Im Abseits

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Anonym

Gast
Im Abseits

Ich bin in meinem eigenen Traum gefangen, träume nur von dem, was dort geschieht. Doch alles ist Wirklichkeit, hart und unauslöschlich. Fiktiv, greifbar. Hautnah, wenn auch unbegreiflich, aber... ich lebe.
Es gibt noch nicht einmal ein aber, keine Frage nach einem warum und wieso. Es gibt nur Tatsachen, die sich wie Klauen um meinen Hals legen. Die mir die Luft nehmen, den letzten Lebenswillen ersticken.
Ein lapidarer Brief von Amts wegen ist Auslöser für diese Situation. Das soziale Netz reicht nicht mehr aus, mir genügend Geld für die von mir jahrelang bewohnte Wohnung zu zahlen. Ich bin zu müde zum Kämpfen, zu alt. Habe von einer Minute zur anderen aufgegeben, als ich den Inhalt verstand.
Ich stehe in einer gut zugänglichen Tiefgarage, schaue mich um. Während der Nacht brennt hier Licht, wird zum Sicherheitsfaktor. Sie wird zukünftig mein Nachtplatz sein.
Ich will mich abseits etwas hinsetzen. Die Beine versagen mir den Dienst. Meine Augen sehen alles, fast fotografisch genau. Der kunststoffbeschichtete Boden schimmert matt. Flecken von Öl, Kaugummis. Eine dünne Pfütze steht darauf. Ich mache einen großen Schritt, trotzdem trete ich hinein.
Urin. Es ekelt mich. Der strenge Geruch setzt sich schon nach Sekunden tief in die Kleider, das Haar. Zieht in die Nase.
Endlich finde ich eine Ecke, die nicht voll einsehbar ist. Ein Platz für Frauen, unweit einer Begrenzungswand.
Ich weiß, ich werde mich an diesen Zustand gewöhnen, gewöhnen müssen. Über meinen Körper zieht eine Gänsehaut. Wie lange kann ich unter solchen Bedingungen leben, überleben? Es ist ein aufgezwungener Platz. Nähe mit anderen Menschen, um mich sicherer zu fühlen. Ein Countdown ins Nichts. Irreal die Vorstellungen. Das Nichts und trotzdem die Suche nach Sicherheit.
Verflucht. Ich komme nicht von der Straße, sondern werde dazu verurteilt. Passe mich schon mit der Sprache an. Nie werde ich mich mit diesen Menschen identifizieren wollen und können und trotzdem weiß ich, daß diese Atmosphäre mich aufsaugen wird. Je eher und bewusster ich mir das zugestehe, desto besser. Der Weg ins Abseits, ins Abwärts ist immer schneller. Die Talfahrt rasant.
Mein Lachen ist laut, gequält und bitter. Welche Wahl habe ich noch?
Ich ziehe die Schultern zusammen. Ein paar Männer kommen näher. Langsam, schlurfend, neugierig und gleichzeitig teilnahmslos. Unrasiert, grau im Gesicht. Alte und junge. Mit glanzlosen Augen, Narben, Zahnlücken. Adamsäpfel tanzen zwischen offenen Hemdkragen. Über ausgeleierten Rundabschlüssen von Shirts, die an der Gürtellinie der auf den Hüften hängenden Hosen überhängen oder sich über Bäuche spannen. Behaart, glatt Arme und Bauch.
Bizarr, Denken und Fühlen. Ich bin nicht allein und doch mehr als allein. Ich habe keine Angst vor diesen Leuten. Sie sind Menschen wie ich. Namenlose Sympathie erwächst plötzlich. Noch haben wir kein Wort miteinander gesprochen. Ich begreife: Kreuzungen unserer Lebenslinien sind seit Urzeiten vorausbestimmt. Unabdingbar! Es gibt keinen anderen Weg.
Etwas wehrt sich in mir, es einfach hinzunehmen. Trotzdem glaube ich in einem Zipfel meiner Seele daran. Ich kann es nicht erklären, nicht ins Nichts stürzen. Ist es Gott? Schicksal?
Es gab einmal Menschen, mit denen ich darüber hätte diskutieren können. Nun gehört auch das der Vergangenheit an, einer Zeit, die nicht mehr relevant ist. Ob wir je ein gemeinsames Ziel gefunden hätten? Fraglich. Doch tröstlich, es war einmal so gewesen. Es war nicht alles nur Alleinsein und Hoffnungslosigkeit.
Ich flüchte mich in diese Vergangenheit. Flüchte in eine Zeit, die nicht nur von positiven Dingen erfüllt war. Aber erträglicher als das Jetzt.
Scheiße!
Ich möchte dieses Wort laut heraus schreien. Dieses Wort, das nicht zu meinem sprachlichen Vokabular gehört. Vielleicht ist es die erste Symbiose, die ich mit meinem neuen Leben eingehe. Wahnsinn!
Ich gebe alles auf. Erfahre eine neue Gemeinschaft. Nichts bleibt von Liebe, von Gefühlen, Leidenschaft und Körperlichkeit.
Hier geht es allein ums Überleben. Hunger und Durst, der gestillt werden muß. Einen Quadratmeterraum für die Notdurft.
Ich fange an, mich in diesen Minuten der ersten Begeg¬nung anzupassen. Einer Gemeinschaft anzugliedern, die das längst durchlebt hat. Meine Angst klammert sich an ihre Erfahrungen. Sie sollen nicht wissen, daß sie Gewalt über mich haben. Ich will mich nicht gleich ausliefern, sie aber auch nicht abweisen.
Nein! Ich bin nicht mehr ich. Habe ich mich wirklich total über Bord geworfen? Es erschreckt mich, frustriert.
Dazu kommen Gedanken, die kreuz und quer mein Leben durchforschen: Ist wirklich die Armutsgrenze Grenzen-losigkeit des Lebens? Können meine Freunde auf Dauer diesem Geflüster widerstehen? Den Fragen, den Antworten, dem Nichtwissen? Kann ich es?
Lebensabschnitte mit der Dunkelphase des Alles-über-Bordwerfens habe ich mühsam überlebt. Scheiße! Ich bin um kein Gramm besser als die anderen, daran muß ich mich gewöhnen. Das Jetzt zählt, nicht die Vergangenheit. Die anderen haben mir ihre Erfahrungen voraus. Das allein muß ich akzeptieren. Wer weiß, was in zwei Jahren ist, wie ich in zwei Jahren bin? Ob ich noch lebe?
Dieser vorstellbare Zeitraum ist die Hölle. Ich trete an wie ein Zivilist. Unerfahren im Abseits der möglichen Möglichkeiten. Alles ist fragwürdig.

Epilog

Diese Frau mit Namen Erika hat mir, einer Sozialarbeiterin, als sie dem Tod ins Gesicht sah, ihre Geschichte erzählt. Das wichtigste war für sie ihre letzte Zeit. Sie wurde aufgesogen von der Anonymität der Menschen auf der Straße, jedoch weit weg von Resignation und Vorwürfen. Sie hatte Frieden gefunden. Der Tod legte ein Lächeln auf ihr Gesicht und ihre Hand lag in der meinen.
Sie hatte mich gebeten, falls ich es wollte, einigen Menschen von ihr zu erzählen.
Ich erfülle ihr Vermächtnis. Eines, das ich, ohne in der Pflicht zu sein, übernehme. Eines, das mich nachdenklich macht. Sehr nachdenklich.
In der Todesanzeige, die ich aufgab stand: Erika lebte ihr Leben, wie es ihr zugewiesen wurde: Tapfer und klaglos.
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Anonymus,

ich habe den Text gleich zweimal gelesen, weil so viel drinsteht. Ein sehr bewegendes Portrait eines Menschen "im Abseits". Allein am Schluss empfehle ich Dir nach dieser Stelle zu enden:
Sie hatte mich gebeten, falls ich es wollte, einigen Menschen von ihr zu erzählen.
Alles weitere empfinde ich als überflüssig. Es "verwässert" den sonst so starken Eindruck.

Gruß
Elke
 

Anonym

Gast
Hallo Elke,

danke für Deine Mitteilung. Das Ende werde ich kürzen. Ein guter Gedanke.

Texte wie dieser treffen nicht immer den Lesegeschmack. Aber trotzdem, bin ich froh, wenn er gelesen und verstanden wird. Denn auch das ist unsere Welt

Herzliche Grüße

Anonymus
 



 
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