Im Café

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Steven Omen

Mitglied
"Jedes Land hat die Politiker, die es verdient. Die USA haben Trump, die Türken Erdogan und wir haben Merkel. Dies ist kein Zufall, nein, es sagt viel über die jeweiligen Länder aus", dachte sich K., als er die Schlagzeilen der Frankfurter Allgemeinen im Café überflog. Er hatte immer eine feste Lesereihenfolge: Mantel, Sportteil, Wirtschaft und als Dessert den Feuilleton, vor allem die Besprechungen der Opern, Klassikkonzerte und Theaterstücke. Das Wetter war für April bereits akzeptabel, nah an die 20 Grad, trocken, kaum Wolken am Himmel und der Wind hatte schon die Melodie des Sommers. Im Café war noch nicht viel los, er hatte an diesem Montagmorgen beschlossen, sich nach draußen zu setzen und die Sonne zu genießen. Die Stadt wachte langsam auf, Bauarbeiter arbeiteten an ihren Baustellen, die LKW's hielten zum Ausladen vor den Geschäften, es herrschte rege Betriebsamkeit. K. hatte frei heute, Urlaub, kein festes Ziel, keinen Plan, er wollte sich treiben lassen wie eine Feder im Wind. "Zuerst einen Café und die Zeitung, dann sehen wir weiter", hatte er sich vorgenommen. Er blätterte um.
"Möchten sie noch einen Café trinken", fragte die Bedienung, als sie an ihm vorbei lief.
"Ja, gerne."
Immerhin war er erst beim Wirtschaftsteil. Das Café war in der Innenstadt an einer befahrenen Straße mit Tischen auf auf dem Bürgersteig. Es hieß "Monokel" und wurde von zwei Schachspielern betrieben, die mit mäßigem Erfolg einen Schachverein zu etablieren versuchten. Schachspieler waren aber eine lausige Kundschaft. Sie konsumierten kaum etwas und wenn, dann Café oder Spezi und solche Dinge. Große Besäufnisse mit viel Umsatz waren da nicht zu erwarten, was ja auch in der Natur des Schachspielers lag.
Er war zwar nicht Mitglied im Schachverein, aber ab und zu spielte er gerne einige Blitzpartien. Sein Niveau war mittelmäßig, "aber einer gewissen Stufe wird es anstrengend", hatte er einmal festgestellt. Die Schachecke in der Zeitung las er dennoch jedes Mal aufmerksam.
Sein Handy klingelte.
"Wer das wohl sein mag?"
Eine unterdrückte Nummer.
"Hallo?!"
"K., bist du es?"
"Ja, wer spricht denn da?"
"Ich bin es, F., du kennst mich doch von früher."
"Ja, du warst auf meiner Universität. Aber,"
Er schluckte einen Klos herunter.
"Ich war vor 5 Jahren auf deinem Begräbnis!"
"Nein, da verwechselst du etwas, das war meine Schwester, wir sahen uns aber ähnlich."
"Verzeihe bitte diesen Faux-Pas."
Er räusperte sich verlegen.
"Wie kann ich denn dir jetzt helfen?"
"Wie soll ich es sagen"
Es entstand eine kurze Pause.
"Ich muss mit jemanden sprechen und mir fiel niemand außer dir niemand ein. Können wir uns treffen?"
"Kein Problem, wenn du willst, sofort, ich bin in einem Café in der Innenstadt"
Er beschrieb kurz, wo sich das Monokel genau befand.
"Ich komme gleich vorbei."
"Ja, bis gleich"
Nachdenklich rührte K. seinen Café um.
"Fünf Jahr sind eine Ewigkeit und doch nur ein Fingerschnippen."
Seine Gedanken verloren sich beim Betrachten des Himmels.
"Aktuell kommt es mir vor, als würden die Jahre nur so verfliegen. Früher gingen sie langsamer vorbei. Vielleicht, weil mein Leben ereignislos, ja fast eintönig ist? Kann sein. Ich kann mich nicht wirklich erinnern, was genau vor 5 Jahren passiert war, aber einiges ist doch hängen geblieben. Zum Beispiel das mit F. Schwester. Üble Geschichte. Sie hatte jung geheiratet und jahrelang verheimlicht, dass ihr Ehemann sie schlug, zum Schluss brachte sie sich mit Tabletten um."
Der Himmel bewölkte sich immer mehr und ein Wind kam auf. Ihm fröstelte und er ging in das Café hinein.
"Wann wohl F. Kommt?"
"Das kann mir egal sein, ich habe es nicht eilig, gab er sich selbst die Antwort.
Beim Weiterstöbern im Feuilleton interessierte ihn ein Artikel über das bedingungslose Grundeinkommen? Was würde passieren, wenn sagen wir mal, jeder 2.000 Euro einfach so bekäme?
"Interessanter Gedanke, ich würde wohl trotzdem weiterarbeiten, denn ich bin gerne Webdesigner. Es würde mich entspannen, ich hätte nicht mehr den absoluten Druck, ich bin für das bedingungslose Grundeinkommen. Leider ist das ganze nicht finanzierbar."
So las er mehr oder weniger aufmerksam die einzelnen Artikel. Manche überflog er nur, manche las er sehr aufmerksam, so wie den Artikel über die letzte Leipziger Buchmesse.
"Wo wohl F. nur bleibt, sie wollte doch ins Monokel kommen?", fragte er sich selber, als er am Caf? nippte.
"Sie wird es sich anders überlegt haben."
Inzwischen war er beim Wirtschaftsteil. Die Börse interessierte ihn immer, aber weniger die sinkenden oder steigenden Kurse. Hatte er in seinem Depot nur dividendenstarke Aktien mit garantierter jährlicher Ausschüttung. Er schaute nicht jeden Tag, ob die Kurse stiegen oder fielen, er hatte sie langfristig angelegt.
"Deutschland hat längst Europa wieder erobert, diesmal aber friedlich durch den Handel. Nichts geschieht in der EU ohne Einwilligung Deutschlands. Alles ganz friedlich, sehr clever"
Sein Handy klingelte. Er entschied nicht dran zu gehen.
"Die kann mich langsam, soll sie bleiben wo der Pfeffer und so."
Es war tatsächlich F., die absagen wollte.
Nachdem das Klingeln aufgehört hatte, vergaß er auch diesen ärgerlichen Zwischenfall in seiner Caferoutine.
"Wo war ich stehengeblieben? Ah ja, der Feuilleton wartet."
Er strich sich durch sein schwarzes, mittellanges Haar. Er hatte schon früh wegen seiner grauen Strähnen begonnen es zu färben.
Draußen regnete es inzwischen und er bestellte sich zur Abwechslung einen Tee, Ceylontee um genau sein und süßte es mit Kandiszucker.
Der Appetit meldete sich langsam bei ihm. Er ließ sich die Karte mit den Snacks geben, er war ehrlicherweise zu faul, um zu Hause heute zu kochen. Er bestellte sich eine Tafelspitzsülze mit Kresse und Butterkartoffeln. Nach kurzer Zeit (hoffentlich war es schon nicht ewig herumgestanden, befürchtete er) kam das Bestellte und es schmeckte ihm überraschend gut. Zum Verdauen bestellte er sich einen Kräuterlikör.
Automatisch vertiefte er sich nach dem Essen wieder in seine Zeitungslektüre. Zuerst fiel sein Blick nur auf eine Überschrift, dann hatte er die Zeitung schon in der Hand und schon las er wieder. Diesmal den Wissensteil. Thema: Neandertaler, angeblich sollen sich noch einige Prozentpunkte in jedem von uns befinden. "Das glaube ich gerne, man muss zum Beispiel nur an einige Diktatoren auf der Welt denken." So las er sich bis zum Ende der Zeitung und verspürte ein Gefühl der Zufriedenheit. Alles war gut in diesem Moment, er fühlte sich entspannt, vom Essen gesättigt, sein Informationsbedarf war gestillt und sogar die Sonne schaute wieder heraus.
Die Bedienung kannte er inzwischen. Sie lächelte immer, wenn sie ihm die Getränke oder Speisen brachte. Sie hatte mittellange braune Haare, benutze einen rosafarbenen Lippenstift und ihre Stupsnase weckte in ihm einen Beschützeraffekt. Er schätzte, dass sie Studentin war und höchstens 25 Jahre alt war. Aber er hatte sich schon oft beim schätzen des Alters bei Frauen verhauen, vielleicht war sie erst 19 oder Bereits Ende 20. sie trug eine schwarze Hose und ein dezentes grünes Top, dazu schwarze Ballerinas. Ihre Figur war eher schmal, ja man konnte sehen, dass sie wohl öfters Sport trieb.
"Wenn ich mir vorstelle, dass ich ihr Vater sein könnte. Ich glaube, ich werde alt." Melancholisch rührte er mit dem Löffel den Café um. "Aber ich habe ja schon viel erreicht im Leben bisher, bin verheiratet, habe eine erwachsene Tochter, im Beruf bin ich auch zufrieden und wir leben in einem schönen Haus, zwar finanziert, aber alles komfortabel. Ich glaube, ich bin ein Spießer geworden."
"Ist schon verwunderlich, ich wohne in München, lese aber die FAZ täglich. Normalerweise müßte ich doch die Süddeutsche lesen. Habe ich früher auch. Doch im Laufe der Zeit merkte ich, dass ich gedanklich mich bei der FAZ besser aufgehoben fühle. Nein, das böse Wort von der Prantl-Prawda trifft es nicht, aber einfach zu links. Da ist mir die FAZ schon näher. Die Zeit habe ich ja schon seit Ewigkeiten abonniert. OK, es gab einige Krisen, speziell was die Russlandberichterstattung anbetraf, aber insgesamt halte ich der Zeit die Treue. Der Spiegel ist auch nicht mehr das was er war. Früher noch das Sturmgeschütz der Pressefreiheit, vor dem ganze Regierungen zitterten und auch stürzten, mutierte er immer mehr zum Veröffentlichungsorgan der Regierungsmeinung und zahm wie ein Kätzchen. Focus war und wird nie eine Option sein, da kann man ja gleich Compact lesen."
Ihn begann die Zeitung aufzuregen und er legte sie endgültig zur Seite. "Jetzt weiß ich immer noch nicht, was ich heute machen soll?" Er schaute auf die Uhr, es war schon halb 3. "Aber ist das so wichtig, ständig einen festen Terminkalender zu haben. Von einem Date zum anderen zu rennen, um dann völlig erschöpft abends ins Bett zu fallen? In Kenia sagen sie immer "Haraka haraka haina baraka." ("Eile mit Weile") leider kann man diese Mentalität nur schwer in Mitteleuropa verwirklichen, die Gelassenheit schwindet spätestens am Arbeitsplatz.
Im Hintergrund lief als Endlosschleife unbestimmte instrumentale Musik, ein Klangteppich, bei dem Man leicht seine Gedanken schweifen lassen kan. "Das kann ich prächtig", stellte er fest. Schon immer war gut in Luftschlösser bauen, um dann am nächsten Tag dann doch wieder ernüchtert zu arbeiten. "Aber was wäre das Leben ohne Träume? Eben, vielleicht werden sie irgendwann wahr. Aber ich beginne wieder zu träumen.
 



 
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