Hochseeangeln. Na, dann Prost!

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Martin und Rolf kannten sich seit Kindertagen, waren Schulkameraden, Freunde und später auch Arbeitskollegen. In den Siebzigern waren sie in den Zwanzigern, waren noch solo und auch deshalb hin und wieder an verlängerten Wochenenden unterwegs. Sie suchten harmlose Abenteuer, die sie später mit gutem Gewissen ihren Enkeln erzählen könnten. Viele nähere Ziele für Kurzreisen mit dem Auto gab es vom damals eingemauerten Westberlin aus nicht, wollte man doch keine allzu langen Fahrten auf sich nehmen. Martins alter NSU Prinz, genannt der „Blaue Panzer“, war laut, stieß fröhlich blauschwarzen Rauch aus und muckte hin und wieder auf, was der Reisefreude aber keinen Abbruch tat. Ökologische Fußabdrücke und Zeh-oh-zwei gab es damals noch nicht. Als akzeptable Ziele blieb für solche Reisen damals eigentlich nur die Lüneburger Heide, da fährt heute kein Mensch mehr hin, oder das etwas entferntere Fichtelgebirge. Auch dort bleiben heute die Fremdenzimmer mit Waschbecken an der Wand und Frotteehandtüchern ohne Frottee daneben, Klo auf dem Flur und Duschen nach Absprache mit den anderen Etageninsassen, weitgehend leer. Die fragwürdige Anziehungskraft von Kiefernwäldern kann inzwischen jedem Berliner ohnehin leichter und schöner befriedigt werden. Aber damals nicht, und so fuhren die beiden Freunde zwar nicht ins Fichtelgebirge, aber immerhin in die Lüneburger Heide.

Nachdem sie dort in kurzer Zeit ziemlich alles gesehen hatten, blieb noch etwas Zeit übrig und der Blick auf einem Plakat haften: „Nächsten Sonntag Hochseeangeln, Abfahrt 05:30 auf dem Dorfplatz,
Tickets hier im Gasthaus“. Nach anfänglichem Zögern wegen der Abfahrtszeit siegte schließlich die Begeisterung über die Aussicht, eine neue Erfahrung machen zu können.
Pünktlich erschien am Sonntagmorgen der Bus, man stieg ein, etliche Männer saßen bereits drin, alle waren blass und hatten unausgeschlafene Augen. Jeder kannte jeden, hantierte umständlich mit dem naturgemäß unhandlichen Angelzeug und der umfangreichen Sportkleidung herum, und nahm schließlich, nach für Martin und Rolf weitgehend unverständlichem Begrüßungspalaver, denn nicht nur die Landschaft hier, auch die Sprache ist platt, Platz. Der Bus fuhr los, es war noch vor 06:00 und leise knackten hier und da die ersten Bierdosenverschlüsse. Das Knacken sollte die beiden Berliner bis zum späten Abend begleiten. Offensichtlich gelingt es dem Lüneburger Heider nur mit triftigem Grund, sich seiner Gattin für einen Tag zu entziehen, doch die gewonnene Freiheit erträgt er nur in final völliger alkoholischer Betäubung. Nach 2-3 Stunden Fahrzeit hielt der Bus am Ziel, einer Mole, an, und alle stiegen aus. Die Betäubung hatte schon eingesetzt und erleichterte das Ausladen des Angelgepäcks in keiner Weise. Alle schwankten schon auf der Mole und Rolf wunderte sich, dass ein Schiff so klein sein konnte. Er fragte Martin, ab wann ein Schiff ein Schiff sei, doch der wusste auch keine Antwort. Erste Zweifel schlichen sich ein und die beiden auf das Schiff. Dort war es bereits sehr voll und sie waren überall im Weg. Das Dosenknacken war inzwischen salvenartig angeschwollen und sie stachen in See. Der Kapitän stand in Funkkontakt mit anderen Schiffen und erfuhr auf diese Weise, wo der Dorsch gerade stand. Der Dorsch ist ein Fisch, der noch nichts mit seiner Freundin hatte. Hatte er, dann heißt er Kabeljau, so wie bei uns früher „Fräulein“. War das Schiff an der Stelle angelangt, wo der Dorsch „stand“, war er meist schon weg und wurde mit dem schiffseigenen Sonar gesucht und gelegentlich auch gefunden. An dieser Stelle waren dann schon weitere Schiffe erschienen, die sahen wie Igel aus, weil rundherum unzählige ausgeworfene Angeln sich stachelig abspreizten. Wie bei einer Safari in der Serengeti, wo 12 Jeeps um einen lahmen Löwen herumstehen, nur, dass dort statt Angeln Fotoapparate zum Einsatz kommen und das Wasser fehlt. Nun angelt es sich am besten, wenn sich der Angelhaken im Wasser befindet, was wohl nicht allen Dosenknackern geläufig war. Sie warfen ihre Angeln hoch über ihre Köpfe nach hinten aus, um Schwung zu holen, rissen sie dann kraftvoll nach vorne, um den Haken weit vom Schiff ins Wasser zu bringen, doch leider ging das schief. Der fliegende Haken wurde am Mast von der sich schnell drehenden Radarantenne eingefangen und aufgewickelt. Da eine Angelschnur sehr lang ist, fiel es erst auf, als das Radar kaputt war. Der Kapitän tobte, verbot den Radaranglern jegliche weitere Betätigung an Bord und befahl „hinsetzen“. Den Rest der Fahrt über saßen sie mürrisch auf einer Bank und knackten vor sich hin. Martin und Rolf schauten jetzt öfters auf die Uhr und fragten den Kapitän nach voraussichtlicher Ankunftszeit an der Mole. Die Antwort ließ sie ein bisschen mitknacken. Nun konnten sie zugucken, wie die erfolgreicheren Angelfreunde ihren Fängen die Bäuche aufschlitzten, mit bloßen Fingern in den Innereien herumglitschten und allerlei rauszogen und ins Meer, oder auf den Boden, warfen.
Die Möwen krächzten erfreut, die Männer auch und zeigten sich gegenseitig stolz und lachend ihre Fänge. Das Deck sah aus, wie sich ein Städter eine überstandene Seeschlacht vorstellt.
Alles hat ja mal ein Ende, wie jeder weiß, so auch dieser Törn. Das Wetter war schön gewesen an jenem Tag, doch war das kein großer Trost. Auf jeden Fall hatte der Kapitän auch ohne Radar seine Mole wiedergefunden und der Bus auch. Die Seefahrt war vorbei, aber der Ausflug noch lange nicht.

Die Heimfahrt im rosigen Abendlicht hätte ruhig und gemütlich werden können, sie wurde es jedoch nicht. Die kräftigeren Anglernaturen sprühten noch vor Lebenslust und Durst, ahnten sie doch die baldige Heimkehr an die häusliche Kette mit Verzicht auf vieles. Die nicht so Kräftigen hatten auf dem Schiff Stunden verdöst und entwickelten sichtbar neue Energie, um dem erlittenen Flüssigkeitsverlust entgegen zu wirken. Die, die des Knackens müde wurden, griffen nach und nach zu konzentrierteren Getränken. Einer, der schon auf der Hinfahrt langsam in die Rolle des Gruppenkaspers hinein-gewachsen war, zog dann doch einige Blicke auf sich, als er begann, den Schnaps in großen Schlucken aus der Bouteille zu trinken. Martin schaute jetzt immer öfter auf seine Uhr. So viel Schnaps bekommt nicht jedem. Glücklicherweise hatte der Kasper starke Magensäfte, die er auch schön im Bus verteilte, damit sie jeder sehen und riechen konnte. Nun wankte Kasper durch den Bus und bot jedem freundlich aus besagter Flasche an. Martin ließ das Zifferblatt seiner Uhr nicht mehr aus den Augen, Rolf wurde in seinem Sitz unsichtbar und starrte verzweifelt mit angehaltenem Atem aus dem Fenster. Doch von dort kam auch keine Hilfe. Die kam letztendlich vom Busfahrer, der wohl auch Betreiber der kleinen Busfirma war. Der herrschte Kasper an, schrie laut und stellte sofortige Transportverweigerung seinerseits in Aussicht, doch Kasper grinste schief und kriegte das alles nicht mehr so recht mit. Ansonsten war es im Bus eher still geworden. Obwohl der Geruch von Erbrochenem und Schnaps jedem Mann, der mal ein richtiger Junge war, vertraut ist, entschloss sich der Fahrer zu einer Fahrtunterbrechung auf einer Tankstelle. Alle konnten ins Freie, eine halbe Stunde Pause. Es knackte nicht. Zur verabredeten Zeit waren alle wieder in den frischgemachten Bus eingestiegen. Tür zu, Motor an, Gang rein. Einer fehlt! Richtig. Kasper. Es bildeten sich zwei Fraktionen, die „Fahr los, fahr los!“ riefen, und „das kannst du nicht machen!“ der Opponenten dazwischen. Wertvolle Sekunden verstrichen und schon erschien Kasper auf dem Parkplatz mit zwei Armen voller Kinderspielzeug, Plastikbagger, Teddys und dergleichen. Zwei Cognacflaschen in den Jackentaschen links und rechts steckend, wie ein US- Marshall seine Revolver trägt, rundeten die Erscheinung ab. Hinter sich in wilder Verfolgung der Tankstellenmann voller gerechter Wut. Der Busfahrer entwand Kasper daraufhin seine Schätze, gab sie zurück und entschuldigte sich namens seines Fahrgastes, dem wohl leider seine Geschäftsfähigkeit temporär abhandengekommen war. Im Bus ging es so hin und her weiter, einmal warf der Busfahrer Kasper hinaus, fuhr nach ein paar Metern zurück und ließ ihn wieder ein. Ein Akt purer Verzweiflung. Dann, nicht sehr weit vor dem Ziel, waren die Busfahrernerven verbraucht, er stoppte, zerrte Kasper unter wüsten Beschimpfungen hinaus, packte ihn von hinten an Kragen und Gürtel und hängte ihn buchstäblich über einen Gartenzaun. So. Endlich auf dem Dorfplatz angekommen sagte Martin zu Rolf: „Na, den Hilflosen einfach über einen Zaun zu hängen und sich selbst zu überlassen, ist ja irgendwie auch nicht richtig.“ „Wieso?“ sprach ein Angler, der das beim Aussteigen gehört hatte, „der wohnt doch da!“ Offensichtlich hatte es der Busfahrer mit einem Stammkunden zu tun gehabt und die Ausflüge schienen hier stets ähnlich abzulaufen, wer hätte das gedacht? Das Aufhängen des Kunden am heimatlichen Gartenzaun war also nur ein Akt der Kundenpflege gewesen. Beruhigt schlenderten Martin und Rolf vom erleuchteten Dorfplatz in die Dunkelheit, aufatmend, davon.

Jetzt war der lange Tag endlich zu Ende und die Erfahrung gewonnen, dass man nicht überall dabei gewesen sein muss. Morgen würde es wieder nach Hause gehen und die alltägliche Routine hat schließlich auch ihre guten Seiten. Martin und Rolf wollten den Abend noch mit einem kleinen Nachtmahl ausklingen lassen, doch es war kein Appetit mehr vorhanden. Nicht mal Durst.
 
Hallo Robert Werner,

eine schöne unterhaltsame Geschichte und nicht nur deswegen, weil ich jetzt endlich den Unterschied zwischen Dorsch und Kabeljau gelernt habe :) hat mir richtig Spaß gemacht, sie zu lesen.

LG SilberneDelfine
 



 
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