Julia

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Anonym

Gast
Julia muss fort. Hastig knöpft sie ihre Bluse zu. Wirft einen flüchtigen Blick auf das schlafende Gesicht. Der Geruch von abgestandenem Rauch, durchmischt mit Schweiß und mit Lust. Tom. Sein Atem geht ruhig. Sein Atem hat etwas Säuerliches. Sein schräges Lächeln untermalt von einem blechernen Sarkasmus. Unweigerlich muss sie an John denken. Wann war das noch? Vor etwa anderthalb Jahren. Sie streicht sich das zerwühlte Haar aus dem Gesicht. Greift die Zigarettenschachtel. Wartet auf den Moment des Skrupels. Wartet, doch der Moment zieht vorüber. Nicht einmal mehr der Hauch eines Skrupels. Eine zähe Schicht hat sich um ihre Seele gelegt. Er wird aufwachen und sich nach ihr umschauen. Aber dann ist sie schon längst nicht mehr da. Jetzt möchte sie am liebsten eine große Schaufel nehmen und die Stille durchschneiden und graben, doch worauf würde sie stoßen? Leise schließt sie die Tür hinter sich.

Im Auto liegt noch die Post, eine Nachricht auf dem Handy. Bernd, das war vor einem halben Jahr. Eine trunkene Silvesterfeier und man hatte zwei Monate lang miteinander vertan. Sie wird Bernd nicht zurückrufen. Sie möchte Ruhe und hält sich die Ohren zu, aber der Lärm kommt aus ihrem Kopf. Julia muss schnell fort.

Zuhause blinkt der Anrufbeantworter. Sie wird Clara auch diesmal nichts erzählen. Clara würde das nie verstehen. Der Wein wird ihr gut tun. Er ist rot und kalt und brennt ihr in der Kehle. Ein leichter Schwindel, doch der geht schnell vorbei. Das Telefon klingelt, sie wartet auf das Piepen, es ist niemand dran.

Auf die Regale hat sich Staub gelegt. Es ist sinnlos, sich darüber aufzuregen, die Zeit trägt ihn immer wieder dorthin. Mit schwacher Geste malt sie ein paar Striche in die graue Schicht. Es ergibt keinen Sinn. Die braunen Locken fallen ihr in die Stirn, wie erleichternd wäre es, wenn jetzt ein paar Tränen das Gesicht waschen könnten, wie wohltuend ein warmes Wort. Julia möchte fort.

Schon brennt ihr die Leere eine neue Narbe ins Gemüt. Damals, wie sehr hat sie sich gewünscht, alles zu vergessen. Die quälende Sehnsucht zu vertreiben. Doch das Vergessen brachte nicht die heilsame Erleichterung, die sie sich erhoffte. Das Vergessen brachte ein Verstummen und ein Stillhalten, aber von dort ging es nirgends mehr hin. Manchmal, in düsteren Momenten, beschwört sie die Erinnerung herauf. Nur ganz heimlich. Dann ist es ihr wieder ganz nah, das Leben. Aber es tut so weh. Sie will fort.

Sie muss wohl eingeschlafen sein, ein greller Sonnenstrahl holt sie aus einem undeutlichen Traum. Ein Druck lastet auf ihrer Brust und der Kopf dröhnt hohl. Kalter Rauch steht im Zimmer, der Geruch verursacht ihr Übelkeit. Er kommt heute zurück. Sie denkt schon lang nicht mehr darüber nach, ob es wirklich eine Geschäftsreise war.

Ein paar Stunden später steht er vor ihr, drückt ihr sein breites Lächeln und einen Strauß Frühlingsblumen entgegen. Sie inszeniert ein helles Gesicht, glitzernde Augen, frische Worte. Innen ist sie tot. Er ahnt nichts von ihrem anderen Leben, ganz sicher. Wie gern würde sie sich ihm endlich einmal wieder zeigen. Julia ist fort.
 

GabiSils

Mitglied
Aber hallo! Liebe/r A., das ist sehr scharf getroffen und glaubwürdig. Sprachlich gelungen, gute Formulierungen. Hut ab.

Gruß,
Gabi
 
S

Stoffel

Gast
Hallo,

mir sagt die Geschichte gar nichts. Tut mir leid.
Vielleicht weil ich Teile, vier meiner eigenen Geschichten, hier drin wiederfinde. Keine Ahnung.
Ich kanns nicht erklären.
Aber ich wollte auch nicht wortlos gehen, nachdem ich die 5 gab.

lG
allen ein schönes Wochenende
Sanne
 

Anonym

Gast
Re: Hallo,

Hallo Sanne.
Schön, dass Du nicht wortlos gegangen bist. Muss sicher nicht jedem "passen". Mich irritiert allerdings dieser nicht wirklich subtile Hinweis auf Deine Geschichten. Klingt danach, als hätte ich da abgeschrieben oder so? Ich muss gestehen, dass ich bisher nur zwei Geschichten von Dir gelesen habe und die kannst Du nicht meinen. Das ganze ist vom Leben inspiriert genug, da brauch es keine "Fremd-Worte". Darüberhinaus kann ich zur Kritik natürlich nicht viel mehr sagen. Dennoch danke ich für die Befassung.

lg
a.
 

Anonym

Gast
Liebe Gaby.
Besten Dank fürs Lob. Glaubwürdig, OK. Mit der "Schärfe" bin ich mir halt nicht so sicher, da war mir Feedback wichtig.

lg
a.
 



 
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