Im Krankenzimmer

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Anonym

Gast
Meine Bettnachbarin war über Tage hinweg ein Häufchen Elend gewesen. Sie musste sich aufgrund der Darmoperation geräuschvoll und unappetitlich auf dem Leibstuhl entleeren. Das war ihr so unangenehm, dass sie sich am liebsten den ganzen Tag unter das Bett gelegt hätte. Sie sprach nicht mit uns, sah uns nicht an. Die Gespräche mit den Ärzten führte sie mit zaghafter, brüchiger, jämmerlicher Stimme.

Am vierten Tag bekam sie Besuch von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn. Das Enkerl lief voraus, sie begrüßte es herzlich, fast überschwänglich. Vielleicht eine Stunde dauerte es, bis wir sechs Patientinnen wieder allein im Zimmer waren. Doch etwas hatte sich verändert.

Im Halbschlaf bekam ich mit, dass sich jemand bei ihr bedankt hatte. Sie hatte für eine andere Patientin die Jalousien hinunter gelassen. „Naja, zumindest für etwas bin ich noch gut“, erwiderte sie fröhlich. Eine andere Stimme sprach aus ihr: Voll Mut, Zuversicht, Stolz. Es berührte mich sehr. Ein einfacher Besuch, vielleicht eine lästige Nebensächlichkeit für die Besuchenden, hatte das Wesen meiner Bettnachbarin nachhaltig umgewälzt. Die Liebe zu und von einem anderen Menschen hatte ihr die Selbstachtung wiedergegeben.

(Eine wahre Geschichte. 20. April 2007)


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alte Variante der ersten beiden Absätze:

Ein Häufchen Elend war meine Bettnachbarin über Tage hinweg gewesen. Aufgrund der Darmoperation entleerte sie sich auf dem Leibstuhl geräuschvoll und unappetitlich. Das war ihr so unangenehm, dass sie sich am liebsten den ganzen Tag unter das Bett gelegt hätte. Die Gespräche mit den Ärzten führte sie mit zaghafter, brüchiger, jämmerlicher Stimme.

Am vierten Tag bekam sie Besuch von Tochter und Schwiegersohn. Das Enkerl lief voraus und wurde mit einem freudigen Ruf begrüßt. Vielleicht eine Stunde dauerte es, bis wir sechs Patienten wieder allein im Zimmer waren. Doch etwas hatte sich verändert.
 
N

no-name

Gast
Hallo Anonymous,

deine Zeilen behandeln ein stark emotionales Thema und sind schon deswegen prinzipiell natürlich berührend für den Leser, der sich auf deinen Text einläßt. Ich persönlich habe Probleme mit deinem Schreibstil, der auf mich sehr beobachtend-neutral, fast "dokumentarisch" und wohl deswegen emotionslos wirkt.

Freundliche Grüße von no-name.
 

Anonym

Gast
Hallo!

Vielen Dank, nichts, für deine positive Rückmeldung. Freut mich, dass etwas von dem intensiven Gefühl rüber gekommen ist.

Danke auch für die konstruktive Kritik, no-name. Ich denke, Du hast Recht, dass der Stil ziemlich objektiv gehalten ist. Aufgrund der starken Emotion, die der Text für mich hat, tu ich mir sehr schwer mit der richtigen Balance zwischen kühl und Kitsch. Was mir jedoch aufgefallen ist, dass viel auch an der Satzstellung liegt. Ein anderer Versuch daher für die ersten beiden Absätze:

Meine Bettnachbarin war über Tage hinweg ein Häufchen Elend gewesen. Sie musste sich aufgrund der Darmoperation geräuschvoll und unappetitlich auf dem Leibstuhl entleeren. Das war ihr so unangenehm, dass sie sich am liebsten den ganzen Tag unter das Bett gelegt hätte. Sie sprach nicht mit uns, sah uns nicht an. Die Gespräche mit den Ärzten führte sie mit zaghafter, brüchiger, jämmerlicher Stimme.

Am vierten Tag bekam sie Besuch von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn. Das Enkerl lief voraus, sie begrüßte es herzlich, fast überschwänglich. Vielleicht eine Stunde dauerte es, bis wir sechs Patientinnen wieder allein im Zimmer waren. Doch etwas hatte sich verändert.
 
N

no-name

Gast
Mir gefällt deine zweite Textversion deutlich besser als deine erste. So kommt dein Text viel emotionaler bei mir an! Jetzt tun mir die sechs Punkte schon wieder leid...

Liebe Grüße von no-name.
 

Anonym

Gast
Hallo!

Freut mich. Ich hab die neue Variante übernommen. Mach Dir über die Benotung keine Gedanken, ich weiß ja nun, dass es Dir so besser gefällt.

Spannend finde ich die Frage, ob die großen Emotionen, die ich auch beim hundersten Nacherzählen noch empfinde, auch beim Leser ankommen. Teilweise scheint das zu funktionieren.

Danke für den Komm.
 
P

Prosaiker

Gast
In dieser Form meines Erachtens Kitsch. Zweifellos war das Erlebnis für dich, Anonymous, berührend und belebend. Ich arbeite im Krankenhaus und kenne daher etliche solcher und ähnlicher Situationen. Es gab sogar einen Moment, der, obwohl ich nur Beobachter war, vielleicht als einer der schönsten in meinem bisherigen Leben bestehen bleiben kann. Aber ansprechend aufschreiben könnte ich ihn noch nicht. Ähnlich sehe ich deinen Text: flink aufs Papier gebracht, was dein Herz erwärmte (bitte ohne Ironie lesen). Er ist Skelett, kein Blut, kein Fleisch, eine dürre Aufzeichnung, die weder sprachlich noch inhaltlich rund zu sein scheint. Vielleicht würde eine gewisse Distanz zum Erlebten dieser Prosa helfen, ein fließender Text zu werden. Momentan sehe ich drei Stichworte, die um ein paar Sätze erweitert wurden: Darmoperation - Besuch - Selbstachtung. Da geht mehr.

Grüße,
Prosa.
 

Anonym

Gast
Hallo,

vielen Dank, Prosaiker, für Deine Analyse. Ich denke, Du hast recht gut die Probleme erkannt, die ich auch selbst mit dem Text habe und wie ambivalent sie sind: Ist einerseits stark kitschverdächtig, andererseits wird es durch mehr Objektivität in der Sprache zu hölzern.

Gerade die Distanz zum Text, die ihm Deiner Meinung nach helfen würde, kann ich im Moment nicht aufbringen. Interessant finde ich für mich selbst, dass die einzelnen Tatsachen "Darmoperation - Besuch - Selbstachtung" (in Deiner Diktion) für sich genommen ja nicht aufregend sind; man müsste ja fast ein "na und?" dahinter hängen. Aber irgend etwas an der Szene berührt mich sehr, und ich habe noch nicht klar herausgefunden, was. Vielleicht auch deshalb die Knappheit...
 

Julia P

Mitglied
Hallo!

Also ich finde die Geschichte ziemlich gut, und kann sie aus persönlichen Gründen (war gerade wieder im Krankenhaus) super nach vollziehen. Man stumpft im Krankenhaus schon sehr ab, wenn man viel Leid und Tod täglich rund um sieht. Aber trotzdem leuchtet dazwischen immer wieder ein Hauch Posie und Menschlichkeit durch. Schön. Ciao,

Julia
 

Anonym

Gast
Danke euch beiden für die positive Rückmeldung. Namaqool, bist Du nicht im medizinischen Bereich tätig? Gruß,

A.
 



 
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