In Oz keine Wahrheit

4,50 Stern(e) 10 Bewertungen

Binary

Mitglied
In Oz keine Wahrheit

Vater hat wieder einen mitgebracht. Wie schon so oft. Ich weiß nicht, der wievielte es ist. Ich weiß nur, dass es mich nicht zu kümmern hat. Es wird so sein wie immer. Nichts neues, nichts besonderes. Es ist immer dasselbe mit meinem Vater, dem König.

„Prinzessin, geh spielen!“ ruft er mir zu. Für ihn bin ich immer noch das kleine Mädchen, nicht eine Frau, die ihm entfliehen will. Mit gesenktem Kopf schleiche ich zum Tisch, beginne mit dem Spiel, das ich immer spielen muss. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich mich weigere. Aber ich habe Angst es herauszufinden. Also spiele ich, obwohl ich dieses Spiel hasse. Man kann es nicht lernen, man gewinnt nur durch Glück. Doch es freut meinen Vater, wenn ich gewinne und seine alten trüben bösen Augen glänzen. Ich muss ihm diese Freude einfach lassen, darum sage ich ihm nicht die Wahrheit.

Der Junge wird hereingebracht, er mag in meinem Alter sein. Arm ist er, das sieht man. Aber das sind sie alle. Die Streuner, draußen vor Vaters Palast.

Im Spiegel über meinem Spieltisch, wie sie ihn auf die Liege fesseln, wie Vater ihm ins Gesicht schlägt. Wieder und wieder mische ich die Karten. Ich bin beschäftigt, Vater, lass dich nicht stören... Eine Karte nach der anderen lege ich auf den Tisch, mein Blick schweift in die Ferne. Die Mauern halten mich nicht auf, Vater! Er holt die Peitsche. Ich höre ihn zum Schrank schlurfen. Ich konzentriere mich ganz auf die Karten. Die Peitsche knallt. Ich sehe weg, alles ist gut, solange er nur nicht schreit.

Noch einmal saust die Peitsche nieder, wieder kein Schrei. Herz Ass, Pik Ass, Karo Bube, Kreuz Acht. Verloren. Neu mischen. Mein Blick fällt wieder auf den Jungen. Er ist geknebelt, zwei blutige Striemen zieren seine Brust. Vater... Warum?

Für Sekunden Stille. Nur sein Atem, schwer, langsam. Vaters Atem, pfeifend, viel zu schnell. Mein Atem, fast nicht vorhanden.

Ich starre auf den Tisch. Pik Ass, Karo Bube, Herz Ass, Herz Neun. Verloren. Neu mischen. Schlurfende Schritte, verstohlen blicke ich zum Spiegel. Vater humpelt wieder zum Schrank. Was kommt jetzt? Rohrstock? Kette? Ein neues Werkzeug, mit dem er die Armut aus dem Volk prügeln will? Vater, du bist wahnsinnig, auch wenn du König bist... Pflichtbewusst mische ich die Karten abermals, ohne zu wissen warum. Ich starre noch immer zum Spiegel.

Der Junge dreht den Kopf zu mir, verächtlich wende ich den Blick ab, nur um Sekunden später doch wieder hinzusehen. Er sieht mich an und ich erstarre. Im Schein der Kerzen taumelt eine schillernde Träne über sein Gesicht. Alles an ihm scheint zu rufen: „Rette mich!“ Der stumme Schrei trifft mein Herz wie ein Pfeil.

„Hast du gewonnen, Prinzessin?“ Vater steht plötzlich hinter mir, die Hand, die gerade noch die Peitsche hielt, auf meiner Schulter. „Ja, schon dreimal,“ antworte ich und lächle, obwohl mir nicht danach zu Mute ist. Schnell hebe ich die Karten wieder vom Tisch auf, Pik Sieben, Karo Dame, Herz Dame, Karo Acht. Auch Vater lächelt. Seine trüben Augen sehen nicht, dass ich verloren habe. Wie immer. „Das ist schön, Prinzessin. Du wirst immer besser!“ Ich fühle mich schuldig, ihn immer wieder zu belügen, doch vielleicht lässt er den Jungen gehen, wenn er sanft gestimmt ist.

Ich vertiefe mich wieder in das Spiel. Pik Ass, Karo Zehn, Karo Acht, Herz Zehn. Verloren. Vater lächelt noch immer, schlurft zurück, schlägt mit der Kette zu. Innerlich fahre ich zusammen, lasse mir jedoch nichts anmerken. Tief in mir schreit eine Stimme: „Geh! Befreie ihn!“ Ich gucke zum Spiegel. Ich sehe sein Gesicht. Tränenüberströmt, doch trotzdem – oder gerade deswegen? – schön, so wunderschön in seiner Angst... Ja, ich muss Vater aufhalten! Die Kette kracht erneut nieder, winzige rote Tropfen benetzen das wunderschöne Gesicht. Nicht! Vater, hör auf! Pik Ass, Karo Dame, Herz Ass, Kreuz König. Verloren. Neu mischen. Schweigen.

Der nächste Hieb, ein vom Knebel erstickter Schrei. Seine Augen. Seine Tränen. Sein Zittern. Sein Blut. Vater, lass ihn gehen, mischen, ziehen, legen, verloren. Ich will aufspringen, aber rühre mich nicht, als Vater wieder zur Peitsche greift. Ein kräftiger Hieb, blutige Spuren auf der Haut zeugen von der Tat, die ich nicht zulassen wollte. Vater, lass ihn leben! Töte ihn nicht, jeden, aber nicht ihn!

Als könne er meine Gedanken lesen... Vater sieht mich strafend an, sofort mische ich die Karten wieder. Tränen sammeln sich in meinen Augen, als Vater wieder zuschlägt, doch ich gewähre ihnen nicht zu fließen. Vater, ich liebe ihn! Er prügelt weiter. Ich spiele weiter. Er hustet, doch Vater hört nicht auf. Plötzlich ist es still, ganz still. Ich lege die Karten auf den Tisch. Vaters Atem pfeift. Herz Ass. Ich halte die Luft für einen Moment an. Herz König. Vater, ich liebe ihn! Herz Dame. „Prinzessin, er ist endlich tot.“ Herz Bube. „Hast du wieder gewonnen?“ fragt Vater und schlurft auf mich zu. Schnell hebe ich die Karten wieder auf, mische sie mit den anderen und schüttele den Kopf.

„Nein, Vater. Diesmal nicht.“
 

nichts

Mitglied
Hallo Binary,
immerhin hat mich Dein Text neugierig gemacht - auf die Autorin dahinter ... nachdem so was eher selten passiert ...
egal, ich fand ihn gut!
 

Binary

Mitglied
Danke fürs Lob... Ich hab bis heute nicht verstanden, was ich mit dem Text eigentlich aussagen will... Wenn jemand Ideen hat, gerne...

Binary
 

Asgar

Mitglied
Sei gegrüßt

Ich finde den Text wirklich gut. Schwer, Worte dazu zu finden, aber es berührt mich einfach.
Fehler habe ich keine gefunden.
Es passt einfach alles zusammen, vor allem das Ende "Diesmal habe ich verloren",
einfach... man kann's nicht beschreiben ^^°

Jedenfalls ziemlich gut in meinen Augen.
Nur weiter so.

mfg, Asgar
 

Honigmelone

Mitglied
Wow...da muss ich erst mal kurz inne halten,um das hier zu kommentieren.Was du da geschrieben hast ist irgendwie...intensiv und auch nervenraubend.Es versetzt mich auf jeden Fall in Spannung und lässt mich so schnell nicht mehr los.Vielleicht willst du mit diesem Text auf den inneren Kampf mit sich selbst aufmerksam machen,den wohl jeder schon einmal erlebt hat.Manchmal hat man solche Angst vor seinem Gegenüber,dass man anders handelt als man es für normalerweise richtig hält.Ist es nicht so?Kompliment...
LG,die Melone
 
P

Pete

Gast
Hallo binary,

sprachlich und handwerklich hast Du deine Geschichte perfekt umgesetzt. Auch vermagst Du, mich sehr stark gefühlsmäßig einzubeziehen.

Eine vollständige Deutung ist mir nicht möglich. Vor allem den Titel kann ich nicht zuordnen. Eine Beziehung, beispielsweise zum "Wizzard of Oz", vermag ich nicht zu entdecken.

Etwa in der Mitte des Textes vermutete ich eine Adoleszenzprüfung der Protagonistin, so als ob ihr Vater darauf warten würde, dass sie einschritt, sich ihm mutig in den Weg stellte. Dann, so hoffte ich, hätte sie diese Prüfung bestanden, einen Schritt gemacht, hin zu den Fähigkeiten einer Königin, die sie als einziges Kind erwerben sollte, die Befreiung von Autoritäten.

Dein Ende ist resignativ, aber ebenfalls wirksam. Gerne möchte ich die Prinzessin schütteln und ohrfeigen, die nicht den Mut aufbrachte, einzuschreiten.

Gleichzeitig frage ich mich, ob ich es selbst tun würde, und komme zu keiner Antwort.

Ein denk-würdiges Werk!
 

noel

Mitglied
die zwei erzählstränge
das kartenspiel & der peitschende vater

sind perfekt aufeinander "abgemischt"
die umschreibungen der emotionen
nachfühlbar in worte gefasst

ich weiß nicht ob ich schon mal eine 10 vergeben habe

aber hier musste ich
 
O

Orangekagebo

Gast
Ja, der Text ist gut geschrieben, aber den Sinn des Erzählten erkenne ich für mich nicht. Was soll das sein? Ein peitschender König, Sadist bis zum tödlichen Finale. Eine Prinzessin, die Karten spielt, zu schwach, um dem väterlichen Despot Einhalt zu gebieten. Einhalt bei was? Wieso das alles?
Der Text ergibt für mich keinen Sinn. Eine Handlung ohne Anfang und ohne Ende.

Natürlich gönne ich Dir die guten Bewertungen, aber ich halte mich da lieber raus.

Dennoch liebe Grüße und Viel Erfolg!
 

Eve

Mitglied
Hallo Binary,

dein Text hat mich auch gefesselt, musste zu Ende gelesen werden. Aber jetzt stehe ich auch vor der Frage, was will mir diese Geschichte sagen? Auf jeden Fall ist sie heftig! Und stellt Schwäche dar. Handwerklich gut geschrieben, spannend, nicht zu lang - nicht zu kurz ... aber ich bleibe mit einem Fragezeichen zurück ;-) (wobei das ja auch eine Absicht des Autors sein kann) ...

Viele Grüße,
Eve
 
H

Haki

Gast
Also mich hat der Text beeindruckt. Die Aussage ist vielleicht ein wenig zu offensichtlich, hätte sich womöglich mehr verstecken lassen hinter Ablenkungen, die die Geschicht noch unterhaltsamer gemacht hätten, aber dennoch gefällt mir der einfache Stil deiner Sprache, der den Charakter der Prinzessin noch authentischer macht und es somit dem Leser ermöglicht, sich besser in deinen Hauptcharakter einzfühlen. Trotzdem bewahrt sich dein Stil das Niveau, bleibt hochwertig und schafft den Spagat zwischen einfacher Sprache und gelungen rhetorischen Mitteln. Auch die zwei Handlungsstränge finde ich passend gewählt und daher muss man wirklich sagen, dass der Text durch seine Sprache, die zwar einfach, aber gerade dadurch authentisch wirkt, und durch die nette Idee beeindrucken.
Sehr gelungen!
 
D

Dominik Klama

Gast
Der Mann hat nur vier Geschichten eingestellt, innerhalb eines Monats, hat nichts, das nicht von ihm war, kommentiert, ist dann wieder verschwunden, vor fast sechs Jahren jetzt schon.

Ich gehe mal davon aus, wo der so perfekt schreiben konnte wie eigentlich kein zweiter in der LL-Prosa, dass er sich mittlerweile irgendwo umtut, wo er Geld kriegt für sein Schreiben.

Ist jetzt die dritte seiner Geschichten, die ich lese. Und dann fällt mir doch allmählich was auf, was dann nicht ganz so toll ist. Nämlich funktionieren sie alle nach dem Prinzip, dass ein gewisses Handlungs- und Charakter-Muster aufgebaut wird, was dann längere Zeit nur weiter aus-gechrieben, aber nicht wirklich verändert wird. Unterdessen soll der Leser sehr gespannt werden auf das Ende (und wird das auch) und das Ende ist dann immer sehr anders als erwartet und eher rätselhaft als rätselklärend. Diese Texte leben sehr stark von ihren Schlüssen.

Damit geht einher, dass einem der Mittelteil schon etwas lang werden kann. Man hat im Grunde längst begriffen, mit wem man es zu tun hat und was da abläuft - und dann wird es einem noch dreimal erzählt.

Zur Oz-Frage: Mit kommt vor, dass wir es hier mit einer verwaschenen, schlecht erinnerten Rezeption des Zauberers von Oz zu tun haben. Dort flüchtet ein Mädchen aus einer armseligen Realwelt in eine Traumwelt, wo es einen Weg in ein Zauberreich über den Wolken gibt. Im Film ist die Rahmenhandlung in Schwarzweiß, die Märchenhandlung in Technicolor. Es sieht so aus, als hätte er aus dem Mädchen die Prinzessin gemacht. In Oz werden natürlich keine Armen ausgepeitscht und hingerichtet. Aber das Mädchen merkt ja dann, dass Oz eigentlich langweilig ist und dass es nur darum ging, Freunde zu finden. Und da will sie wieder in ihre Armut zurück.

Der Text hier ist natürlich viel moderner. Der hat die Idee, dass die Reichen die Armen als Beleidigung ihrer Augen auffassen und dafür bestrafen, dass sie arm sind. Statt ihnen was vom Reichtum abzugeben. Und da scheint was dran zu sein. Allerdings ist es bei binarys Texten so, dass sie stark an der Sicht einer einzelnen Figur haften, die dann auch immer eigentlich einsam ist. Mir fällt hier auf, dass der Junge zwar mehrfach gequält wird, aber mit nichts zu einem Charakter ausgestattet wird. Folglich wundert ja auch nicht, dass sie sich nicht entschließen kann, sich in ihn zu verlieben.

Und dann hat der Text noch diese bitteren Pointen, die moderne Texte manchmal mit dem Zufall haben. In Dürrenmatts "Das Versprechen": Als der Kommissar seine geradezu perverse Falle errichtet hat, um den Kindermörder zu schnappen, verhindert ein Zufall, dass dieser je noch einmal den selben Weg fährt. Hier: als ihr Kartenspiel endlich aufgeht und alles im Zeichen des Herzens steht, ist der Gemeinte soeben tot gemacht worden.
 



 
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