Julia Roberts und die Narben auf unseren Herzen

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Manchmal ist es seltsam. Jahrelang hörst und siehst du nichts von einem Menschen. Du hast ihn nicht vergessen, aber du denkst einfach nicht an ihn.

Die Sonne scheint durch die halb heruntergelassenen Jalousien, es ist warm draußen, viel zu warm für einen Februar. Es sind 15 Grad, die Pflanzen fangen an auszuschlagen und die Vögel denken, es wäre schon Frühling. Sie stimmen ein Lied an. Ein Begrüßungslied für dich. Denn ich werde dich heute wiedersehen. Endlich. Nach acht langen Jahren.

Es ist schon 13.29 Uhr. Um 15.00 Uhr wirst du da sein. Ich muss mich beeilen. Schnell noch die Wohnung saugen, ein wenig Staub putzen und aufräumen. Und dann den Tisch decken. Es gibt Kuchen. Ich weiß gar, welchen Kuchen Du am liebsten magst. Tee wird es auch geben. Den magst du, das weiß ich. Keinen Kaffee, nur Tee. Den haben wir damals immer zusammen getrunken, schwarzen Tee, der nach Brombeeren schmeckte. Wir haben Tee gekocht und an Deinem viel zu kleinen Schreibtisch in Deinem viel zu kleinen Zimmer gesessen. Durch das Fenster haben wir die komischen Nachbarn beobachtet. Manchmal hast du mir auf dem Klavier vorgespielt. Ich habe dich bewundert. Ich konnte nie Klavier spielen.

Gleich wirst du hier sein und ich muss mich beeilen, damit ich noch rechtzeitig fertig werde. Wie konnte es nur passieren, dass wir uns aus den Augen verloren haben? So viele Jahre waren wir die besten Freundinnen und plötzlich ging jede von uns ihren Weg allein. Ohne die andere an ihrer Seite. Dafür mit einer neuen besten Freundin. Eine beste Freundin ist austauschbar wie ein zu lange getragenes Paar Schuhe. Erst geht ihr einen weiten Weg zusammen, alles passt perfekt. Irgendwann, wenn du merkst, dass die Schuhe schon etwas ausgetreten sind, entdeckst du ein neues Paar, viel interessanter und schöner als das alte. Und schon hast du das neue Paar gekauft und das alte in die Altkleidersammlung geworfen. So haben wir es damals auch gemacht.

Ich wische mit dem Staubtuch über die Stereoanlage und den Videorecorder. Oben drauf steht meine Videosammlung. Julia Roberts. Du warst die erste, mit der ich Julia Roberts im Kino gesehen habe. Pretty Woman. Unser erster gemeinsamer Kinofilm. Ich habe danach noch viele Filme mit ihr gesehen, du vermutlich auch. Aber nie wieder war es das gleiche wie beim ersten Film. Nicht wegen Julia Roberts. Nein, wegen dir.

Ich habe einen Luftsprung vor Freude gemacht, als ich vor zwei Wochen Deine E-Mail bekommen habe. Du hättest mich übers Internet ausfindig gemacht und wolltest nur mal kurz fragen, wie es mir denn so geht. Ich habe mich vor einigen Wochen auf einer dieser Webseiten, über die man alte Schulfreunde wiederfinden kann, eingetragen. Ich wusste nicht, wie ich dich sonst erreichen sollte. Zu Weihnachten habe ich alte Fotos aus dem Schrank hervorgekramt. Fotos von dir und mir. In der Schule, auf dem Schulhof, bei euch zu Hause, vor dem Haus der komischen Nachbarn, in der Tanzstunde, auf einem Konzert. Plötzlich dieser Gedanke, wie ein Blitz. Unser Abi liegt fast acht Jahre zurück. Seitdem nicht ein einziges Lebenszeichen von dir. Manchmal ist es seltsam. Jahrelang hörst und siehst du nichts von einem Menschen. Du hast ihn nicht vergessen, aber du denkst einfach nicht an ihn. Und plötzlich, wie mit einem Schlag, sind all die Erinnerungen wieder da. An all das, was ihr zusammen erlebt habt. Wie nahe ihr euch gestanden habt. Und du fängst an, den anderen zu vermissen. Was macht er heute? Wie geht es ihm?

Nachdem ich die Fotos angeschaut habe, konnte ich zwei Nächte lang nicht schlafen. Die Erinnerungen haben nicht aufgehört. Dann mein Versuch, dich wiederzufinden. Keine Adresse, keine Telefonnummer. Nichts. Die letzte Möglichkeit schien mir der Eintrag im Internet zu sein. Erst habe ich nicht daran geglaubt, dann nach ein paar Wochen nicht mehr damit gerechnet. Und dann hast du mir geschrieben. Vor zwei Wochen. Und ich habe einen Luftsprung gemacht.

Ich decke den Tisch. Hole die Teekanne aus dem Schrank, die Glaskanne mit dem blauen Deckel. Wir haben den Tee immer in einer Glaskanne aufgegossen. Du warst bei meinem ersten Kuss dabei, damals in der Tanzschule. Du standest ein paar Meter hinter mir am Rand der Tanzfläche, als ich meinen ersten Kuss bekam. Widerlich, so feucht und ekelig. Er kann bestimmt bis heute nicht küssen. Eine halbe Stunde später habe ich zu dir rüber geschaut, als du deinen ersten Kuss bekamst. Widerlich, viel zu feucht und eklig. Du warst dabei, als ich mich zum ersten mal richtig verliebt habe. Und du warst dabei, als er mich nach zwei Monaten verlassen hat und mir das Herz gebrochen hat. Zerfetzt in tausend blutige Stückchen. Mit 15 denkt man, man müsse an so was sterben. Ich lebe heute noch. Aber die Narben kann man noch immer sehen. Ich war dabei, als mit deinem Herz das gleiche gemacht wurde. Wir haben es beide überlebt, auch wenn man mit 15 denkt, das wäre unmöglich.

Ich überlege, welche CD ich einlegen soll. Hörst du immer noch so gerne Herbert Grönemeyer? Ich konnte ihn nicht ausstehen mit 14, du hast mir so viel von ihm vorgeschwärmt bis ich ein Fan wurde. Wir waren zusammen auf seinem Konzert. Wir waren aufgeregt und haben laut mitgesungen, bis wir heiser waren. Am nächsten Tag in der Schule bekamen wir beide keinen Ton mehr raus. Ich habe danach noch viele Konzerte von ihm gesehen, du vermutlich auch. Aber nie wieder war es das gleiche wie beim ersten Konzert. Nicht wegen Herbert Grönemeyer. Nein, wegen dir.

Manchmal ist es seltsam. Jahrelang hörst und siehst du nichts von einem Menschen. Du hast ihn nicht vergessen, aber du denkst einfach nicht an ihn. Du lebst dein Leben, es scheint an nichts zu fehlen. Da ist kein weißer Fleck auf der Landkarte des Lebens, auf dem dieser Mensch fehlt. Da ist nicht das Gefühl, irgendetwas sei unvollständig. Du denkst, dass es gut ist, so wie es ist. Und plötzlich tritt dieser Mensch wieder in Dein Leben. Nichts ist mehr wie es war. Plötzlich merkst du, dass früher alles viel besser war. Zumindest redest du es dir ein. Dein Leben hat sich verändert. In vielen Dingen. In einigen zum guten, in anderen zum schlechten. Aber es ist nicht mehr dasselbe Leben, das es war, als dieser Mensch noch da war. Und du fängst an dir einzureden, dass früher alles besser war. Dass du glücklicher warst. Dass ihr glücklicher ward. Und Du fängst an zu denken, dass Dein Leben, so wie es jetzt ist, nicht mehr viel wert ist. Im Vergleich zu früher, als ihr noch zusammen glücklich ward. Und du übersiehst, dass es vielleicht einfach nur daran liegt, dass du in all den Jahren nie aufgehört hast, an den anderen zu denken und ihn zu vermissen. Auch wenn Du es nicht gemerkt hast.

Gleich wirst du hier sein und ich weiß nicht, was ich zu dir sagen soll. Ich wünsche mir, dass es so wäre, als hätte es diese acht Jahre nie gegeben. Als hätten wir uns letzte Woche noch zum Tee getroffen und uns nie aus den Augen verloren. Als wäre ich dieses Stück Leben nie ohne dich gegangen. Und du nie ohne mich. Aber so ist es nicht. Du warst nicht da. Acht lange Jahre. Und ich habe dich noch nicht einmal sonderlich vermisst. Du hast mir trotzdem gefehlt. Ich habe es nur nicht gemerkt. Es gibt so vieles, was ich von dir wissen möchte. Was ich dich fragen möchte. Aber ich weiß nicht wie. Wie wird es sein, wenn wir uns gegenüberstehen? Werde ich dich überhaupt noch wieder erkennen? Werden wir uns noch etwas zu sagen haben?

Ich wünsche mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Um acht Jahre, oder besser noch um zehn. Wieder deine beste Freundin sein, nachmittags nach der Schule zu dir fahren. Mein Fahrrad bei euch vor der Haustür abstellen und dann mit dir zusammen Tee trinken. Und nachher spielst du mir etwas auf dem Klavier vor. Und wir reden darüber, wie feucht und widerlich dieser Kuss war. Und wie weh das gebrochene Herz tut. Und wie schön Julia Roberts im Film ausgesehen hat. Wir sind wieder glücklich und unbeschwert, wie man es mit 15 eben ist. Auch wenn gerade das Herz zerfetzt wurde und man glaubt, sterben zu müssen. Wir sind so jung und unerfahren. Wissen nichts von der Welt. Und darum sind wir auch so viel glücklicher als wir es in 10 Jahren mit Mitte Zwanzig sein werden. Denn dann werden wir einfach zu viel von dieser Welt wissen, um noch richtig glücklich sein zu können.

Ich wünsche mir, dass du gleich anschellst, ich die Tür aufmache und du vor mir stehst. 15 Jahre alt, ein gebrochenes Herz, aber glücklich. Und wir trinken Tee und freuen uns auf die nächste Tanzstunde. Um uns wieder neu zu verlieben, damit uns das Herz irgendwann wieder zerfetzt wird. Und dann gehen wir ins Kino oder auf ein Konzert.

Es ist 14.53 Uhr. Die Wohnung ist geputzt, der Kuchen steht auf dem Tisch und das Teewasser ist bereit. Die Sonne scheint durch die Jalousien und die Vögel singen noch immer. Mittendrin all meine Erinnerungen an eine Zeit, in der alles besser war. Acht Jahre sind eine lange Zeit. Sie sind so schnell vergangen. Mir kommt es vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sich unsere Wege trennten. Du bist weggezogen. In eine andere Stadt. Zum Studieren. Und ich bin hier zurück geblieben. Mit einem vernarbten Herz und Julia Roberts auf Videokassette.

Ich male mir aus, was ich gleich sagen werde. Mir fällt nichts ein. Vielleicht sollte ich die Tür einfach nicht aufmachen. Es ging doch auch acht Jahre ohne dich. Nur eben nicht so gut. Komm lass uns die Zeit zurückdrehen, noch mal 15 sein, und dann einfach die Uhren anhalten. Ich weiß nicht, was ich gleich fühlen werde. Ich bin aufgeregt. Meine Knie sind ganz weich und meine Hände zittern. Tausend Erinnerungen schwirren durch meinen Kopf. Ich glaube, ich sollte die Tür besser nicht aufmachen. Die Vergangenheit einfach aussperren.

Es schellt. Ich muss schlucken. Ich atme tief durch und drücke auf den Türöffner. Ich höre Deine Schritte im Treppenhaus, du trägst noch die gleichen Schuhe wie damals. Flache Schuhe, mit einer leise quietschenden Gummisohle. Die Sekunden, die vergehen, bis du oben im zweiten Stock angekommen bist, kommen mir vor wie eine Ewigkeit. Acht lange Jahre. Und dann stehst du plötzlich vor mir. Du hast dich kaum verändert. Es ist, als habe es die acht Jahre nie gegeben. Und wir trinken Tee und erzählen uns von den Narben auf unseren Herzen.
 
Ein sehr schöner, flüssig zu lesender Text. Besonders gefallen haben mir die kleinen Beobachtungen alltäglicher Dinge, die so eine persönliche Beziehung wie zwischen den beiden Hauptfiguren so charakterisieren (beispielsweise das Klavierspielen, die quietschende Gummisohle, die gemeinsamen Erfahrungen in der Jugend im Tanzkurs, etc. ...).
Das Gefühl, das beschrieben wird, kennt wohl jeder - und es wird im Großen und Ganzen gut getroffen.

Ein paar hoffentlich hilfreiche Kritikpunkte:
- Der Vergleich beste Freundin / paar Schuhe gefiel mir nicht so sehr. Vielleicht, weil mir die Erklärung zu simpel erschien. Weiss nicht genau, kann auch einfach Geschmackssache sein.

- Mir fehlt irgendwie ein Auslöser für die Suche der Hauptperson nach ihrer alten Freundin. Wenn man damit noch den Gesamtzustand ihres Lebens näher beschreiben könnte, würde das die Geschichte eventuell noch stimmiger machen.

- Wo die gemeinsamen Erinnerungen schön illustriert wurden, feht eben dies bei der Beschreibung des momentanen Ist-Zustandes der Ich-Erzählerin. Besser wäre es zu illustrieren, warum sich das Leben verändert hat und wie, anstatt es 'nur' zu sagen.

- Insgesamt bin ich der Meinung, daß der Text durchaus ein weniger straffer sein darf. Ich weiß, die teilweise stilistischen Wiederholungen sind ein Stilmittel, aber was die Story rüberbringen soll, wird auch ohne sie klar, finde ich.

Hm, sieht jetzt nach einer Menge Kritik aus. Aber alles in allem hat es viel Spaß gemacht, den Text zu lesen. :) :cool:
 



 
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