KLIRR - Ein Kind, Kapitel 10, 11 und 12

kinAski

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10

Es folgten schöne Tage und der Radius von Vinz' Ausflügen in die Umgebung erweiterte sich. Er unternahm sie alleine, nachdem er zweimal vergeblich versucht hatte Eddy mitzuziehen. Immerhin war er schon drei und fix auf den Beinen. Doch dessen ewiger Tenor war gewesen: »Wir dürfen nicht. Mama hats verboten.«
Eines sonnigen Nachmittags machte sich Vinz auf den Weg, um die Stadtmauer zu umrunden. Es gab da viel zu entdecken. Die Stadtmauer, das Grün in ihren Ritzen, die uralten Häuser mit ihren verwunschenen Gärten, ein Schloss, einen Park mit steinernen Löwen, einen Friedhof, eine Kirche, eine Burgruine ... Fred hatte ihm davon in den ersten Nächten erzählt, nun wollte er diese Herrlichkeiten mit eigenen Augen sehen, obwohl die Mutter Expeditionen verboten hatte. Doch wenn er um die erste Ecke gebogen sein würde, war er außer Sicht und Gefahr. Vinz beschleunigte seine Schritte -- aber er kam nicht weit. Ein Feuerwehrauto wackelte ihm entgegen. Dröhnend und schüttelnd, auf dem Rücken eine große Leiter, nahm es die ganze Straßenbreite ein. Vinz trat zur Seite und sah, dass es an den Pappeln hielt, die neben dem alten Steinhaus standen. Neugierig machte er kehrt. Eddy stand staunend auf seinem Sandhaufen, seine Plastikschaufel in der Hand.
»Wo brennt es denn?«, rief Eddy begeistert zu den beiden Feuerwehrmännern, die ohne Eile aus dem Fahrerhaus gestiegen waren.
»Nirgends«, lachten sie und nahmen ihre Helme ab. Jetzt sah Vinz die Mutter mit einer dicken Frau näherkommen: das war, wie er inzwischen wusste, die Vermieterin, die alte Brehm. Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Augen und deutete auf die Spitze eines der Bäume, die wie silbrig-grüne Raketen in der Sonne blinkten.
»Dort oben muss sie sein. Ich kann sie von hier nicht sehen. Seit einer Stunde ist Minka dort oben. Sie hat furchtbar geschrien. Jetzt ist sie stumm.«
Vinz kannte Minka. Es war die Katze der Brehm. Sie bekam die besten Happen, lahmte etwas auf einem Bein und ließ sich nicht streicheln. Sie war eigenwillig. Eddy hatte sie einmal gekratzt. Jetzt hatte sie sich also verstiegen. Wie sie das mit ihrem Handicap geschafft hatte, und was sie überhaupt dort oben suchte, war Vinz ein Rätsel. Die alte Brehm ließ sich nicht beruhigen. Immer wieder wischte sie sich die Augen und als die Leiter ausgefahren wurde, legte die Raffwallerin den Arm um sie. Die Leiter verschwand in den Blättern des Baumwipfels und in einem aufkommenden Wind hinein rief Frau Brehm die verzweifelten Worte: »Jetzt wird es auch noch windig! Wenn sie nun herunter fällt. Wenn die arme Minka herunterfällt. Ich kann gar nicht hinsehen. Sie ist doch alles, was ich habe!«
Sie wandte das Gesicht ab und die Raffwallerin begann der Alten gut zuzureden. Sie tröstete die Frau. Vinz verstand das nicht recht. Ihm selber waren schon öfters die Tränen in die Augen getreten, doch meist hatte er von der Mutter nur ein: »Führ dich nicht so auf!«, oder »Reiß dich zusammen!«, gehört. Den Arm hatte sie in solchen Fällen nicht um ihn gelegt. Aber die Alte wurde jetzt von der Mutter getröstet, als sei sie ein Kleinkind. Es handelte sich doch bloß um eine alte, eingebildete Katze. Ein Feuerwehrmann begann die Leiter hochzuklettern. Der andere blieb am Boden und zündete sich eine Zigarette an. Er stellte sich zur Brehm und der Mutter. »Wir schaffen das schon. Kein Problem, Frau Brehm. Das kommt vor, dass sich Katzen versteigen. Sie sind hinter irgendwelchen Vögeln her, und dann verlässt sie der Mut. Mich wundert allerdings, wie ihre alte Minka das geschafft hat.«
Eddy in seinen kurzen roten Lederhosen, war neben Vinz getreten und gaffte gespannt nach oben.
»Glaubst du, sie fällt herunter?«, fragte er, Sensationsgier im Blick.
»Vielleicht«, sagte Vinz und war sich plötzlich auch nicht mehr sicher, ob er wollte, dass das Tier gerettet wurde ... oder einen Salto Mortale in den Katzenhimmel machte.
»Katzen sind zäh«, fügte Vinz hinzu. »Sie überleben die größten Stürze.«
»Menschen nicht«, sagte Eddy.
»Nein. Ein Mensch wäre tot.«
»Ich hab sie!«, rief der Feuerwehrmann, der oben auf der Leiter stand.
»Gottseidank!«, stieß die Brehm hervor und rannte zum Baum.
Inzwischen hatten sich noch andere Schaulustige eingefunden. Vinz sah Herrn Fleischbein und Frau Steininger. Sie alle klatschten, als die Brehm ihre verschreckte Minka entgegennahm. Die Brehm bot den beiden Feuerwehrmännern einen Schnaps an, den sie gerne kippten. Und gleich noch einen zweiten. Man unterhielt sich noch eine Minute, dann rasselte das Feuerwehrauto davon.
In dieser Nacht hatte Vinz einen Traum. Er floh vor einem Piratenkapitän, der aussah wie der Vater, nur mit einem Feuerwehrhelm am Kopf. Vinz lief rund um die Stadt, immer die Mauer entlang, doch der grimmige Verfolger ließ sich nicht abhängen. Der Pirat schwenkte ein Seil und rief: »Hängen! Der Verbrecher soll hängen.« Dann stand Vinz vor den Pappeln und kletterte geschickt wie ein Eichhörnchen an einem der Stämme hoch. Im Geäst fühlte er sich sicher. Anstelle des Piraten bog plötzlich ein Feuerwehrauto um die Ecke und er hörte die Stimme von Tante Sophia: »Da oben ist er, dort oben. Der Arme. Vinzi, halt aus. Der Feuerwehrmann ist gleich da.« Dann hörte er Fred sagen: »Der fällt sicher herunter.« Und tatsächlich wurde Vinz schwindlig. Er verlor den Halt und fiel und während er fiel fühlte er ein Ziehen in allen Glieder und er sah tausend Sterne wie Kaskaden aus genau dem Punkt sprühen, auf den er zustürzte. Jetzt musste der Aufprall kommen, jetzt ...
Vinz erwachte schweißgebadet. Im Kinderzimmer regte sich kein Laut und vor dem Gitterfenster zitterte der Gemüsegarten im Mondlicht.


11

Vinz hatte ein oranges Lacktäschchen mit einem aufgedruckten grauen Hündchen, Walt Disneys Strolchi, umhängen und die Mutter führte ihn an der Hand. Er war aufgeregt, denn sein erster Tag im Kindergarten stand kurz bevor. Sie gingen unter der Gmündner Stadtbrücke hindurch, eine kaum befahrene Straße mit hinter hohen Hecken verborgenen Villen entlang, und kamen an die Maltatal-Bundesstraße. Hier, so schärfte ihm die Mutter ein, galt es aufzupassen, nach links zu schauen, nach rechts und wieder nach links. Hätte er sie überquert, ging es auf einer zweiten Brücke über die Malta und dann links in ein Asphaltsträßchen, das an einer Lagerhalle mit Rampe bis zum Kindergarten führte.
»Aber komm nur mit. Heute begleite ich dich. Morgen gehst du alleine«, sagte die Mutter.
Vor dem ebenerdigen Neubau des Kindergartens staute sich bereits das kleine Volk. Eltern standen in Gruppen herum und plauderten. Darunter auch einige Väter. Um neun Uhr wurde aufgesperrt und man strömte in die lange, schmale Garderobe. Vinz hing sein Strolchi-Täschchen auf einen Haken, wechselte von Straßen- in Hausschuhe, die mitzunehmen gewesen waren, und wurde von den beiden Kindergarten-Tanten in einen großen Saal gebeten. Die Eltern verloren sich nach und nach und schließlich waren die Kinder mit den Tanten allein.
Sie trugen weiße armfreie Arbeitskleider und stellten sich als Tante Norma und Tante Gretl vor. In Norma verliebte sich Vinz sofort ein wenig. Sie hatte dunkles Haar, einen Bubikopf, volle Lippen und eine zierliche Nase. Ihr sanftes Wesen schlug ihn sofort in seinen Bann. Tante Gretl war die Strenge, wozu ihr gerötetes Gesicht mit der Hakennase gut passte. Die Kinder fürchteten sie, doch Vinz bemerkte nach einigen Tagen, dass sie mehr mit den Mädchen zu tun hatte. Diese befanden sich zwar meist im selben Saal, waren jedoch mit Mädchen-Spielen beschäftigt, während die Buben den ihren nachgingen. Nur sehr selten gab es gemeinschaftliche Aktionen und als man zum ersten Mal auf den Spielplatz hinaustrat, blieben Buben und Mädchen freiwillig unter sich. Vinz konnte die fremden Erscheinungen schwer einordnen. Er war beinahe sechs und hatte mit so kleinen Erscheinungen des anderen Geschlechts noch nie zu tun gehabt! Sie tollten weniger herum als die Buben, schrien weniger, dafür kicherten und flüsterten sie viel. Irgendwie konnte Vinz nicht viel mit ihnen anfangen. Die Wochen in dem modern-freundlichen Gebäude vergingen rasch. Mit seiner Lichterfülle, eine Front bestand ganz aus Fenstern, war es das genaue Gegenteil des Kerkers, in dem er mit den Raffwallers hauste.
Es war kein Wunder, dass Vinz sich hier dreimal wohler fühlte als daheim. Er schloss mit keinem der Kinder Freundschaft. Es gab die Langweiligen, dann die mit denen man etwas unternehmen konnte, und zuletzt jene Typen, vor denen man auf der Hut sein musste. Vor allem vor Seppi und Ferdl, zwei ungeschlachte und grobe Bauernbuben, wovon Seppi ein wenig nach Stall roch.
»Warst du heute schon im Stall, Seppi?«, fragte Tante Norma manchmal.
»Ja. Wir haben 50 Kühe.« Dann legte er los: über Melkmaschinen, Mähmaschinen, Heuwender, Traktoren usw. – bis ihn die Tante stoppte. Eines Tages stellte sich Tante Norma vor die Kinder hin und meinte: »Heute haben wir ein neues Wochen-Thema: es heißt Bauernhof. Seppi. Komm, stell dich hierher und erzähle.«
Seppi stellte sich vor die andächtig im Halbkreis sitzenden Kinder und ... brachte keinen Ton hervor. Tante Norma musste ihm jedes Wort aus der Nase ziehen, und einige Mädchen kicherten. Seppi wurde rot, doch er wurde auf wundersame Weise errettet. Tante Gretl kam nämlich von der Garderobe herein und flüsterte Norma etwas ins Ohr. »Setz dich, Seppi, wir haben etwas Wichtiges zu sagen«, meinte diese.
Erleichtert setzte sich Seppi. Die Tanten blickten ungewöhnlich ernst und musterten die Reihen. Dann trat Tante Gretl vor und meinte: »Wir wissen, dass einer unter euch ist, der heimlich in den Täschchen der anderen kramt, und fremde Jausen anbeißt. Es kamen bereits öfters Kinder zu uns deswegen. Zuletzt Eltern. Er stiehlt nichts. Aber er beißt die Jausen anderer Kinder. Einmal beißt er in einen Apfel, dann ist ein Kekspackung aufgebrochen. Dann fehlt wieder die Wurst auf einem Brot. Ich habe eben wieder die Jausentäschchen kontrolliert und das hier gefunden.« Die Tante wies eine angebissene Birne vor.
»Das ist meine«, rief ein Mädchen.
»Hast du sie angebissen?«
»Nein!«, rief es.
»Vielleicht hast du ja Hunger gekriegt und bist in die Garderobe geschlichen?«
»Nein. Ich war es nicht«, beteuerte das Mädchen, den Tränen nahe. »Es ist doch meine.«
»Nun, Kinder. Ihr wisst, dass man fremde Sachen in Ruhe lässt. Man stöbert nicht in anderen Täschchen herum – und schon gar nicht nagt man an den Jausen, die sich darin befinden.«
Norma flüsterte Tante Gretl etwas ins Ohr.
»Ach, ja. Ich habe er gesagt. Doch der Jausenbeißer kann auch ein Mädchen sein.«
Vinz schaute zu den Mädchen. Die blickten sich betroffen an. Einige Mädchen wirkten sehr zierlich. Vielleicht hatte eine von ihnen wirklich brennenden Hunger, dachte Vinz ...
»Wir nehmen an, dass der Jausenbeißer in den Taschen wühlt, während er auf das Klo geht«, sagte Gretl jetzt.
Das leuchtete ein. Das Klo lag neben der Garderobe. Man musste zwar höflich fragen, wenn man einmal musste, doch das Geschäft erledigte man alleine. Auf dem Rückweg konnte man der ausgestorbenen Garderobe bequem einen Besuch abstatten.
Das strenge Verhör brachte nichts zutage.
»Na, gut«, sagte Tante Gretl in einem Ton, dem man anmerkte, dass nichts auf dieser Welt gut war. Wie sie es angestellt hatten, Vinz wusste es nicht, doch der Jausenbeißer wurde noch am selben Tag auf frischer Tat ertappt. Tante Gretl trat vor die Kinder hin, und wen hielt sie am Ohr? Seppi, den Großbauern-Buben. Der stand auf seinen Zehenspitzen und verzog das Gesicht.
»Sage es ihnen, Seppi, sag es ihnen allen«, befahl Tante Gretl.
Seppi schwieg, ja zu Vinz' erstaunen brachte er es sogar fertig zu grinsen. Tante Gretls Finger am Ohr des Übeltäters setzten eine Vierteldrehung hinzu und Seppis Grinsen verlor an Schmelz. Totenstille machte sich breit. Noch eine kleine Drehung und Seppi begann zu winseln.
»Sag, was du zu sagen hast, Seppi.«
»Mir fällt nichts ein«, winselte er.
»Dir fällt nichts ein. Dann sprich mir nach. Ich, Seppi Pflügler ... «
»Ich Seppi Pflügler ... «, kam es sehr leise.
»Lauter! Ich, Seppi Pflügler ... «
»Ich, Seppi Pflügler ... «
»Habe unerlaubt ... «
»Habe unerlaubt ... «
»Eure Täschchen geöffnet ... «
»Eure Täschchen geöffnet ... «
»Und aus großer Fressgier ... «
»Und aus großer Fressgier ... «
»Und weil ich es so lustig fand ... «
»Und weil ich es so lustig fand ... «
»Wie eine Ratte an euren Jausen genagt ... «
»Wie eine Ratte an euren Jausen genagt ... «
»Ich bitte daher euch alle um Entschuldigung.«
»Ich bitte daher euch alle um Entschuldigung.«
Damit ließ ihn Tante Gretl los und er durfte sich setzen. Es folgte ein kleiner Vortrag über Mein und Dein und als eine Viertelstunde später die Kinder draußen auf dem Spielplatz herumtollten, grinste Seppi schon wieder, wenn auch mit feuerrotem Ohr. Der Jausenbeißer bereute nichts, wenn er auch auf sein Hobby fortan verzichten musste.


12

Vinz warf sein Strolchi-Täschchen auf das Stockbett und ging über den Hausgang in die Esswohn-Schlafzimmer. Eddy und Fred saßen bereits auf der Eckbank am Tisch, die Löffel in den Fäusten. Die Mutter stand mit geblümter Schürze am Herd und rührte mit einem Kochlöffel in einem großen Topf.
»Hallo, Mama.«
»Zieh die Jacke aus.«
»Bin schon dabei.« Vinz sah, wie sie eine Zigarette von einem Aschenbecher nahm, heftig dran sog und wieder zurücklegte.
»Wann ist die Suppe endlich fertig?«, fragte Fred. »Ich will noch zu Hannes. Wir machen uns Pfeilbögen.«
Die Mutter hielt im Rühren inne und stemmte einen Arm in die Hüfte. Sie war bleich und eine Strähne schwarzen Haares hing ihr in die Stirn: »Bitte halt jetzt deinen Mund, Frederick. Du siehst ja, dass ich koche. Ich koche, wasche eure Wäsche und putze den ganzen Tag. Ich tue, was ich kann. Ich kann nicht zaubern.«
»Hunger, Hunger«, rief Eddy, der nichts begriffen hatte.
Die Mutter überhörte ihn einfach und rührte weiter in der Suppe, verbissen, fast wütend. Der Herd knisterte, der Kochlöffel knallte gegen das Emaille. Sie langte nach dem Pfeffer, dem Salz, der Zigarette. Auf dem Schneidbrett lagen ein Messer und Gemüsereste.
»Hunger!«, rief Eddy und klopfte mit dem Stiel seines Löffels auf den Tisch.
»Hannes wartet schon auf mich«, meinte Fred.
Das Rühren wurde wütender. Es kam Vinz so vor, als würde die Mutter Zement mischen, so intensiv ging sie zur Sache.
»Hunger, Hunger!«, rief Eddy und klopfte mit dem Löffel.
Vinz begann vom Kindergarten zu erzählen: »Heute haben wir mit den Tanten einen Spaziergang in den Wald gemacht, da ist was Lustiges passiert. Wir haben ... «
Die Mutter schnitt ihm das Wort ab: »Nicht jetzt, ich will es nicht hören!«
»Hunger!«, rief Eddy.
»Hannes ... «, begann Fred ...
Nun tat die Mutter etwas Ungewöhnliches. Zuerst stieß sie einen animalischen Schrei aus, der den Brüdern in alle Glieder fuhr und sofort verstummen ließ. Eddy wurde richtig schön bleich. Im nächsten Moment schleuderte die Mutter den Kochlöffel gegen die Wand, hob den großen Emailletopf mit den Blumenmotiven an beiden Henkeln hoch, wandte sich den Entgeisterten zu und knallte ihn mit loderndem Gesicht zu Boden. Die duftende Gemüsesuppe ergoss sich dampfend über den geglätteten Stein. Starr vor Schreck blickten die Brüder sie an. Die Arme in die Hüften gestemmt stand sie vor ihnen wie ein phantastisches Ungeheuer. Das Knistern des Herdes war für einige Sekunden das einzige Geräusch im Verlies. Dann stieß sie abgehackt hervor: »Macht ... euch ... Brote ... «
Damit riss sie sich die Schürze vom Leib, schnappte sich Feuerzeug und Zigarettenschachtel und war zur Tür hinaus. Vinz blickte zu Eddy. Nein, durchfuhr es ihn, nicht auch das noch. Fred dachte dasselbe und flehte: »Eddy – nicht schreien.«
Doch schon hatte sein Gesicht die charakteristische Rotfärbung, schon japste er, jetzt sperrte er den Brotladen auf, so weit, dass sich ein Vogel sein Nest darin hätte bauen können und legte los. Seine abnormen Laute mussten durch das Fenster, über den Garten bis zu den Steiningers dringen, vielleicht sogar über den Bach bis ans andere Ufer, bis hinauf in die Berge zu den Tieren des Waldes!
Vinz hielt sich die Ohren zu, während Fred in die Küchennische ging und mit dem Messer zu hantieren begann.
Eddy hatte die lange Version angestimmt, sein Geschrei wollte kein Ende nehmen. Fred ließ plötzlich vom Schneidbrett ab, und kam auf Eddy zu, das Messer in der Rechten. Er holte damit aus und rammte es in den Holztisch. Das verdutzte Eddy dermaßen, dass er sofort verstummte. Fred grinste, zog das Messer heraus und machte sich wieder am Schneidbrett zu schaffen. Er schnappte sich die beiden fertigen Brote und war zur Tür hinaus. Draußen hörten sie ihn dreckig lachen.
Eddy sah Vinz verzweifelt an. »Hat er uns keine Brote gemacht?«
»Ruhig Eddy, ich schaue nach. Aber nicht schreien, bitte«, sagte Vinz und ging zum Topf. Er war nicht ganz leer. Vinz hob ihn hoch, füllte damit die bereitgestellten Teller und deckte den Tisch. Die Brüder löffelten stumm. »Wo ist Mama hingegangen?«, fragte Eddy. »Eine rauchen.«
Später verzogen sie sich ins Kinderzimmer. Die Mutter stand vorne im hellen Rechteck der Haustür. Das beruhigte die beiden einerseits, andererseits wagten sie nicht, sie anzusprechen. Sie hatten nicht lange gespielt, als sie ins Kinderzimmer kam. In der Hand hielt sie eine Stofftasche, Geld und einen Zettel. »Wo ist Fred?«
»Bei Hannes.«
»Gut, dann gehst du heute einkaufen, Vinz.«
»Das habe ich noch nie gemacht.«
»Dann wird es Zeit.«
»Brot, Salz, Milch, Karotten, Eier, Mehl«, schärfte sie ihm ein. »Du gibst der Verkäuferin den Zettel, die packt es dir ein. Hier hast du Geld, das muss reichen. Wenn du alleine in den Kindergarten gehen kannst, dann kannst du auch einkaufen. Das Geschäft ist ja nicht weit.«
Vinz stapfte, angetan mit einer dicken Jacke, in den Herbsttag. In der Faust hielt er eine Stofftasche. Das Lebensmittelgeschäft lag gleich hinter dem Stadtturm. Vinz betrat es schüchtern, während ein Klingeln sein Kommen signalisierte. Eine alte Frau mit weißem Kittel und einer violetten Warze neben auf dem Oberlippenbärtchen saß vor der Registrierkasse. Sie sah ihn an und wieder weg. Ein Lulatsch von Lehrling, mit weißem Schurz, trat ihm entgegen. »Na, was darf es denn sein, Kleiner. Ich kenne dich. Du bist einer der Buben der Raffwallerin.«
»Ja, aber ich heiße Sabotnik«, sagte Vinz.
Der Lulatsch lachte, als hätte Vinz einen Scherz gemacht. »Das kann jeder sagen. Hast du einen Zettel mit?«
»Ja.«
»Dann gib ihn mir mal.«
Der Lulatsch begann die Sachen in einen Einkaufskorb zu packen. Er war in den Zettel vertieft und Vinz begann eine kleine Wanderung durch das Geschäft. Bei den Süßigkeiten blieb er wie angewurzelt stehen. Es gab ein ganzes, breites Regal davon. Verführerisch glitzerten Bonbons und Kaugummis in ihren Verpackungen. War das seine kleine Hand, die in kindlicher Gier plötzlich einen Haufen davon zwischen den Fingern hielt und in der Jackentasche verschwinden ließ?
»Soo ... «, sagte der Lulatsch und Vinz zuckte zusammen. Doch der Lulatsch gab ihm lediglich die Stofftasche zurück. Allerdings mit einem seltsamen Blick, sodass Vinz unheimlich zumute wurde. Er gab der Warzenfrau an der Kasse ein Zeichen und verschwand im Lager. Vinz zögerte.
»Na, komm schon. Zahlen«, meinte die Warzenfrau. Vinz ging nach vorne. Sie nahm die einzelnen Waren aus der Tasche, tippte den Preis in ihre Kassa und steckte sie wieder hinein. Sehr langsam und umständlich, wie Vinz vorkam, der Blut und Wasser schwitzte.
Endlich ist sie fertig. Vinz tritt erleichtert ins Freie, biegt rasch nach links ab, und im dunklen Stadttor angekommen, holt er einen Kaugummi hervor, wickelt ihn aus und steckt ihn in den Mund. Er genießt die Süße. Was sich in diesen Minuten hinter seinem Rücken abgespielt hat, verstand Vinz damals nicht, konnte es sich aber in späteren Jahren zusammenreimen. Frau mit Warze sieht ihn klauen, lässt ihn hineinrasseln, sagt dem Lulatsch Bescheid, der ruft Herrn Fleischbein an, dieser geht, ohne zu wissen, was er damit auslösen wird, zur Raffwallerin: »Ein wichtiges Telefonat für sie, Frau Raffwaller.« Die steht gerade gefrustet vorm Herd, ihr junges, verfehltes Leben verfluchend, hört, was sich abgespielt hat, und schäumt. Vielleicht schäumt sie doppelt, weil Herr Fleischbein zugehört hat, sie ringt die Hände: diese Schmach, diese Schande, in einem Loch zu hausen, mit zwei Kindern von zwei Vätern und jetzt einem offensichtlichen Alkoholiker auf dem Leim gegangen zu sein –und nun stiehlt die eigne Brut auch noch! Vinz stiehlt! Der ganze Frust ihres kurzen, verkorksten Lebens fokussiert sich auf einen Knirps, der eben, zufrieden kauend, die steinerne Treppe zum Steinhaus hinabsteigt. Sie ist wie von Sinnen, ganz Zorn und nichts von einem Menschen. Sie weiß nicht, was sie tut ...
Vinz sieht die Mutter aus dem Haus laufen. Sie läuft? Warum? Will sie ihm die Tasche mit den Siebensachen abnehmen? Und warum im Küchenschurz? Ist es nicht kalt? Ihr Gesicht ist bleich, ihr Haar steht unordentlich ab, wie eine schwarze Korona! Sie kommt die Treppe heraufgesprungen und hechtet auf Vinz zu, er hält ihr wie zum Schutz die Stofftasche entgegen. Im nächsten Moment sieht er die Sterne tanzen. Eine bunte Sonne ist aufgegangen. Der Mensch, oder das feuerspeiende Wesen, das die Gestalt seiner Mutter hat, es täuscht ihn nicht, drischt auf ihn ein! Keuchend, Worte stoßend, die wie aus weiter Ferne kommen: » ... ich werde dich lehren zu stehlen ... Dieb ... was werden die Leute denken ... Schande ... diese Schande ... «
Blitz aus heiterem Himmel!
»Mir das antun! Mir!«
Herbstliche Insekten vor dem perfekten Himmelsblau.
» ... Schande hast du mir angetan, welche Schande ... «
Herbstblumen im Gras.
» ... ein Sandler wie Onkel Gustl ... ein Dieb und Sandler ... «
Kletterpflanzen an der steinernen Stadtmauer.
» ... nie wieder, hörst du, nie, nie wieder ... «
Tränenschleier und Irrsinn. Geschrei und Gezeter. Heimtückischer Anschlag! Mord! Guernica! Overkill!
... der Überfallene, arg geschunden und ohne klaren Gedanken, wird in das Haus geschleppt und unsanft in das Kinderzimmer gestoßen ...
Vinz legt sich auf sein Bett, leise schluchzend und sich die schmerzenden Stellen reibend, die überall am Körper brennen. Als er aufblickt, sieht er Eddy, der ihn, einen Teddybären in der Hand, mit großen Augen anstarrt. Von tiefer Scham ergriffen, dreht sich Vinz gegen die Wand. Durch die Wand hört er die Mutter Schluchzen. Er weiß nicht, wo er hingeraten ist.
 



 
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