Herr W. hatte einen schönen Tag

3,00 Stern(e) 1 Stimme

ebbajones

Mitglied
Herr W. hatte einen schönen Tag

Die Mappe ist blau und nicht besonders dick.
Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie alle wichtigen Daten über meine Person beinhaltet, angefangen vom aktuellen Medikamentenplan bis hin zu Informationen über mein tägliches körperliches und mentales Befinden.
Natürlich nur in Kurzform gehalten, eine Spalte für jeden Tag, denn Zeit ist kostbar, vor allem wenn sie in Minuten abgerechnet wird.
Nicht, dass ich das irgendjemandem übel genommen hätte, schließlich ermöglicht
mir dieses System noch einen Rest Selbstständigkeit, auch wenn es mich einen großen Teil meiner Privatsphäre kostet. Doch ich bin alt genug, habe meine Lektionen gelernt und weiß, alles im Leben hat seinen Preis!
Es stimmt mich nur ab und an etwas melancholisch, wenn ich daran denke,
dass ich früher locker und ohne Schwierigkeiten mit einem meiner Tage zwanzig Spalten in dieser blauen Mappe gefüllt hätte.
Griffbereit für die jeweilige Pflegerin des mobilen Pflegedienstes, liegt sie auf der Kommode in der kleinen Diele meiner Wohnung.
Manchmal, an Tagen wie diesem, wenn ich mich gut genug fühle,
setzte ich mich mit einem Kaffee an meinen Küchentisch, um darin zu blättern.
Tatsächlich ist es nicht besonders unterhaltsam, so dass das eher selten vorkommt.
Vielleicht aber auch, weil mir das Lesen immer schwerer fällt, wie so vieles andere, ein weiterer Umstand, der meine Welt beständig schrumpfen lässt.
Kein Wunder also, dass mein Leben in einen dünnen blauen Ordner passt.
Herr W. hatte einen schönen Tag, steht da, in schwungvollen Bögen geschrieben, über den Mittwoch vergangener Woche.
Der Eintrag füllt nicht einmal eine armselige Zeile.
War der letzte Mittwoch wirklich ein schöner Tag?
Ich kann mich nicht mehr erinnern.
Aber wie mag sich ein Außenstehender einen schönen Tag in meinem Leben überhaupt vorstellen?
Ich selber hätte inzwischen Probleme, mir einen zu denken!
Schmerzfrei vielleicht?
Unbehelligt von der ständigen Angst, der nächste Tag könnte der letzte in den eigenen vier Wänden sein?
Oder ein Tag erfüllt von liebem Besuch, mit dem schönsten aller Gastgeschenke,
unbeschränkter Zeit für mich und meine klein gewordene Welt.
Herr W. hatte einen schönen Tag!
Immer wieder kehrt mein Blick zu dieser kurzen Zeile zurück.
Zu gerne würde ich mehr über diesen schönen Tag erfahren.
Aber möglicherweise wurde das auch nur geschrieben, um die Spalte einmal mit etwas Erfreulichem zu füllen.
Doch ich will nicht undankbar sein!
Sicher hat man es nur gut gemeint und wenn es auch nicht ganz der Wahrheit entsprechen sollte, so liest es sich immer noch besser,
als die Zeile vom letzten Montag.
Herr W. lag auf dem Boden des Badezimmers und hatte sich eingenässt.
So etwas über sich selbst zu lesen ist unbeschreiblich.
Auch einer der Gründe, warum ich selten in meine blaue Mappe schaue.
 

dicke Olga

Mitglied
(meine erster Versuch in diesem Forum)
ebbajones, dein Text ist zwar ohne ausgeklügelte Finessen, aber er spiegelt für mich genau die Stimmung wieder, die er beschreibt. Ich fühle mich gelähmt, spüre die Angst im Nacken, dass ich morgen noch weniger für mich selbst sorgen könnte als heute. Auch die Überlegungen, was denn am Mittwoch so schön gewesen sein mag, finde ich sehr nachvollziehbar. Bedrückend nah.
Du hast sehr spürbar die Situation von Menschen rüber gebracht die abhängig von anderen sind, oft bevormundet und entmündigt.
In der Einfachheit deiner Schreibe steckt die erschreckende Realität der Sache selbst.
...auf dem Boden des Badezimmers und hatte sich eingenässt.
Ich denke man -das Pflegepersonal- schreibt in diesem Fall in einfacher Vergangenheit.
... ein weiterer Umstand, der meine Welt beständig schrumpfen lässt.
eine sehr schöne Formulierung.
 



 
Oben Unten