; ich ließ ihn einfach sitzen und ging in die Küche. Während ich das Geschirr vom Vortag abwusch, setzte sich in meinem heißen Kopf ein Gedanke fest, der umso schwärzer wurde, je mehr ich versuchte, ihn abzuschütteln: Sollte tatsächlich – nein, das durfte, das konnte nicht wahr sein, es wäre zu grausam und würde überhaupt nicht zu dem Mann passen, mit dem ich gefühlt eine kleine Ewigkeit friedlich verheiratet war und den ich halbwegs zu kennen meinte! Und doch – jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Heimfrieds seltsames Verhalten datierte seit dem Tag, an dem ich aus dem Krankenhaus zurück war – nein früher, als der Arzt seinen Spruch gefällt hatte! Seitdem hatte er mich nicht mehr richtig angesehen, und wenn, dann nur mit zusammengekniffenen Augen, wie vorhin, und auch die langstielige rote Rose, die er mir vorher pünktlich zum Wochenende überreichte, war ausgeblieben. Ich hatte ihn nicht darauf angesprochen, warum auch, mein Gott, nach so vielen Ehejahren verläuft so manches im Sande, wie man so sagt, und auf eine fadenscheinige Ausrede war ich nicht erpicht. Ich nahm zu seinen Gunsten und meiner Beruhigung Arbeitsüberlastung an und schwieg.
Doch jetzt ahnte ich die Wahrheit! Meine Stirn war immer noch die reinste Kraterlandschaft, die ich auch nicht wegschminken konnte, und dieser Anblick war ihm anscheinend unerträglich.
Ich fühlte, wie mir die Knie weich wurden und musste mich setzen.
Verzeihen Sie, wenn ich meinen Bericht hier unterbreche, aber ich muss ein paar Kleinigkeiten mitteilen, die zum Verständnis des absurden Theaters, das jetzt begann, unbedingt notwendig sind.
Zunächst: Ich bin Heimfrieds zweite Frau.Von der ersten hatte er sich damals nach seinem Karrieresprung, als er in den Vorstand der Bank aufrückte, getrennt. Er gab mir gegenüber offen zu, sie sei ihm nicht mehr repräsentativ genug gewesen, er brauchte eine Begleiterin an seiner Seite, die mit den anderen Damen des Vorstandes konkurrieren könne, schließlich stehe er ab jetzt nicht nur unter der Beobachtung der Finanzwelt, sondern auch der Regenbogenpresse –
Sie zucken zusammen, junger Mann, warum? Mein Gott, in welcher Welt leben Sie eigentlich? Er hat, so weit ich weiß, seine Ex anständig versorgt, hat seine Beziehungsmuskeln spielen lassen und ihr einen guten Posten bei einer anderen Bank zugeschoben, und es sieht nicht so aus, als sei sie in ihrer neuen Beziehung besonders unglücklich, immerhin hält sie noch, und es sind zwei Kinder da (seine erste Ehe blieb übrigens kinderlos). Also, was wollen Sie? Außerdem, wie viele Frauen verlassen ihre Männer, weil sie ihre Erwartungen, was Geld und Glamour betrifft, nicht erfüllen? Schlagen Sie ein x-beliebiges Journal auf, und schon haben Sie mindestens eine von der Sorte. Und: Sind wir nun gleichberechtigt oder nicht? Na also! Hach, die Lie-bö! Nun werden Sie nicht albern! Liebe ist Opium fürs Volk, aber nichts für Frauen, die nach ganz oben wollen! Oder wie erklären Sie sich die Tatsache, dass große, blendend aussehende Frauen mit kleinen, mickerigen Präsidenten, die auf Podesten stehen müssen, weil man sie sonst übersieht, den Bund der Ehe eingehen?
Okay, okay, ich weiß, es gehört nicht zum Thema, aber es musste mal raus. Entschuldigen Sie. So, nun zurück zu Heimfried und mir. Es war keine Liebesheirat, aber auch keine Notehe wie bei meiner Schwester Paula, es war eine Abmachung zu gegenseitigem Nutzen, also ein Win-Win-Projekt, wie man heute sagen würde. Aus dem Himmel-Hoch-Jauchzen-Zu Tode-Betrübt-Sein der Jugend waren mir schon lange herausgealtert. Heimfried bekam mich, die zweifache Weinkönigin mit der blendenden Erscheinung und der makellosen Haut, die zu seinem piekfeinen Posten passte, ich bekam einen gut aussehenden, erfolgreichen Mann, der sich diametral von meinem Vater unterschied. Wo war das Problem?

Ich blickte aus dem Küchenfenster. Heimfried saß da, über den Tisch gebeugt, und studierte sein Wirtschaftsjournal oder das Börsenblatt, was weiß ich. Die Brille hatte er, wie immer beim Zeitungslesen, auf die Nasenspitze geschoben.
Mich überkam eine unendliche Niedergeschlagenheit. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass er im Grunde ein Glücksgriff gewesen war, wie man ihn nicht alle Tage macht: Immer nobel, mit vorzüglichen Umgangsformen, anderen Frauen, auch weniger gut aussehenden, ein Kavalier. Ich erinnere mich noch genau an die Sekunden, als ich ihm auf unserer Hochzeitsfeier meine Schwester vorstellte. Er zuckte leicht zusammen, dann beugte er sich vor und gab ihr einen gekonnten Handkuss. Hinterher gestand er mir, dieser Gunstbeweis habe ihm unendliche Überwindung gekostet, denn er verabscheue nun mal dicke fette Frauen mit ungepflegten Haaren, die nach Achselschweiß riechen. Ja, das war Heimfried.
Und jetzt das!
Ob er fremdgegangen ist? Hey, was Sie alles wissen wollen! Fragen Sie mich was Leichteres! Ich hab ihn nie gefragt, und er hat nie etwas gesagt. Wie? Doch, da bin ich mir sicher, er hätte es mir gebeichtet, und ich hätte ihm verziehen! Was gucken Sie so? Wollen Sie meine Meinung zu diesem Thema hören? Schlimm ist nicht der Seitensprung, sondern das anschließende Theater, das in der Regel deswegen gemacht wird. Ich sag Ihnen was – wird in Ihren Ohren wahrscheinlich wie Gotteslästerung klingen – ein Alpha-Tier will seinen Samen möglichst breit streuen, das hat die Natur nicht ohne Grund so eingerichtet. Wenn eine Frau ein Alpha-Männchen heiratet, muss sie damit leben können, sonst sollte sich sich möglichst schnell von ihm trennen und eine Etage tiefer greifen. Und Heimfried war ein Alpha-Tier, das können Sie mir unbesehen abnehmen, ein Tiger in seinem Beruf, und in meinem Bett ein Hengst! – Ähem, mein Lieber, wie sieh´s eigentlich bei Ihnen aus? Schon mal in ein fremdes Gärtchen gehopst? Ach, Sie sind – gut, gut, steht hier ja auch nicht zur Debatte.
So. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gerne vor die Tür gehen und eine rauchen. Okay, die Firma dankt.

*
Können Sie sich jetzt vorstellen, warum ich so verwirrt war, als mir Heimfried aus heiterem Himmel die Wespe ins Gesicht schnippte? Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Dass es nicht aus Versehen geschehen war, hatte er ja selbst zugegeben indem er sagte: „Es war nicht so gemeint!“ Und darauf können Sie Gift nehmen, Heimfried hat noch nie etwas aus Versehen getan, zumindest nicht, solange ich mit ihm zusammen war. Jetzt dämmerte mir, wie es gemeint war: Er verabscheute mein Gesicht! Jetzt ahnte ich, was mir all die Jahre verborgen geblieben war: Mein Mann hatte keine Frau geheiratet, sondern ein Gesicht, das perfekte, makellose, heitere, sorgenfreie Gesicht einer schönen Weinkönigin, mit dem er 'repräsentieren' konnte. Diese manchmal übertriebene Fürsorge, die er mir in all den Jahren angedeihen ließ, dieses mein Täubchen hier, mein Turtelchen da, diese Überversorgung mit Geld und Personal, das alles hatte nur den einzigen Zweck, mein Gesicht möglichst lange und auf natürlichem Wege faltenfrei zu halten, ohne aufwändige Hilfsmaßnahmen, die hatte er kategorisch abgelehnt, erlaubt war höchstens ein leichtes Peeling. Plötzlich verstand ich auch seinen Ausspruch, den er einmal tat, als er mich in meinem Bodoir besuchte (was allerdings nur gelegentlich vorkam): „Übertreib es nicht, mein Täubchen, ich habe das Original geheiratet, nicht die Kopie.“
Allerdings muss ich zugeben, dass die Narben damals noch deutlicher zu erkennen waren als jetzt; von den seelischen Verwerfungen, die dieser Befund bei mir anrichtete, rede ich nicht, nur so viel: Der makellose Spiegel war für immer zerbrochen. Der Doktor hatte gesagt, bei entsprechender Pflege sehen Sie nach einem halben Jahr so gut wie nichts mehr. Der Idiot! So gut wie nichts! Ja, aus zehn Meter Entfernung, aber nicht vor dem Toilettenspiegel, und schon gar nicht beim abendlichen Tete à Tete! Ich sagte Heimfried, wenn er in ein halbwegs narbenfreies Gesicht sehen wolle, müsse ich mich stark schminken oder die Haare über die Stirn frisieren, aber er polterte nur: „Hab ich ein Bild mit Vorhang gekauft?“, stand auf und ging weg.
Jetzt war es heraus: Er hatte mich als makellose Ware eingekauft, und nun, wo die Ware nicht mehr einwandfrei war, wollte er sie wieder abstoßen. Und ich Idiotin hatte mir eingebildet, er meinte mich! Dumm nur, dass an dem Gesicht eine selbstbewusste Frau hing, die er nicht so leicht los werden konnte, auf jeden Fall nicht zum Nulltarif.
Um über die neue Situation in Ruhe nachzudenken, legte ich den Hund an die Leine und ging spazieren. Die Bewegung an der frischen Luft beruhigte mich allmählich, und die Lage nahm klarere Konturen an. Zweifelsohne hatte ich mich in Heimfried getäuscht. Hinter dem Biedermann verbarg sich ein anderer, unbekannter Mann, ein Egomane, ein Macho, ein Mensch des schönen Scheins, der möglicherweise noch dazu in dubiose Machenschaften verwickelt war, denn er kam neuerdings immer später nach Hause und brachte noch Berge von Akten mit. Jetzt rächte es sich, dass ich mich um nichts gekümmert hatte, was seine Arbeit betraf, gut, Spucke drauf, er hatte es mir einmal, als ich entsprechende Fragen stellte, regelrecht verboten. Aber irgendetwas wisperte jetzt in meinem Oberstübchen, irgend ein widerwärtiger Whistleblower zeterte von einer unsauberen Sache – ja natürlich, schoss es mir durch den Kopf, die Cum-Ex-Geschäfte! Und seine Bank war in den Skandal – Sie wissen Bescheid? Okay. Auf jeden Fall ein gefundenes Fressen für die Medien, und Heimfried mitten drin! Das Raubtier Publikum wartete gespannt auf den ersten rollenden Kopf – auf seinen Kopf!
Ich kehrte auf der Stelle um.
Heimfried saß in seinem Arbeitszimmer und wühlte in irgendwelchen Papieren herum.
„Sitzt dir der Staatsanwalt im Nacken?“, rief ich, kaum im Raum.
Er blickte erstaunt auf. „Wie kommst du denn darauf?“
Ich: „Rede nicht um den heißen Brei herum! Ja oder nein?“
Er, nach einigem Zögern: „Ja.“
Ich: „Könnte es gefährlich für dich werden?“
Er, unsicher: „Woher soll ich das wissen? Auf hoher See und vor Gericht sind wir alle in Gottes Hand.“
Meine Geduld war jetzt am Ende. Ich brüllte: „Hör mit diesem hirnverbrannten Schwachsinn auf! Könnte es, oder könnte es nicht?“
Er blickte mich an, als sähe er mich zum ersten Mal. „Ich habe mich natürlich abgesichert. Aber man weiß ja nie. In meiner Position hat man viele Neider. Manche würden mich am liebsten in der Hölle sehen.“
Plötzlich sprang er auf, kam auf mich zu und umarmte mich. „Gisela, verzeih“, stammelte er, „es war nicht so gemeint! Du bist jetzt meine einzige Stütze!“
Es war nicht zu überhören: Der Mann hatte Angst. Ich streichelte ihm den Nacken und murmelte: „Keine Angst, mein Freund, wir stehen das durch!“ Nicht sehr geistreich, der Spruch, aber für den Moment genügte er, Heimfried wirkte sichtlich ruhiger.
Oh, ich dumme Kuh!
Statt klaren Menschenverstand walten zu lassen und ihm die kalte Schulter zu zeigen, war ich Opfer meines Bemutterungstriebes, meines Helfersyndroms geworden! Da stand der große Junge, er war in Schwierigkeiten, er brauchte Hilfe, und schon war mein Verstand im Arsch! Ich könnte mich jetzt noch ohrfeigen... Anstatt hellhörig zu werden, verfing ich mich in dem Wahn, es könnte wieder so werden wie früher! Dieses: Es war nicht so gemeint! hätte mich warnen müssen. Hätte, hätte, Senfbulette – hinterher ist man immer schlauer.
Doch zunächst sah es tatsächlich so aus, als könnten die alten Zeiten wiederkehren, denn trotz der Spuren, die Zeit und Unfall hinterlassen hatten, war mein Gesicht immer noch eine Ohrfeige ins Gesicht der meisten anderen Frauen. Ein Casting als Modell für eine Hutmodezeitschrift für ältere Damen hätte ich immer noch glänzend bestanden, da bin ich mir sicher, und Heimfeld hatte jetzt andere Sorgen, als nach Feierabend die Runzeln in meinem Gesicht zu zählen, außerdem wäre er jetzt dazu wohl zu müde gewesen. Er kam häufig erst nach Mitternacht aus der Bank zurück, wenn ich schon im Bett lag. Allerdings sah er mich jetzt kaum noch an; und wenn, dann glitt sein Blick hinunter auf meine Mund- und Kinnpartie, denn die hatte wie durch ein Wunder den Unfall fast unversehrt überstanden. Unnötig zu sagen, dass mich dieses Verhalten verletzte, aber ich wollte jetzt kein Öl ins Feuer gießen und sagte nichts.
Da platzte Heimfried eines Nachts mit der Nachricht in mein Schlafzimmer, die Gefahr sei so gut wie überstanden; er sei zwar noch nicht vollständig raus aus der Sache, aber es werde für ihn wahrscheinlich glimpflich ausgehen, denn er gehöre nicht mehr zu den Hauptbeschuldigten. „So!“, rief er, „darauf trinken wir erst mal einen!“ Seine Stimme klang froh und heiter wie die eines jungen Mannes nach der ersten gelungenen Liebesnacht.
Als der den fünften Whisky kippte, sah er mich mit glasigen Augen an. In seinem Blick lag ein seltsam kalter Schimmer. Wir gingen zu Bett, er legte sich neben mich; doch ehe es zu Handgreiflichkeiten kam, war er eingeschlafen.

*
Am frühen Morgen wachte ich durch ein eigenartiges Geräusch auf, das sich wie rieselndes Wasser anhörte. Ich schlug die Augen auf und erblickte Heimfried – er hatte die Badezimmertür offengelassen (damals vermutete ich noch aus Nachlässigkeit) – wie er ins Waschbecken pinkelte. Im Spiegel des Wandschranks konnte ich sein Gesicht sehen, es sah über die Maßen einfältig aus. Ich kann ja verstehen, dass das Abschlagen der letzten Tropfen für einen Mann eine ernsthafte Angelegenheit ist, die keinen Raum für tiefschürfende Gedanken lässt, aber dass man dabei wie ein Idiot aussehen muss war mir neu. In diesem Moment kam mir der ganze Kerl gewöhnlich, ja widerwärtig vor. Unsere Augen trafen sich; ich drehte mich um und tat so, als habe ich nichts gesehen.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Ich haben nichts gegen Urin, auch nicht gegen Männerurin. Im Urin steckt Heilkraft; als kein Mittel mehr half, erlöste mich meine Mutter – ich war damals sechs oder sieben – mit Eigenurin von der Mundfäule. Und es gibt genug Putzmittel von durchschlagender Wirkung. Als Heimfried aus dem Badezimme raus war, stand ich auf, nahm eine Flasche Scheuersand, wienerte sein Waschbecken (jeder hat ein eigenes) gründlich ab und spülte reichlich nach. Ich dachte: Besser, er pinkelt ins Waschbecken als stehend ins Klo, denn da spritzt es noch mehr.
Am nächsten Morgen war ich schon wach, als Heimfried aufstand, ins Badezimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Ich hörte die Klospülung, dann die Dusche.
Erleichtert atmete ich auf. Es war wohl gestern nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen, dachte ich, gedankenlose Bequemlichkeit, man weiß ja, dass Männer manchmal mit allem Möglichen denken, nur nicht mit dem Verstand.
Freudig deckte ich den Frühstückstisch. Das Frühstück verlief stumm, Heimfried hinter seiner Zeitung, ich hinter der Kaffeekanne, also wie meistens in der letzten Zeit. Irritierend war allerdings, dass er mehrmals die Zeitung sinken ließ und mir in einer provozierend schadenfrohen Weise auf die Stirn starrte, auf diese arme Stirn, die jetzt, schauen Sie, immer noch nicht vollständig verheilt ist.
Heimfried verließ das Haus, ich ging nach oben, denn die Putzfrau musste jeden Moment kommen und ich wollte kein Risiko eingehen. Als ich mich dem Becken näherte, sah ich die Bescherung: Heimfried hatte nicht nur ins Becken, sondern auch an die Wand dahinter gepinkelt, Wand und Armaturen waren tropfnass, und das Badezimmer roch stark nach Morgenurin. Mein erster Gedanke: Dies war kein hirnloser Streich, das war eine scharf kalkulierte Provokation! Mein zweiter: Noch einmal, und ich packe!
Ich setzte mich auf den Wannenrand. Meine Überzeugung, ich habe mir im Laufe der Jahre ein Anrecht auf ein harmonisches und friedliches Zusammensein erworben, schmolz dahin Aprilschnee in der Mittagssonne. Und doch... noch wollte ich nicht aufgeben, denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Am Abend wollte ich ihn zur Rede stellen, aber er war schon zu. „Was willst du“, brüllte er mich an, „ich bin bekennender Stehpinkler!“ Verdutzt fragte ich: „Seit wann?“ Er: „Seit vorgestern Morgen!“ Entweder hatte ihm der Druck den Verstand geraubt, oder er legte es darauf an, mich aus dem Haus zu treiben.
„Willst du die Scheidung?“, fragte ich, um Fassung bemüht.
Er, triefend von Hohn: „Das könnte dir so passen! Auch noch mit meinem Geld abhauen!“ Das war natürlich blanker Unsinn, denn bei einer Scheidung würde ich den Kürzeren ziehen. Er knallte die Tür zu und stiefelte in sein Arbeitszimmer hoch.
Fragen Sie mich nicht, wie ich die Nacht verbrachte. Ich lotete alle Möglichkeiten aus, die mir zur Verfügung standen. Viele waren es ja nicht. Nach Stunden verzweifelten Herumwälzens entschloss ich mich, noch abzuwarten. Vielleicht würde der Anfall ja vorübergehen, in anderen Ehen sah es auch nicht besser aus, und es gibt Schlimmeres als ein vollgepisstes Wachbecken. Und ich merkte, dass ich ihn immer noch liebte, dieses schöne scheußliche ungehobelte Alphatier, diesen Hengst, mit allen seinen Stärken und Schwächen.
Auch Heimfried schien auf dem Sofa in seinem Büro nicht gut geruht zu haben, denn als er am anderen Morgen in die Küche trat, hatte er Ofenringe um die Augen. Als unten die Haustür ins Schloss fiel, ging ich ins Badezimmer, um nach dem rechten zu sehen. Bis auf die obligatorischen Seifenschaumflecken war alles in Ordnung – sagen Sie, Herr Kommissar, hören Sie überhaupt noch zu?

*
Nein! Ich schwöre, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch in keinster Weise daran dachte, ihn umzubringen – zumindest geplant hatte ich noch nichts. Noch waren die seelischen Verletzungen in meinen Augen nicht stark genug, um einen Mord zu begehen. Auch sein Ausspruch: Statt des Waschbeckens solltest du mal dein Gesicht gründlich abscheuern! änderte daran nichts. Er stürzte mich nur immer tiefer in die Verzweiflung. Doch am Freitagmorgen dieser furchtbaren Woche – und, Sie werden lachen, es war ausgerechnet Freitag, der dreizehnte – da tat er etwas, dass das Fass zum Überlaufen brachte: Er pinkelte an den Spiegel über meinem Waschbecken! Schon als ich die Badezimmertür öffnete, sah ich die Schlieren. Die Botschaft war klar: Er hatte nicht den Spiegel, sondern mein Gesicht gemeint! Und als nächstes –
Spätestens jetzt war mir klar, dass er mit den Sticheleien nicht aufhören würde, entweder wollte er mich ins Irrenhaus bringen oder sonstwie fertig machen. Mir wurde siedendheiß klar: Diese Verbindung war ohne Zukunft; mehr noch, sie würde immer mehr zur Qual werden.
In den nächsten Wochen und Monaten lernte ich zwei Charakterzüge an mir kennen, von denen ich bisher keine Ahnung hatte: Den unbedingten Willen, ein Vorhaben auch auszuführen, egal wie hoch die Widerstände sind, und eine geradezu erschreckende Kaltblütigkeit, gepaart mit absoluter Ehrlichkeit. Ich nahm mir vor, Heimfried von meinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen, schließlich sollte er gewarnt sein, das erforderte schon der Anstand zwischen Eheleuten. Andererseits durfte die Warnung nicht allzu deutlich ausfallen; wichtig für meinen Plan war, dass er zwar meine Entrüstung ernst nahm, sich aber weiterhin in Sicherheit wiegte.
Als er an dem Abend nach Hause kam, ging ich wie eine Furie auf ihn los (ich erlaubte ihm noch nicht einmal abzulegen). „Das hast du nicht umsonst gemacht, du Schwein!“, schrie ich ihn wütend an (es gelang mir sogar, vor Wut zu zittern), „willst du mich ins Irrenhaus bringen? Eher bringe ich dich um! Darauf kannst du Gift nehmen!“
Er, in Hut und Mantel: „Gisela, nun halt mal die Beine still! Wie willst du das denn anstellen? Etwa mit Rattengift im Kaffee? Dass ich nicht lache! (er lachte wirklich) Und wie willst du verhindern, dass ich nicht schnurstracks zum Arzt renne? Da müsstest du mich schon festbinden, und das möchte ich sehen!“
Besser konnte es nicht laufen! Ich hatte ihn gewarnt, aber er nahm die Warnung nicht ernst. Ich tat so, als wäre ich vor Wut sprachlos, drehte mich um, knallte die Tür zu und lief auf mein Zimmer.

Am anderen Morgen stand ich erst auf, als er schon aus dem Haus war, und machte mir einen starken Kaffee. In der Nacht hatte ich mir noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen; nicht, dass ich in meinem Entschluss schwankend geworden wäre – dafür waren die Beleidigungen zu groß – aber die einzelnen Schritte mussten sorgfältig erwogen und geplant werden. Zu diesem Plan gehörte zunächst, dass ich ihm vorgaukelte, ich habe mich wieder beruhigt und habe vor, die Beleidigung wenn nicht zu vergessen, so doch zu verdauen, und wolle nun wieder, Spucke drauf, zur Tagesordnung zurückkehren.
Als er am Abend zurückkam, empfing ich ihn, sorgfältig geschminkt und als wäre nichts gewesen. Er sah mich kurz an, in seinem Blick lag ein Mix aus Erstaunen und Enttäuschung, dann ging er nach oben.
Ein weiterer Teil meines Plans sah vor, meine Rolle als fürsorgende Hausfrau wieder aufleben zu lassen. In der letzten Zeit hatte Heimfried immer häufiger aushäusig gegessen (nur zu verständlich bei der gegenwärtigen Schieflage des Haussegens), und ich war froh gewesen, das Ekel nicht auch noch bekochen zu müssen. Doch nun sah die Sache anders aus. Ich fragte ihn, ob er nicht mal wieder am heimischen Herd essen wolle, die ewige Kantinenkost sei doch auf die Dauer gesundheitsschädlich. Außerdem könne es so nicht weitergehen, schließlich habe uns ein grausames Schicksal mit glühenden Ketten aneinandergeschmiedet, und irgendwie müsse man ja einen modus vivendi finden. Ich jedenfalls sei dazu bereit. Wenn wir schon getrennt in punkto Bett seien, müsse das ja nicht unbedingt auch bei Tisch zutreffen. Er blickte mich erstaunt an und grunzte: „Ich wusste gar nicht, dass du unter die Dichter und Denker gegangen bist!“, aber meinen Vorschlag, zum Abend Frikadellen zu essen, nahm er an. Er hatte sich wieder gefangen; ich vermute, weniger aus innerer Überzeugung, sondern vielmehr weil er wieder unter Druck stand.
Ich will jetzt keine Küchendünste heraufbeschwören und kürze ab. Etwas sechs Wochen später – es hatte sich feucht-warmes Spätsommerwetter eingestellt – fragte ich ihn morgens beim Kaffee, ob er mit Frikadellen, Salzkartoffeln und Gemüse auf den Abend einverstanden sei, und ob er etwas dagegen habe, wenn ich den Geschmack der Buletten mit kleingehackten Pilzen verfeinerte. Er nickte. Als er weggefahren war, fuhr ich zu der Stelle, an der ich am Vortage fündig geworden war.

*
Heimfried aß mit guten Hunger; ich sagte, ich habe schon gegessen, acht Uhr sei mir einfach zu spät. Ich beobachtete ihn, wie er Senf auf die Buletten klatschte und eine nach der anderen hinter seinem Raubtiergebiss verschwinden ließ. Ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht. Warum auch? Erstens war er gewarnt, und zweitens hatte er doch nichts gegen Pilze eingewendet. Und, Hand aufs Herz, dass er wirklich angenommen hat, ich habe ihm verziehen, das war doch schon wieder eine verdammte Beleidigung; es zeigte doch nur, für wie dämlich er mich hielt!
Etwa zwei Tage später setzte die erhoffte Wirkung ein. Ich weiß nicht, ob Sie die Symptomatik einer Knollenblätterpilzvergiftung kennen – ja? Dann kann ich mich kurz fassen. Beim ersten Anfall ging er von einer harmlosen Magenverstimmung aus. Natürlich ahnte er nicht im Entferntesten den wahren Sachverhalt. Woher auch. Ich riet ihm, ein paar Magenbitter zu trinken, die würden seinen Magen gehörig aufräumen (das war übrigens das einzige Mal, dass ich nicht aufrichtig zu ihm war, denn, wie Sie wissen, Alkohol verstärkt die Wirkung des Amanitins). Und so war´s dann auch. Tags darauf fühlte er sich wieder beschwerdefrei – ein Trugschluss, denn seine Leber war gerade dabei, sich in eine formlose Masse zu verwandeln. Nach zwei Tagen setzte der Rückfall ein; ich bot ihm an, mit ihm zum Arzt zu fahren. Als ich ihn ins Auto bugsierte, war er bereits so schwach, dass er sich nur mit Mühe auf dem Sitz halten konnte. Ich band ihn fest und verklebte ihm den Mund. Um seine Qualen abzukürzen, stellte ich den Motor an und ließ die Scheiben herunter. Als ich am anderen Morgen nach ihm sah, atmete er nicht mehr. So, jetzt könnte ich eigentlich ein Käffchen gebrauchen, aber bitte mit Zucker. Lässt sich das machen?

***
Der junge Kommissar betrachtete die Frau, wie sie den Zucker einstreute und sorgfältig umrührte.
„Befindet sich Ihr Mann immer noch in der Garage?“, fragte er.
Sie sah ihn belustigt an. „Ts, ts, ts... Was ist bloß mit euch Männern los?“, höhnte sie. „Nur weil ich blond bin, weil meine Haare die Stirn verdecken und weil ich gut aussehe, haltet ihr mich gleich für geistesgestört!“ Sie lachte ungut. „Ich bin doch nicht so blöd, und liefere der Polizei das Hauptbelastungsmaterial auch noch auf dem Silbertablett frei Haus!“
„Wo ist er dann?“
Ein krachender Donner verhinderte zunächst die Antwort. „Ich weiß es nicht“, sagte sie, als es wieder ruhig war.
Der Kommissar beugte sich vor. „Wieso wissen Sie das nicht? Sie haben die Leiche doch weggeschafft, oder sehe ich das falsch?“
„Das sehen Sie goldrichtig! Trotzdem weiß ich es nicht!“
Die Faust des Kommissars sauste auf den Tisch, sodass die Tasse einen kleinen Hüpfer machte. „Frau... äh –“
„Wolters.“
„Frau Wolters“, rief er überlaut, „Jetzt ist Schluss mit lustig! Sie haben mir gerade ein Gewaltverbrechen geschildert, einen Mord, an dem Sie nach ihren Worten maßgeblich beteiligt waren, wenn nicht sogar als Täterin! Also ist dies ab jetzt eine Mordermittlung! Wenn Sie nicht aussagen, werde ich für Sie Erzwingungshaft beantragen!“ Sehr überzeugend wirkte diese Tirade nicht, das Äh vorhin hatte ihr die Kraft genommen.
„Das können Sie gar nicht, denn ein Beschuldigter muss nicht gegen sich selbst aussagen, Sie Schlaumeier. Aber wenn Sie jetzt schön brav zuhören, erklär ich´s Ihnen.“
Der Kommissar machte ein Geräusch wie ein platzender Fahrradschlauch. „Ich höre! Aber bitte ohne Umschweife!“
„Als ich sicher war, dass sich Heimfried nicht mehr bewegte, fuhr ich mit ihm zur Aussichtsplattform über dem Höllentor - Sie wissen?"
"Ja, weiter!"
"Wegen des Gewitters war niemand da. Ich fuhr ganz nah an die Brüstung heran, schob ihn aus dem Auto und unter der Brüstung hindurch den Steilhang hinunter. Der Ellerbach hatte sich bereits in ein schäumendes Inferno verwandelt, und nach wenigen Sekunden hatte ihn das Schwundloch verschluckt.“
Frau Wolters schwieg. Draußen tobte das Gewitter, dicke Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheiben.
Der Kommissar sagte: „War das nicht ziemlich riskant? Wenn Sie auf der Fahrt jemand beobachtet hätte! Wenn es weniger geregnet hätte! Wenn –“
„Hätte, hätte, Senfbulette! Hat aber nicht!“, unterbrach ihn die Frau, „ich hab Augen im Kopf, und die Wetterapps sind erstaunlich zuverlässig. Ich nehme mal an, Heimfried befindet sich mittlerweile irgendwo in einer Karsthöhle weit weg von hier, wo niemand mehr an ihn herankommt. Es sei den, Sie sprengen das halbe Karstgebirge in die Luft.“
Der Kommissar starrte die Frau eine Weile ungläubig an, dann kam Bewegung in ihn. Er stand hastig auf und sagte mit lächerlich ernstem Gesicht: „Frau Wolters, ich nehme Sie vorläufig fest wegen des Verdachts, Ihren Mann –“
Weiter kam er nicht, erstens wegen des verqueren Satzes, und zweitens, weil ihn die Beschuldigte einfach auslachte. „Mein lieber junger Mann“, keuchte sie, „reden Sie keinen Unsinn! Sie haben nicht das geringste Beweismaterial gegen mich in der Hand! Heimfried hat auch seinen Darminhalt mit den Pilzresten in die Unterwelt mitgenommen, und Sie glauben doch nicht wirklich, dass Ihre Spürnasen in meiner Küche noch den kleinsten Hinweis finden. Haben Sie was schriftlich, eine Tondokument? Haben Sie nicht! Also lassen Sie den Quatsch und setzen Sie sich wieder!“
„Ja aber... Wenn Sie sich so sicher fühlen, warum haben Sie mir das dann überhaupt erzählt?“, fragte der Kommissar tonlos und setzte sich.
Frau Wolters blickte ihn fast liebevoll an. „Weil ich die Reaktion eines Insiders benötigte. Wissen Sie, ich bin Hobby-Schriftstellerin und wusste nicht so recht, ob diese Geschichte glaubhaft ist. Das Urteil von Freunden und Verwandten – na ja, Schwamm drüber. Jetzt weiß ich: Sie ist es, und ich kann sie in ein Literaturforum einstellen, ohne mich zu blamieren. Vielleicht ein bisserl zu lang, aber kürzen kann ich immer noch. Also: Ich habe Ihnen einfach eine Geschichte erzählt, und nichts weiter! Sollte ich Ihre kostbare Zeit vergeudet haben, bitte ich höflich um Entschuldigung, aber mehr als zwanzig Minuten waren es nicht. Ich hab auf die Uhr geschaut. Vielleicht steht hier ja irgendwo eine Kaffeekasse.“
Frau Wolters stand auf. „Bemühen Sie sich nicht, ich finde alleine hinaus. Ach übrigens – wo kann ich hier eine Vermisstenanzeige aufgeben?“
Der Kommissar zog ein kariertes Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. „Bei mir. Wer wird denn vermisst?“
„Mein Mann, Heimfried Wolters. Seit einer Woche.“
 
Hallo rotkehlchen,

zunächst dachte ich: ein wenig zu lang, ein wenig zu ausschweifend, aber andererseits ist es plausibel, dass diese Geschichte in einer solchen Ausführlichkeit einem Kriminalbeamten erzählt wird. Die Story ist zudem originell aufgebaut vom Motiv her. Gut geschrieben

Allerdings nehme ich an, dass die Frau nach der Vermisstenanzeige und dem vorherigen Geständnis auf jeden Fall verhaftet wird. Aber das bleibt ja dann auch offen.


LG SilberneDelfine
 



 
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