Impressionen

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philomena

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Impressionen

Wenige, gehetzte Menschen sind unterwegs, den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet, keine Zeit, links und rechts zu schauen. Eingehüllt in ihren Kokon, im Kopf noch die letzten Überbleibsel der vergangenen Nacht. Noch nicht hinweggespült vom ersten Kaffee im watteweichen Dämmerzustand.

Sie bringen kein Leben in die Straßen, diese einsamen Menschengestalten, die hastig ihres Weges gehen. Unter ihren Schritten atmet auch die Straße die Nachwehen der letzten Nacht.
Was bisher von Dunkelheit verborgen war, was in wenigen Stunden vom Leben überdeckt wird, liegt jetzt offen vor den Augen derjenigen, die den ersten Sonnenstrahlen entgegeneilen.

Narben aus den Kämpfen längst vergangener Jahre liegen bloß, weder verdeckt von der Schwärze gerade vergangener Stunden noch von dem Kommenden, das sich Leben nennt.
Auf der Grenze zwischen Gestern und Heute gibt es kein Verstecken in der Welt des Scheins.

Bleich und ohne die Schminke des kunstvollen Lichts liegen die Fenster da in Mottenkisten ähnlicher Schläfrigkeit. Der vor wenigen Stunden noch aus den Kneipen dringende verheißungsvolle Duft von falscher Freundschaft und Kumpanei hat sich gewandelt in den bier-schalen Geruch der Einsamkeit.

Nur langsam und schmerzhaft mühevoll streckt die Stadt ihre Glieder, um sich bereit zu machen für den neuen Tag. Träge schüttelt sie den Wohlstandsmüll von sich ab, wohl wissend, dass er morgen wieder da sein wird, wieder mit seinem Gestank ihre Straßen füllt. Spült unter den kalten Duschen der Stadtreinigung den Dreck in schwarzen Bächen von ihrem Pflaster, um Platz zu machen für eine neue Patina, in den hellen Stunden herangetragen von eiligen, zögernden, beschwingten und alt-mühsamen Schritten dieser Stadt..

Es sind die Stunden der Einsamkeit, hier auf der Grenze zwischen dem Gestern und dem Heute. Schläfrig, mürrisch, sparsam das Nötigste nur zu sprechen, versuchen die wenigen Menschen Fuß zu fassen in diesem frühen Tag, der noch nicht preisgibt, was er an Wundern vollbringen kann.

Noch fehlt es, das Plappern und Lachen der Kinder, die mit schweren Taschen und wichtiger Miene dem neuen Tag mit neuen Abenteuern zustreben. Erst später werden sich ihre hellen Stimmen mit denen der Frauen mischen, die die Straßen bevölkern mit dem lebenswichtigen „Ach, weißt du schon...“ - Kontakt zu den anderen Frauen ihrer Welt.

Noch fehlen die behäbig-gewichtigen Schritte der ewig Gestrigen, die mit ihrer Morgenbibel unter dem Arm bei der Tasse Tschibo-Kaffee der Welt mit ihren bräunlich gefärbten Erinnerungslücken wieder die Ordnung vergangener Zeiten aufbürden wollen. Und sie vergessen dabei den scharfen Degen, der diesen Straßen manch schmerzhaften Schmiß ins Angesicht geschnitten hat.

Noch fehlen sie, die Jungen, die fast schon Mann geworden und die Mädchen, die noch nicht wissen, wie es sich anfühlt, Frau zu sein. Ihre lauten Stimmen mit den frechen Worten, die bunte Vielfalt ihrer Gestalten, in der doch die Uniformität des noch nicht Wissens liegt, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Augen leer sind. Die Leere ihnen Ausblick in eine Zukunft bietet, die ebenso voll Müll gepackt ist wie die Straßen der Stadt. Nicht alle werden eines Morgens die Glieder recken und sich dem Leben stellen, mit dem die Straßen sich langsam füllen.
Es fehlen auch noch die, die alt geworden sind in diesen Straßen, die sich erinnern und dankbar sind für die Erinnerung. Die heute , wenn die Nacht auch aus den letzten Winkeln der Straße gewichen ist, sich freuen an dem neuen Tag, der erwacht ist. Der wieder Licht und Leben in die Straßen bringt und bereit ist, auch morgen wieder zwischen Nacht und Tag seine Narben zu zeigen und hoffnungsvoll bereit zu sein für einen weiteren neuen Tag.
 



 
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